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eBook375 Seiten1 Stunde

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Über dieses E-Book

Splitter können unter die Haut fahren, Schmerzen und Entzündungen provozieren. Sie sind Bruchstücke einer Totalität, deren Integrität illusorisch bleibt. In Splittern zu denken, heißt eine Welt zu denken, deren Intaktheit bezweifelt werden kann. Nur muss sich dieser Zweifel nicht als Enttäuschung ausdrücken. Steinwegs Reflexionen spiegeln eine in ihrer Zersplitterung ebenso inkonsistente wie offene, nicht restlos determinierte Welt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Jan. 2018
ISBN9783957576026
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    Buchvorschau

    Splitter - Marcus Steinweg

    Anmerkungen

    BLICK

    Man könnte meinen, der Blick, den Kafka aus dem Fenster hinaus auf die Landschaft wirft, hätte die Leere zum Gegenstand. Das stimmt nicht. Im leeren Blick zeigt sich die Überfülle der eingerichteten Welt. Was sich ihm erschließt, ist nicht der Mangel an Bedeutung, sondern ihr Übermaß. Ihm enthüllt sich die Inkonsistenz der Realität. Das Subjekt grenzt an ihre Heterogenität und Kontingenz. Der Blick ist voller Sinn und Bedeutung. Die Ernüchterung, die er provoziert, liegt darin, auf keinerlei Leere zu stoßen. Sollte sich mit ihm eine Hoffnung verbinden, wäre es die auf Bedeutungslosigkeit.

    EIS

    Das Subjekt gleitet über der Leere wie auf dünnem Eis.

    CHAOS

    Seit Dostojewski und Nietzsche – doch genau genommen: immer schon – findet sich das Subjekt in den Windzug des Chaos gestellt. An ihm zerrt die große Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat. Es erkennt sich in allem von ihr bestimmt und durchzogen. Chaos ist nur ein Name für die große Aushöhlung, die dem Subjekt mit der Indifferenz des Weltraums entgegengähnt, um es selbst auszuhöhlen und zu destabilisieren. In seinen Nietzsche-Vorlesungen der 30er Jahre hat Heidegger das χάος und χαίνω als das »Gähnen, Gähnende, Auseinanderklaffende« bestimmt, als fortwährendes »Werden« und »öffnenden Abgrund«, der dem Subjekt sein Subjektsein nimmt, indem er es als Subjektwerden erweist, als ebenso unbeständiges wie unbestimmtes Tier.¹ Das Mensch genannte Tier umgibt die gähnende Leere, die der akosmische Kosmos = das Chaos ist. Von außen weht ihn kalte Indifferenz an.² Also geht es darum, eine Selbstbestimmung des Subjekts zu erlangen, in der es als chaosmotisches Subjekt aufgefasst wird (– eben dies tun Deleuze & Guattari). Erst im Austausch mit dem Chaos, in Kooperation mit ihm, wenn man so sagen kann, konstituiert sich das Subjekt als ein Subjekt ohne Subjektivität. Ohne Subjektivität will heißen: ohne substanziale Sicherung, ohne fixe Natur, ohne Gott. »Die Ordnung Gottes«, schreibt Deleuze in Logique du sens (1969), »umfaßt alle diese Elemente: die Identität Gottes als letztes Fundament, die Identität der Welt als umgebendes Milieu, die Identität der Person als wohlbegründete Instanz, die Identität der Körper als Basis, schließlich die Identität der Sprache als Macht zur Bezeichnung des ganzen Restes. Doch diese Ordnung Gottes hat sich gegen eine andere Ordnung aufgerichtet: eine Ordnung, die in ihr subsistiert und sie aushöhlt.«³ Die in der Ordnung Gottes subsistierende Ordnung ist das Chaos, gegen das sie sich aufrichtet, ohne dass es ihr gelingen könnte, es zum Verschwinden zu bringen. Das Chaos zum Verschwinden zu bringen hieße nichts anderes als das Verschwinden zum Verschwinden zu bringen, das bei Nietzsche und Deleuze auch Werden heißt. Es geht darum, sich mit dem Verschwinden oder Werden zu arrangieren. Alles liegt daran, den Charakter dieses Arrangements = dieser Chaosassimilation zu definieren. Keinesfalls geht es um die Liquidation des Subjekts im Chaos. Man muss begreifen, dass ein vom Chaos unberührtes Subjekt immer nur als Fantasie existiert. Ein solches Subjekt wäre Subjekt einer Reinheit = Unberührtheit, die es gänzlich aus der Welt entfernte. Subjekt als schöne Seele, Subjekt der Unschuld und Weltabgewandtheit. Das Chaossubjekt mag bei Nietzsche und Deleuze hyperboräisches Subjekt der Extreme sein – tropisches und katastrophisches Subjekt –, es ist zugleich Subjekt in seiner vollen Normalität. Das Subjekt grenzt an das Chaos, ist von ihm durchschossen und kontaminiert, ob es ihm gefällt oder nicht. Nie hat es ein Subjekt ohne Chaoskontakt gegeben. Was wir Subjekt nennen oder Cogito oder Selbstbewusstsein, konstituiert sich als schwebende Architektur über dem Abgrund des Werdens, den das griechische Denken – Heidegger denkt an Hesiod – χάος nennt. Denken nach dem Tod Gottes bedeutet, dem menschlichen Subjekt das Chaos zurückzugeben = ihm zu erstatten, was es nie verlor. »Gott kann keine Identität mehr garantieren!« – schreibt Deleuze und sagt damit: Nun muss erneut das Chaos an seine Stelle treten, »die Zerstörung der Welt; die Auflösung der Person; die Aufspaltung der Körper; der Funktionswandel der Sprache, die nur mehr Intensitäten ausdrückt.«⁴

