Westflug
Von Dato Turaschwili
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Über dieses E-Book
und endet auf grausame Weise. Ob die Entführer oder die mit aller Härte eingreifende KGB-Einheit die Verantwortung für die vielen Toten bei der anschließenden Erstürmung der Maschine tragen, wird in Georgien bis heute kontrovers diskutiert. Die Todesstrafe für die gescheiterten Freiheitssucher und für den vollkommen unschuldigen, als Anführer stigmatisierten Beichtvater hat die georgische Gesellschaft nachhaltig traumatisiert. Es herrschte ein jahrzehntelanges Schweigen zu diesem zentralen Ereignis, obwohl alle Georgier das traurige Schicksal der Entführer kannten und viele sich mit ihnen identifizierten. Erst Dato Turaschwili, einer der bedeutendsten Schriftsteller Georgiens und Sprachrohr seiner Generation, brachte die Geschichte wieder ans Licht. Mit diesem Dokumentarroman brach er das Tabu und ebnete den Weg für eine längst überfällige Aufarbeitung. Der Fall bewegt noch heute auch dank eines international bekannten Films die Öffentlichkeit.
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Buchvorschau
Westflug - Dato Turaschwili
Flugzeugentführung.
Tina
Damals, am 18. November 1983, stand an der Tür jenes Flugzeugs, das erfolglos entführt worden und dann wieder in Tbilissi gelandet war, eine junge Frau und hielt eine Granate umklammert. Auf ihr angstverzerrtes Gesicht tropfte der Regen.
Tina positionierte sich mit der Granate in der Hand an der Tür, damit die Regierung endlich alles beenden und das tun würde, was sie ohnehin vorhatte. In der Erwartung der Entscheidung wuchs die quälende Anspannung bei allen Beteiligten, die Hoffnung auf ein baldiges Ende blieb der einzige Gedanke derjenigen, die das Geschehen von außen verfolgten, wie auch derjenigen, die im Flugzeug saßen. In der von Kugeln durchlöcherten Maschine waren einige Fluggäste und Crewmitglieder umgekommen, und die Leichen lagen nun im Kabinengang. Das Schluchzen und Stöhnen der Verletzten durchbrach die Stille im Flugzeug. Eine von ihnen flehte Tina flüsternd an, die Granate nicht hochgehen zu lassen. Tina war schon seit einer Weile verstummt, raffte sich aber doch zu einer Antwort auf und sprach eher für sich, fast reumütig:
»Beruhigen Sie sich, es ist nur eine Attrappe.«
Trotz dieser Antwort blieb das Gesicht der Frau verzerrt, ebenso wie das der anderen. Tina suchte unter all diesen Gesichtern das für sie wichtigste. Sie fand es und schaute Gega für einen kurzen Moment in die Augen. Ihre Blicke begegneten sich aber nur für eine Sekunde, da genau in diesem Moment die Spezialeinheit, die sich auf dem Dach des Flugzeuges positioniert hatte, ihren Angriff startete. Gleich darauf füllte sich der Passagierraum mit einem weißen Gas, das aus der Decke austrat.
Tina war schon als Kind eine Schönheit gewesen, und von klein auf hatte sie viele Verehrer gehabt, die bei ihr Eindruck schinden wollten, sei es in der Schule, im Zeichenstudio oder im Englischkurs. Als sie älter wurde, fing sie an, sich darüber zu ärgern, weil die Jungen sich nur ihrer Schönheit wegen für sie interessierten. Tina selbst fand ihr inneres Wesen naturgemäß viel interessanter als ihr Äußeres, doch die Jungen sahen das wohl anders. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie, bevor sie Gega traf, noch nie verliebt gewesen war.
Sie war schon auf der Kunsthochschule, als Gega zufällig eines ihrer Bilder sah und bald darauf ihre Telefonnummer herausfand. In ihrem ersten Gespräch wirkte sie ziemlich naiv, da sie alles zu glauben schien, was Gega erzählte.
