Digitales Verderben: Wie Pornografie uns und unsere Kinder verändert
Von Anne Sophie Wöhrle und Christoph Wöhrle
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Buchvorschau
Digitales Verderben - Anne Sophie Wöhrle
In Deutschland herrscht bei vielen die Meinung vor, dass Sexualität angeblich »nur natürlich« und deshalb auch »nur gut« sei, und deshalb auch ihre Darstellung in der Pornografie und deren Konsum als völlig problemfrei anzusehen. Ein kritisches Hinterfragen dieser Position – etwa unter dem Blickwinkel des Machtaspekts – findet kaum statt, vielmehr wird Kritik rasch unter den Generalverdacht der Lustfeindlichkeit gestellt. Umso mehr ist es zu begrüßen, wenn sich Einzelne diesem Meinungsmonopol widersetzen, und sich auf eigene Faust aufmachen, Fragen zu stellen, und versuchen, differenzierte Antworten zu finden. Anne Sophie und Christoph Wöhrle leisten mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis, wie Pornographie zumindest auch und bei gar nicht so wenigen wirken kann: nicht befreiend und lustfördernd sondern einengend.
Dr. Jakob Pastötter,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
wöhrle@mvg-verlag.de
1. Auflage 2014
© 2014 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
In den mit einem * (Sternchen) versehenen Kapiteln wurden die Namen der Protagonisten von den Autoren geändert.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Oliver Bitzer
Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann, München
Umschlagabbildung: Illustrationen von Kristin Hoffmann unter Verwendung von Shutterstock-Motiv
Satz: Carsten Klein, München
E-Book: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN Print 978-3-86882-515-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-668-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-669-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.muenchner-verlagsgruppe.de
Inhalt
Titel
Zitat
Impressum
Inhalt
Kapitel 1: Bestandsaufnahme (Einleitung)
So Porno ist Deutschlands Jugend
Zahlen und Fakten zum Thema
Was wir mit diesem Buch wollen
Neil Postman und was er uns heute noch zu sagen hat
Sind Pornos harmlos?
Was ist eigentlich Pornografie?
Die Generation Porno
Was machen Pornos mit Jugendlichen?
Wie eine Debatte begann
Bernd Siggelkow und sein Vermächtnis
Fazit
Kapitel 2: Porno in der Pause* (Reportage)
Begegnung mit Schülern
Winter in der Stadt
Einmal kurz blankgezogen
Pornos statt Paninis
»Meine Mutter ist nicht kompliziert«
Herr Steppich aus Hessen
Pornos nach dem Sport
Einmal das Facial nachspielen
»Ich bin nicht süchtig, aber ich will’s auch nicht werden«
Kapitel 3: Porno für lau?
Wie sich eine ganze Branche verändert
Anonym, gratis, frei zugänglich
Pornoland Deutschland
Wie sich alles veränderte
Alles für lau
Der große Reibach
Amateure braucht das Land
Live-Cams und Webmaster
Computer für die Hosentasche
Was die Jugend tut
Flatrate für alle
Was verboten ist
Ein Tag in Berlin (Reportage)
Knete fürs Abspritzen
Sechs mal Sex
Gutes Geiles Geld
Mini beim Gangbang
Fazit
Kapitel 4: Ich spritze, also bin ich
Was Pornos mit Jugendlichen machen
Erwachsene und Pornos
Wirkung auf Jugendliche
Mädchen und Jungen
Alles nur in meinem Kopf
Das Facial zieht ins Kinderzimmer ein
Wen es betrifft
Komplexe und Körperkult
Sein folgt Schein
Sexting am Nachmittag
Wen es (besonders) betrifft
Fazit
Kapitel 5: Ich kann nicht mehr ohne
Wenn aus Spaß Sucht wird
Sexsucht ist nichts Neues
Süchtig nach dem Netz
Eine Mischung aus zweierlei
Fragen über Fragen
Sucht und Süchte
Das Belohnungssystem
Ein Problem, das wachsen wird
Hilfe ist möglich
Fazit
Kapitel 6: Unter Daddlern* (Reportage)
Besuch bei Sexsüchtigen
Aller Anfang ist brav
Eine andere Welt
Therapie beim Weißen Kreuz
Hilfe in der Hauptstadt
Mit 18 in die Videothek
Raus aus dem Morast
Kapitel 7: Mein Lover im Netz
Eine Reise zu Facebook
Belästigung im Netz
Versuche von Gegenmaßnahmen
Täter ohne Hemmungen
Es gibt Hilfe!