    STIGMA

    Schlimmer als der Tod ist der Fall des Lebenden aus dem Leben. Fortan setzt er seine Existenz als lebender Toter fort. Kafka nennt es den »Verlust des Gleichschrittes mit der Welt«. Er bedeutet, dass, wer unter dem Stigma des Verlusts lebt, »die Welt zerschlagen hat und, unfähig sie wieder lebend aufzurichten, durch ihre Trümmer gejagt wird.«⁵ Hier gibt es kaum Hoffnung. Es sei denn, der Tod wird zum Versprechen, das die Erlösung von einer nicht endenwollenden Agonie in Aussicht stellt.⁶ Wir müssen uns Gespenster als glücklose Menschen vorstellen. Sie durchstreifen ihr Leben als Gestorbene. Aus dem Leben zu stürzen, ist ein Ereignis, dessen Drastik kaum überschätzt werden kann. Der Verlust des Gleichschrittes mit der Welt ist Verlust des Lebens wie der es beflügelnden Lebendigkeit. Tot ohne tot zu sein, heißt im Horizont faktischer Inexistenz zu persistieren. Überall schreibt Kafka von den Konditionen eines Lebens, das sich fortsetzt, nachdem es sich verloren hat. Kafka ist der Dichter dieser Verlorenheit. Sein Schreiben öffnet das Leben auf seine Wahrheit, die keinerlei positives Jenseits indiziert. Es erzählt die Geschichte des seine Rückseite bewohnenden Lebens. Dabei handelt es sich um ein Leben, das inmitten der Immanenz mit ihr bricht, um sich im Bruch mit ihr den letzten Funken Hoffnung zu nehmen.

    DÜRRENMATT

    Es sei unmöglich, »daß ein Kunstwerk aus der Wirklichkeit fällt«⁷, bemerkt Dürrenmatt und hätte hinzufügen können: Entscheidend ist, wie es in sie einfällt!

    FORM

    »Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.«⁸ – Der Satz aus der Ästhetischen Theorie (1970) provoziert Unverständnis. Man denkt den Primat der Form durch irgendeinen Inhalt (die soziopolitische, außerästhetische Realität) ersetzt zu haben. Wie immer, wenn das Halbdenken über das Denken triumphiert, erschöpft es sich in Substitutionslogik. Man ersetzt den (angeblichen) Primat der Form durch den des Inhalts und merkt nicht, dass man der Komplexität ihrer Interdependenz ausweicht. So fällt man hinter Adorno zurück. Was er zu denken gibt, ist ein Formbegriff, der, ganz von der Gesellschaft durchdrungen, auf Resistenz ihr gegenüber beruht. Der Realität zu resistieren, indem man ihr volles Gewicht auf sich nimmt: Darauf zielt Adornos ästhetische Theorie!

    TROTZ

    Der Sturz ins Chaos ist reale Möglichkeit. Wittgenstein fürchtet ihn in Gestalt des Wahnsinns. Die Psychose liquidiert das Denken, indem sie seine Realitäten auflöst. Die Erfahrung ihrer ontologischen Inkonsistenz kommt dem Kontakt mit Lacans Realem gleich. Es gibt hier keinerlei Raum für Romantik. Mit diesem Kontakt tritt das Subjekt in ein Außen, von dem es längst heimgesucht ist. Kafka verbindet mit Wittgenstein das Abschreiten der Chaosgrenzen. Alles liegt daran, der Inkonsistenz mit Minimalkonsistenz zu trotzen. Eben dieser Trotz heißt Denken oder Literatur.

    NOTIZ ZU HEGEL

    Hegel nicht gelesen zu haben, schützt nicht davor, Hegelianer zu sein.