Gega sagte beispielsweise, dass er sie kennenlernen wolle, weil ihm ihr Bild so gefallen habe. Gleich zu Beginn hatte er auch fallengelassen, dass er körperlich behindert sei. Gega verstand selbst nicht, warum er ihr solch einen dummen Streich gespielt hatte. Doch ihre Antwort hatte ihn völlig überrascht:
»Mir ist es egal, ob Sie behindert sind oder nicht: Für mich zählt nur die Persönlichkeit.«
Das Mädchen, das so naiv wirkte, glich eher einem Engel als einer normalen Studentin der Kunsthochschule. Sofort legte Gega den Hörer auf – solch eine Antwort hatte er nicht erwartet –, und er war sehr durcheinander. Er bereute sofort, dass er ihr diesen Streich gespielt hatte, beruhigte sich aber damit, dass er seine wahre Identität nicht preisgegeben hatte.
Mit seinen 22 Jahren konnte Gega als Schauspieler bereits einige Erfolge vorweisen. Er hatte schon in einigen Filmen bedeutende Rollen gespielt. Jeder, der sich in Georgien für Filme interessierte, kannte seinen Namen. Als erfolgreicher Schauspieler und ansehnlicher junger Mann war er sehr beliebt, vor allem bei Frauen. Aber er wollte keinesfalls seine Popularität ausnutzen. Deshalb hatte er dieses Mal eine Behinderung erfunden und vorgegeben, sich ohne Rollstuhl nicht bewegen zu können. Gega dachte eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass es nun kein Zurück gab. Also wählte er noch einmal ihre Nummer.
»Ja, bitte«, sagte Tina mit dieser kindlichen Stimme, die Gega so beeindruckte.
Gleichzeitig brachte ihn diese Stimme so durcheinander, dass er sich während der folgenden Gesprächspause mehrmals räuspern musste. Unter den jungen Künstlern galt Gega zwar als einer der begabtesten, doch diese neue Rolle fiel ihm auf einmal sehr schwer. Plötzlich fing er an, an seiner schauspielerischen Begabung zu zweifeln.
»Ich bin’s noch mal«, presste er endlich schüchtern hervor und räusperte sich wieder.
»Wo waren Sie denn?«, fragte Tina verwundert.
»Nirgendwo. Die Leitung wurde unterbrochen.«
»Und was wollten Sie mir sagen?«
»Wann?«
»Bevor die Leitung unterbrochen wurde.«
»Ich sagte, dass ich behindert bin und im Rollstuhl sitze.«
»Das macht nichts. Falls es Ihnen passt, komme ich einfach zu Ihnen und bringe dann auch meine Bilder mit.«
»Nein, nein. Nicht notwendig. Ich will Sie nicht belästigen, außerdem …«
»Außerdem was?«
»Außerdem würde es mir guttun, weil ich eh immer zu Hause bin, wenn wir uns irgendwo anders treffen könnten, damit ich mal an die frische Luft komme.«
»Verstehe, aber ich will Sie wirklich nicht belästigen, auch wenn ich das jetzt wohl bereits getan habe.«
»Sagen Sie mir einfach, wann und wo.«
»Nein, sagen Sie mir wo, und ich werde kommen.«
»Mir wäre es am liebsten, Sie an der Hochschule abzuholen, nach dem Unterricht.«
»Wie werden Sie mich denn erkennen?«
»Sie werden mich erkennen. Ich glaube nicht, dass noch so jemand wie ich vor der Hochschule eine Verabredung haben wird.«
»Ich sagte ja schon, dass ich für Ihren Zustand Verständnis habe.«
»Ich glaube, es wird trotzdem nicht sehr angenehm sein, wenn sich so eine schöne junge Frau mit einem Behinderten im Rollstuhl trifft.«
»Eine schöne junge Frau? Woher wollen Sie denn wissen, wie ich aussehe?«
»Natürlich weiß ich das nicht. Aber Ihre Freundinnen werden sich auf jeden Fall über Ihren behinderten Verehrer vor der Hochschule wundern.«