Ich zeig dir mein Ding!* (Reportage)
Erste Gehversuche
Eigene Welten in der Anonymität
Anal mit dem Anime-Girl
Willkommen bei Facebook
Aller guten Dinge sind drei – Penis auf WhatsApp
Fazit
Exkurs Kapitel 8: Bist du schwul oder was?
Homophobie unter Jugendlichen und Erwachsenen
Wann ist ein Mann ein Mann?
Sphären einer Ablehnung
Jugendliche und Homophobie
Probleme über Probleme
Petition über Petition
Fazit
Kapitel 9: Was die Zukunft bringt
Wo uns das Internet hinführen wird
Mobiles Netz für alle
Vernetzung über alles
Vernetzt mit allen
Fernseher mit allem
Bilder im Alltag
Freiheit allenthalben?
Alles Technik, oder was?
Fazit
Kapitel 10: Was man tun kann
Tipps für Eltern, Lehrer und die User selbst
Was Eltern tun können:
Was Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher und Jugendbetreuer tun können:
Was User tun können:
Anhang: Links, Literatur, Online-Quellen, über die Autoren
Interessante Links
Sicherheit im Internet
Kinder- und Jugendschutz allgemein
Schutzsoftware
Sexualaufklärung
Literatur
Online-Quellen
Über die Autoren
Anne Sophie Wöhrle
Christoph Wöhrle
31790.jpgBestandsaufnahme (Einleitung)
So Porno ist Deutschlands Jugend
»Ich hatte meinen Lebensunterhalt mit meinem Aussehen verdient, und nun war alles dahin: das wundervolle blonde Haar, das Gesicht mit dem strahlenden Lächeln, die großen verführerischen Augen. Alle Kurven, für die Männer tausende Dollars gezahlt hatten, nur um sie anzuschauen, waren dahingeschmolzen zu einem heruntergekommenen Skelett.«
(Jenna Jameson, eine der bekanntesten weiblichen Pornodarstellerinnen, in ihrer Autobiografie »Pornostar«)
Ich war sicherlich ein Spätzünder. Meinen ersten richtigen Porno habe ich mit 23 Jahren gesehen. Es war auf einer Brasilien-Reise im Frühjahr 2003, meine beiden Kumpels Daniel und Stefan hatten schlimmen Durchfall, während draußen der Karneval über die Altstadt von Salvador da Bahia fegte. Also gönnten sich die beiden etwas Ruhe im Hotelzimmer und ließen den »Adult Channel« nebenbei im Fernseher laufen.
Da sah ich den blanken Busen und die rasierte Scham einer Brünetten und wie sie von einem überaus muskulösen Hünen im Doggystyle penetriert wurde. Er kniete hinter ihr, sie lag vornüber gebeugt auf dem Bett und war mit Handschellen an die Kopflehne gefesselt. Unter die Bilder hatten die Macher dieses Videos sphärische Klänge und harte Beats als Tonspur gelegt. Der Rhythmus schlug analog zu den Bewegungen des schnellen Rammlers. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gefiel der Frau, was sie da gerade mit diesem Mann tat. Oder besser gesagt, was der Mann da mit ihr tat. Zumindest sah man, dass sie stöhnte und die Augen schloss, während ihr Körper unter den Stößen zu erbeben schien.
Mir gefiel dieser Porno ausgesprochen gut. Es fühlte sich für mich ein bisschen an wie die Erfahrung, wenn du als Torhüter beim Fußball das erste Mal einen Hechtsprung wagst und einen Ball parierst. Du bist unsicher, aber wirfst dich rein und fühlst danach eine Erleichterung und auch einen Anflug von Stolz. Denn jetzt gehörst du dazu.
Sicher hatte ich viel über Pornografie gehört. Aber zu dieser Zeit war das Internet noch eine Welt, die sich mir erst langsam erschloss. Damals wurden Pornos noch vor allem auf Video-Kassetten und DVDs vertrieben. Man ging in eine Videothek oder einen Sex-Shop. Oder ins Pornokino, wo die Erben Onans am Eingang Taschentücher gereicht bekamen und den Laden nicht selten mit heraufgezogener Kapuze betraten wie Diebe in der Nacht. Pornos waren in der Schmuddelecke. Eindeutig. Und wer sie konsumierte, dem konnte man getrost unterstellen: Er weiß, was er da tut.