    MESSER

    Kafkas berühmtester Satz zur Liebe steht im Brief an Milena vom 14. September 1920: »Liebe ist, daß du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.«⁹ Man muss nicht Kafka sein, um zu wissen, dass zu ihr Gewalt gehört. Die Liebe zerreißt das System der Erwartungen, die das romantische Liebesdispositiv darstellt (»Man hat anderes erwartet, und meist mehr als das«¹⁰). Sie zerreißt das liebende Subjekt einerseits, die Romantik der Zerrissenheit andererseits. Sie ist Zerreißung des Ideologems der Zerreißung, das den Liebenden als Zerrissenen konzipiert. Die Erfahrung der Liebe ist Erfahrung ihrer Unmöglichkeit. Sie existiert nur kontaminiert von narzisstischen Affekten, die ihr Sehnsuchtsvokabeln schlechter Unendlichkeit diktieren. Die Liebe soll unendlich sein, das heißt sie muss scheitern. Angeblich ist sie nicht von dieser Welt. Kafka wirft einen nüchternen Blick auf die romantische Selbstverklärung. Er erwartet von Milena, mit ihrer Liebeserwartung zu brechen, indem er von ihr verlangt, das Messer zu sein, das ihm dazu dient, sich von seinen Erwartungen zu befreien. Man könnte meinen, das sei pathetisch und übertrieben. Doch Kafka schreibt, dass alles Übertreibung sei, »nur die Sehnsucht ist wahr, die kann man nicht übertreiben.« Folgt also auch er dem Sehnsuchtsdispositiv der Romantik des kalten Herzens? Im Gegenteil. Kafka wendet dieses Dispositiv gegen es selbst, indem er der Sehnsucht eine geradezu materielle, mindestens aber körperliche Realität verleiht. Nichts ist hier übertrieben. Die Sehnsucht der Liebenden ist von großer Nüchternheit und Konsistenz. Sie impliziert Widerstand gegenüber dem Realismus der Enttäuschten wie gegenüber sämtlichen Idealismen der Verklärung. Sie schreibt sich keinem dieser Register ein. Vielmehr ist es diese Resistenz, die ihr einen Unendlichkeitsvektor einträgt. Statt um temporale Extension geht es um punktuelle Intensität. Wenn es so etwas wie Unendlichkeit in der Liebe gibt, dann ist sie von dieser Welt.

    ARSCHLOCH

    »Je n’ai pas cherché à plaire / Ich habe nicht versucht, zu gefallen«¹¹ – ist das Mindeste, was Guy Debord von sich sagen konnte. Im Spiegel des Spektakels ungünstig zu erscheinen, entspricht der Erwartung des Autors von La société du spectacle (1967). Debord wusste, dass das Spektakel ihn entstellt, indem es von ihm erwartet, er erwarte, in ihm gut auszusehen. Es gehört zur Spektakellogik, unnötige Erwartungen zu wecken. Debord ist zu klug, um diesen Mechanismus nicht zu durchschauen. Hat er eine Lösung? Es gibt keine. Der Spiegel, der noch im aktuellen Kapitalismus als eben dieser selbst persistiert, versucht jedes Subjekt an sein Bild zu ketten, um es in seinen Narzissmus einzuschließen und zu narkotisieren. Das Alkoholikergenie Debord blieb wachsam. Er hatte keine Lust, an einem Anästhetisierungsprogramm teilzunehmen, das den Opportunismus derer nährt, die er »bescheidene Funktionäre« nennt, die »sich immer und überall verpflichtet glaubten, die dürftigsten Imperative der Augenblicksmoden« zu respektieren. Debord wollte lieber ein Arschloch als ein Opportunist sein. Das macht ihn unentbehrlich und aktuell.

    SCHAF

    Der Tagebucheintrag vom 19. November 1913 bringt es auf den Punkt: »Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.«¹² Das dem verlorenen Schaf nachlaufende Schaf ist doppelt verloren. Drückt es nicht Kafkas allgemeine Problematik aus? Das Problem seiner Figuren liegt nicht darin, zur Ungewissheit verurteilt zu sein. Ihnen ist noch die Gewissheit der Ungewissheit genommen. Nicht einmal ihr Scheitern ist gewiss.

    IDIOTENBERUHIGUNG

    Nichts verunsichert die Idioten mehr als Indifferenz gegenüber Erfolg, während sie ihre Hoffnungen auf Erfolgsversprechen bauen, die, indem sie sich erfüllen, ihre Inkonsistenz demonstrieren. Wer bekommt, worauf er hoffte, erhält nichts. Erfolg ist nichts als Erfolg. Zur Idiotenberuhigung bliebe zu sagen: Das

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