Alles und Nichts: Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung
Von Martin Burckhardt und Dirk Höfer
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Über dieses E-Book
Martin Burckhardt
Martin Burckhardt, 1957 in Fulda geboren, ist Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Dozent. Er verfasste diverse technikphilosophische Bücher zur Genealogie der Maschine. Burckhardt lebt und arbeitet in Berlin.
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Buchvorschau
Alles und Nichts - Martin Burckhardt
Jenseits
I
Offenbarung
Boole und die Formel
Am Anfang war die Null und die Null war bei Gott und Gott war die Eins. Die Null und die Eins waren im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihnen war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht begriffen.
1854 schrieb der irische Mathematiker George Boole ein Buch mit dem Titel The Investigations of the Laws of Thought. Boole, der als junger Mann ein Erleuchtungserlebnis hatte, das sein weiteres Denken bestimmte, formulierte darin die Idee eines logischen Universums, dessen Elemente sich durch die Logik von Anwesenheit/Abwesenheit, 0 oder 1 darstellen lassen. In der Booleschen Algebra löst sich die Welt der Zahlen, und mit ihr die Welt, im binären Code* auf. Zahlen, wie wir sie kennen, sind demnach Erscheinungsformen dieser Codierung. Sie sind keine Repräsentanten mehr. Die Booleschen Ziffern 1 und 0 bezeichnen keine Quantität, sondern sind Marker für Anwesenheit und Abwesenheit. Dabei steht die 1 für das Universum, die 0 für das Nichts. Doch stehen diese beiden Terme nicht in einem ausschließenden, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zueinander: Beide folgen derselben Logik. So wie 1 mal 1 mal 1 immer 1 ergibt, 0 mal 0 mal 0 immer 0, ergibt in der Booleschen Welt auch x mal x mal x immer x. Und genau deshalb treffen sich Alles und Nichts in der Formel x = xn. Weil das x in der Formel für alles, ja sogar für die Welt als Ganzes stehen kann, ist es nicht übertrieben, hier von einer digitalen Weltformel zu sprechen.
Fassen wir die Welt als großen Magneten auf, der zwischen einem positiven und einem negativen Pol oszilliert, also in einer dyadischen Logik, ist ein solcher Weltblick durchaus sinnvoll. Denn alles, was elektrifizierbar ist, ist auch digitalisierbar. So mag x für ein alphanumerisches Zeichen stehen, eine Audiodatei oder ein Bild, aber ebenso gut könnte es den von einem Sensor erfassten Hämoglobinwert im Blut oder die Positionsdaten eines Wals repräsentieren. Oder auch das, was wir vielleicht erst in Zukunft werden digitalisieren können, unsere Sprechakte, Emotionen, Träume. Digitalisiert jedoch kommt jedwedes x nicht mehr als Singularität oder Einzelobjekt vor, sondern lässt sich gemäß der Formel beliebig vervielfältigen, es vervielfältigt sich quasi von selbst, es wird zur Population.
In der Gleichung x = xn steckt demnach eine Proliferationsverheißung, ein Schlaraffenland, in dem alles jederzeit und unbegrenzt vorhanden ist. Die Verheißung totaler Zugänglichkeit birgt freilich auch eine Drohung. Denn hier steht dem digitalen Universum ein klaffendes Nichts gegenüber, eine Weltvernichtungsfantasie, die alle erdenklichen Dämonen mobilisiert. Die analoge Wirklichkeit wird ihre Digitalisierung zwar überleben, aber wir spüren, sie verkommt zur Schwundform, zum Potemkischen Dorf, zur Schlacke ihrer selbst. Denn in ihrer digitalen Erscheinungsform ist sie weit wirkmächtiger. Immer, allerorts, unbegrenzt.