»Mein Leben geht nur mich etwas an.«
»Morgen?«
»Was morgen?«
»Kann ich morgen kommen?«
»Morgen endet der Unterricht um drei Uhr.«
»Dann komme ich um drei. Ich werde beim Denkmal stehen. Besser gesagt, sitzen.«
»Gleich nach dem Unterricht komme ich raus.«
»Dann bis morgen.«
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt.«
»Nein, wie kommen Sie denn darauf?«
Gega war wirklich nicht gelangweilt, aber dieses Gespräch fortsetzen wollte er auch nicht. Besser gesagt, er konnte es nicht. Er verabschiedete sich von Tina und legte auf. Plötzlich musste er lächeln und fühlte sich ungewöhnlich wohl, nachdem er nun entdeckt hatte, dass es in dieser Stadt offenbar auch ganz andere Mädchen gab. Vielleicht nur ganz wenige, vielleicht auch nur Tina, aber immerhin …
Zugleich wurde ihm klar, dass er Tina nicht länger anlügen durfte, weil es wirklich ein übler Scherz war: Er wollte sie keinesfalls verletzen. Die ganze Nacht dachte er darüber nach, während er seine Lieblingsplatte hörte, und entschied sich dann, am nächsten Tag tatsächlich zur Kunsthochschule zu gehen, Tina zu treffen, ihr alles zu erklären und sich dann zu entschuldigen. Doch auch nach diesem Entschluss konnte er die ganze Nacht kein Auge zumachen. Er dachte bis zum Morgen an die Stimme des Mädchens. Dieses Mädchen, das so anders zu sein schien als die anderen.
Am Mittag ging er bei Dato Mikaberidse vorbei, einem seiner engsten Freunde. Er besaß eine echte »Wrangler«-Weste, die Gega schon immer sehr gefallen hatte. Das hatte er ihm allerdings nie gesagt, weil er wusste, wie gutmütig Dato war. Dato hätte die Jeansweste sofort ausgezogen, um sie ihm zu geben. Dato war nicht nur großzügig, weil sein Vater im Ministerium arbeitete und es ihm daher nie an Jeans mangelte. Er war einfach ein sehr guter Mensch. Ganz einfach.
Doch an diesem Mittag wollte er Dato tatsächlich um seine Weste bitten. Nur für das Treffen mit Tina, am Abend würde er die Weste dann wieder zurückgeben.
Von der Straße aus rief er laut nach Dato, doch dessen kleiner Bruder Vazha steckte seinen Kopf aus dem Fenster. Die Leute nannten Vazha »Prastaka«, »Anspruchslos«, denn auch er war genau wie sein Bruder ein guter Junge. Gega winkte ihm zu.
»Wie geht’s dir?«
»Gut.«
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Abgebrannt.«
»Wann?«
»Heute Morgen. Sie brennt immer noch.«
»Ach du Scheiße! Wo ist dein Bruder?«
»Weiß ich nicht. Als ich aufgewacht bin, war er schon weg.«
»Dich hat wahrscheinlich die Feuerwehrsirene geweckt.«
Beide lachten laut. Gega hob noch einmal die Hand zum Abschied und drehte sich um, doch Vazha rief:
»Brauchst du was?«
»Nein danke, ich komme später noch mal vorbei.«
»Sag schon.«
»Nichts Besonderes, ich wollte mir nur die ›Wrangler‹ für einen Tag ausleihen.«
»Warte.«
Prastaka verschwand vom Fenster und stand ein paar Minuten später auf der Straße mit der Jeansweste über dem Arm.
»Nimm sie mit. Dato hat sie sowieso jeden Tag an, nur heute hat er sie mal hiergelassen. Hast Glück gehabt.«
»Lieber nicht, ich frage ihn nachher selbst.«
»Nimm sie mit. Sie gehört schließlich eigentlich mir. Mein Vater hatte sie mir mitgebracht, aber sie ist mir zu groß. Dato darf sie nur vorübergehend haben. Später kriege ich sie dann wieder. Ist ja ’ne echte ›Wrangler‹. Die geht nicht kaputt oder