Es waren andere Zeiten. Für viele der jungen Konsumenten in der heutigen Zeit, die, so behaupten wir, nicht unbedingt wissen, was sie da tun, wäre mein erster Porno wohl viel zu soft und brav, ergo: zu langweilig gewesen. So wie die mittelalterlichen Zeichnungen aus dem »Codex Manesse« für einen Kunstliebhaber: Er findet sie putzig, vielleicht schön und handwerklich gelungen, aber legt eben nicht die Kriterien zur Bewertung von zeitgenössischer Kunst an.
Ob der brasilianische Porno auch ein Stück Kunst war, sei dahin gestellt. Aber ich hatte – was Sex-Filme angeht – endgültig meine Unschuld verloren. Und das war irgendwie aufregend.
Zahlen und Fakten zum Thema
Aufregend sind Pornos auch heute noch. Verschiedene Studien haben deren Konsum in der deutschen Bevölkerung untersucht. Dabei kam heraus, dass die Konsumenten durch die Freiheit des Internets immer jünger werden. Das Einstiegsalter liegt bei 11 bis 13 Jahren.
Pornos sind heute praktisch frei zugänglich für jedermann. Laut der repräsentativen Dr.-Sommer-Studie der Jugendzeitschrift Bravo (2009) haben 42 Prozent der 11- bis 13-Jährigen in Deutschland und 79 Prozent der 14- bis 17-Jährigen schon einmal pornografisches Material gesehen. Männliche User schauen deutlich öfter Pornos als weibliche. Sehr regelmäßigen Pornokonsum hat die Studie bei 8 Prozent der männlichen und 1 Prozent der weiblichen Nutzer zwischen 11 und 17 Jahren festgestellt.
Bei einer Online-Befragung von Mathias Weber und Gregor Daschmann von 2010 gaben 93 Prozent der männlichen User zwischen 16 und 19 Jahren an, bereits gewollt Pornografie konsumiert zu haben. Bei den Mädchen waren es 61 Prozent. 5 Prozent der Jungen und 20 Prozent der Mädchen sagten, sie seien nur zufällig beim Surfen auf Porno-Seiten gelandet. Rund 50 Prozent der Jungen, aber nur 3 Prozent der Mädchen gaben an, Pornos »fast täglich« oder »mehrmals täglich« zu konsumieren.
In anderen Ländern wurde eine noch weitere Verbreitung ermittelt. So ergab eine Studie der Autoren Susanne Knudsen, Lotta Löfgren-Mårtenson und Sven-Axel Månsson (2007), dass in Skandinavien länderübergreifend 99 Prozent der männlichen und 86 Prozent der weiblichen Internet-User zwischen 12 und 20 Jahren bereits pornografisches Material gesehen haben. In einigen asiatischen Ländern mit weitreichender Verbreitung des Internets auch im öffentlichen Raum wie etwa Südkorea und Taiwan tendieren die Werte in Richtung 100 Prozent.
Und mit zunehmendem Alter steigt der Pornokonsum noch. Laut einer Studie der Medienwissenschaftlerin Nicola Döring von 2009 nutzen 16 Prozent der Studenten und 1 Prozent der Studentinnen täglich Pornografie, ebenso zumeist im Internet. 73 Prozent der Studenten und 9 Prozent der Studentinnen konsumierten zumindest einmal wöchentlich.
Das Zahlenwerk solcher Studien wird in diesem Buch noch weiter dargelegt und kommentiert werden. Auch wenn Studien bekanntlich oft nur das belegen, was deren Erheber für erheblich halten. Oder wie es Neil Postman, auf den wir gleich kommen werden, ausdrückte: »Viele Psychologen, Soziologen, Ökonomen und andere Kabbalisten der neueren Zeit lassen sich die Wahrheit von ihren Zahlen sagen, und wenn diese stumm bleiben, stehen sie mit leeren Händen da.«
Aber Zahlen und Studien sind nun mal die einzigen Informationen, die wir haben. Sie sind die Art, wie wissenschaftliche Erkenntnisse präsentiert werden und deshalb zitieren wir sie doch.