Die Boolesche Formel kommt aber nicht nur in der Virtualität zum Tragen. Sie wirkt auf die Phantasmen zurück, die unsere Wirklichkeit strukturieren. Sie erfasst die »Realwirtschaft«, sie transformiert unsere Körper, unsere Auffassung von Identität und Freiheit, sie imprägniert die Politik, sie verändert die Wahrnehmung von Zeit und Raum, sie wirkt auf das Humanum als solches. In diesem Sinn ist die uns umgebende Welt längst zum Mantra der Booleschen Formel geworden: Alle Dinge sind durch dieselben gemacht und ohne dieselben ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Im Dark Room der Geschichte
Bekanntlich versteckt man ein Geheimnis am besten, indem man es vor aller Augen platziert. So bleibt unsere Informationsgesellschaft, die alles in Bits und Bytes bemisst, blind, was die Bedeutung und Herkunft ihres Informationsbegriffs anbelangt. Wie im Falle des Geldes, das man als gegeben voraussetzt, rechnet man damit, fragt aber nicht, wie jener geistige Kontinent, auf dem sich unsere Informationsgesellschaft hat ansiedeln können, in die Welt geraten ist. Als Claude Shannon, der »Vater der Informationstheorie«, 1948 seine Mathematische Theorie der Kommunikation vorlegte, wandte er die Theorie an, die der irische Autodidakt und Mathematiker George Boole ein Jahrhundert zuvor in seinen Laws of Thought veröffentlicht hatte. Dabei – und das ist das Erstaunliche – erschöpfte sich Shannons Beitrag in einer ingenieursmäßigen Anwendung, einem technischen Fertilisationsakt, bei dem die Gedanken, die Boole zu seinem Gedankengebäude gebracht hatten, unberührt und deswegen folgenlos blieben. Dieses Schweigen im Augenblick des Erfolgs ist umso sonderbarer, als Booles Theorie auch an anderer Stelle eine große Erschütterung hervorgerufen hatte. Als Gottlob Frege im Jahr 1879 seine Begriffsschrift veröffentlichte, das Werk, das bis heute als Grundlagenwerk der Analytischen Philosophie gilt, beschrieb der Mathematiker Ernst Schröder, einer der ersten Rezensenten, diesen Text bestenfalls als eine »Umschrift« der Booleschen Ideen. In Anbetracht der Peinlichkeit, dieses Gedankengebäude nicht selber entwickelt, sondern übernommen zu haben, tat Frege alles dafür, den Booleschen Anteil an der Fregeschen Revolution herunterzuspielen.
Claude Shannon selbst, der sich beständigen Anfragen ausgesetzt sah, was denn das Heureka-Moment seiner Entdeckung gewesen sei, wiegelte ab und sagte, wenn es denn einen solchen Augenblick gegeben hätte, hätte er nicht einmal gewusst, wie er Heureka hätte buchstabieren sollen. Und da auch der materielle Computer in unserer kollektiven Imagination ein Produkt des 20. und nicht des 19. Jahrhunderts ist, gehört Boole zu den großen Vergessenen der Computerkultur, und dies, obwohl ihm jeder Programmierer in Gestalt der Booleans, der Booleschen Operatoren, wieder und wieder begegnet.
Dass Techniker, selbst auf der Höhe ihrer Kunst, von der Vorgeschichte ihrer Disziplin nichts wissen, mag noch angehen. Sehr viel sonderbarer ist, dass auch die Theoretiker Booles grundstürzenden Beitrag ignorieren, dass man die simple Frage, wie es überhaupt zur Binärlogik hat kommen können, nicht stellt. Diese Lücke ist umso merkwürdiger, als der Impuls, der den irischen Mathematiker dazu brachte, die Null und die Eins zur Initiale der binären Logik zu machen, darin bestand, den Repräsentanten aus der Mathematik zu entfernen – eine Operation, so radikal wie die Enthauptung des französischen Königs. Ihm schwebte eine Mathematik vor, die es erlauben würde, mit Äpfeln und Birnen zu rechnen, oder mathematisch gesehen: von einem Zahlensystem zum anderen zu springen. Dieser Sprung wird möglich dadurch, dass Boole die Null und die Eins (diese beiden »Königszahlen der Mathematik«) jeder Bezeichnungslogik, ja der Mathematik selbst entzieht. Die Eins steht demnach nicht mehr für eine Quantität, sondern für eine Anwesenheit, die Null für eine Abwesenheit (von etwas, was immer es sei). Hier liegt die eigentliche Revolution: Booles binäre Logik löst sich von der Mathematik, ja, von der materiellen Qualität dessen, was sie abbildet. Weil sie zwischen dem Universum und dem Nichts oszilliert,