Aber interessanter als die Zahlen ist der Ort, wo Pornos heute konsumiert werden: nicht das Hotelzimmer und auch nicht mehr das Kino, sondern das World Wide Web. Und weil das Internet so schwer kontrollierbar ist, ist auch ein altersabhängiger Zugang zu Pornografie kaum mehr durchsetzbar – trotz eindeutiger Gesetzeslage (siehe Kapitel 3).
Was wir mit diesem Buch wollen
Was das für die Kinder und Jugendlichen bedeutet, ist das Thema dieses Buches. Wir glauben, dass der Konsum von Pornos durch junge Menschen deren Umgang mit Sexualität beeinflusst. Wir glauben, dass es hier bereits entsprechende Entwicklungen zu beobachten gibt.
Internet-Pornos beeinflussen die jungen Menschen, die mit ihnen auf die eine oder andere Art in Kontakt kommen, erheblich. Und sie beeinflussen damit die ganze Gesellschaft – nicht zum Guten; das ist die These von »Digitales Verderben«.
Unser Buch beschäftigt sich mit der Frage, was das für Folgen hat. Unser Blickwinkel fußt auf wissenschaftlichen Studien und eigenen Recherchen. Es soll aber kein Buch von Wissenden sein, die den Leuten von oben herab sagen, wie sie zu leben haben.
Genauso wenig soll es über Gebühr polemisieren. Vielmehr wollen wir uns als Wissbegierige zeigen, die denen Input und Hilfe geben, die sich mit dem Thema Pornografie und Jugend beschäftigen wollen, seien es Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, Jugendbetreuer oder die jungen Konsumenten selbst.
Da wir Journalisten sind und um dieses Buch auch kurzweilig zu halten, sind einige Kapitel oder Kapitelteile als Reportagen aufgeschrieben. Hier gehen wir nah ran an die Menschen, die wir getroffen haben, um dann in den übrigen Kapiteln wieder einen Schritt zurück zu treten und Distanz aufzubauen.
Prinzipiell wollen wir uns immer entlang der Fragen bewegen, die unsere Leser beschäftigen. Wie funktioniert Pornografie und wie wird sie von Menschen rezipiert? Schadet Pornografie meinem Kind? Wie bringt man Jugendlichen eine verantwortliche Nutzung des Internets bei? Welche Hilfen gibt es, die man als Erwachsener oder auch als junger Konsument in Anspruch nehmen kann?
Neil Postman und was er uns heute noch zu sagen hat
Es war das Jahr 1985, als Neil Postman sein Sachbuch »Amusing Ourselves to Death« veröffentlichte (in Deutschland erschien es Ende 1988 unter dem Titel »Wir amüsieren uns zu Tode«). Postman war im Hauptberuf Professor für Kommunikationswissenschaften und »Media Ecology« an der New York University. Man kann ihn, ohne zu übertreiben, einen der bedeutendsten Medien- und Kommunikationswissenschaftler seiner Zeit nennen.
Seine Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1985 hatte ebenfalls den Titel »Wir amüsieren uns zu Tode«. Platt gesagt, war Postmans Thema die um sich greifende Volksverdummung durch das Aufkommen des Privatfernsehens in den USA. Das Buch wurde ein weltweiter Bestseller und Postman erhielt dafür ein Jahr nach Erscheinen den renommierten Orwell-Award.
Auf George Orwell und Aldous Huxley bezog sich Postman in seinem Buch. Er wollte die Frage klären, wer von beiden mit seiner Zukunftsvision Recht hatte.
Orwell warnte vor der Knechtung der Welt durch eine fremde Macht, den »großen Bruder« – später Namensgeber für die Endemol-TV-Show »Big Brother«, die um die Jahrtausendwende mediale Furore machte und Guido Westerwelle im Container vielleicht zum peinlichsten Auftritt seiner Karriere trieb. Es ging bei Orwell um die Überwachung und Kontrolle, ausgeübt durch eine aufoktroyierte Instanz.
In Huxleys Werk »Schöne neue Welt« dagegen bedurfte es einer solchen Instanz erst gar nicht. Bei ihm entmachten sich die Menschen selbst und gelangen in eine Unterwürfigkeit gegenüber den Technologien, denen sie ehrerbietig dienen – wie die alten Griechen ihren Göttern.