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Über dem Luftmeer: Vom Unbehagen in der Moderne
Über dem Luftmeer: Vom Unbehagen in der Moderne
Über dem Luftmeer: Vom Unbehagen in der Moderne
eBook256 Seiten3 Stunden

Über dem Luftmeer: Vom Unbehagen in der Moderne

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Über dieses E-Book

Was genau ist es, was die Moderne ausmacht: die Trennung von Natur und Kultur in den sich herausbildenden Wissenschaften, die politischen und sozialen Errungenschaften der Aufklärung oder doch deren Ende in der massenhaften industrialisierten Vernichtung von Menschenleben im Nationalsozialismus? Denn spätestens danach schien die Moderne auf jeden Fall verbraucht – und taucht doch jedes Mal aufs Neue wie eine Wiedergängerin, eine Untote in den Debatten der Gegenwart auf. Dass das kein Zufall ist, sondern eine Grundbedingung unseres Daseins, liegt an der Entwicklung der Maschine, die als das Unbewusste, die eigentliche Schöpferin der Moderne zu lesen ist. In einer geschichtenreichen Parallelführung, in der von der Entdeckung des Vakuums, des Galvanismus und von den Geheimnissen des Voodoo Haitis zu lesen ist, in der das Panoptikum von Jeremy Bentham, die Babbage-Maschine und Mary Shelleys Frankenstein ihre Auftritte haben, zeigt sich das Bild einer Moderne, die im Verhältnis des Menschen zu sich selbst begründet liegt – als eine Draufsicht von außen, die unser Selbstbild steuert wie ein Rechenprogramm. Dieses zutiefst erschütternde Verhältnis des Menschen zu sich selbst wäre ohne die Maschine nicht möglich, es zu ergründen ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2023
ISBN9783751803991
Über dem Luftmeer: Vom Unbehagen in der Moderne
Autor

Martin Burckhardt

Martin Burckhardt, 1957 in Fulda geboren, ist Audiokünstler, Kulturtheoretiker und Dozent. Er verfasste diverse technikphilosophische Bücher zur Genealogie der Maschine. Burckhardt lebt und arbeitet in Berlin.

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    Buchvorschau

    Über dem Luftmeer - Martin Burckhardt

    MARTIN BURCKHARDT

    Über dem Luftmeer

    Vom Unbehagen in der Moderne

    Psychologie der Maschine I

    Inhalt

    Einleitung

    Am Nullpunkt

    Geistesdiätetik

    Vom Geist des Kapitalismus

    Von den Grenzen der Vernunft

    Kopflos

    Zwischenspiel mit Zombies

    Fernbedienung

    Geburt eines Monsters

    Der Mann in der Menge

    Perverse Moderne

    Im luftleeren Raum

    Anmerkungen

    Einleitung

    Denken Sie sich die Luft weg.

    GALILEO GALILEI, Dialog über die beiden

    hauptsächlichsten Weltsysteme

    Wenn Totgesagte länger leben, so deswegen, weil die Rede über die Welt nicht mit der Welt deckungsgleich sein muss, ja weil das Totsagen, wie der Traum auch, eine Form des Wunschdenkens ist. Sigmund Freud hat diesen Zusammenhang auf überaus lakonische Weise festgehalten: Habe sich nach seinen Vorträgen ein Schweigen eingestellt, als habe er an den »Schlaf der Welt« gerührt, habe man später die Ausbreitung des psychoanalytischen Denkens nach Leibeskräften negiert – was Freud als Zeichen zunehmender Vitalität verzeichnete: »Totgesagt war doch ein Fortschritt gegen Totgeschwiegen!«¹

    Dieser Logik zufolge wäre auch die totgesagte, ins Postmoderne hinübergerutschte Moderne vitaler denn je. Denn wie häufig ist schon ihr Ende ausgerufen worden! Bereits im Jahr 1944 schrieben Adorno und Horkheimer, in der Antizipation des Atompilzes, die folgende Zeile: »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«² Waren mit der Atomspaltung Religion und materielle Welt zertrümmert, so war mit dem Holocaust auch der Glaube an die Menschheit Geschichte, mehr noch: das Vertrauen in jeglichen Fortschritt verloren. Mit dem Sturz in die Nachgeschichte erscheint die Moderne als eine Art Schattenreich.³ Trotzdem sollte das Vertrauen in die Moderne in der Nachkriegszeit einen überraschenden Aufschwung erleben – eine Zeit des Atemholens zumindest. Im Laufe der Sechziger- und Siebzigerjahre jedoch wurden Stimmen laut, die mit dem Übergang in die postindustrielle und postmaterialistisch atomisierte Gesellschaft das Thema erneut aufgriffen.⁴

    In Anbetracht dieser Vorgeschichte ist Lyotards Diagnose vom Ende der großen Erzählungen keine einschneidende Geste, vielmehr eine Rede am offenen Grab. Zwar ist seit der Ausrufung der Postmoderne bald ein halbes Jahrhundert vergangen, jedoch ist nicht einmal in Ansätzen sichtbar, was der Moderne nachfolgen könnte. Es scheint, als ob der Moderne das Schicksal eines Serienhelden bevorsteht, der, kaum dass man ihn glücklich aus der Welt rauskatapultiert hat, in neuer Gestalt wiederauftreten muss. Und weil diese postheroischen Wiedergänger zunehmend finster ausschauen, drängt sich der Eindruck auf, als stünde man einer Zombiegestalt gegenüber.

    Konnten sich Adorno und Horkheimer noch der Ahnung nahenden Unheils hingeben, beschreibt die Gedankenfigur des Anthropozäns eine Form des Futur II, genauer: eine Zukunft, die längst schon Vergangenheit ist. Dabei wird der erdgeschichtliche Auftritt des Weltzerstörers auf das Jahr 1784 angesetzt und mit der Erfindung der Dampfmaschine verknüpft.⁶ Kippt hier das Unbehagen an der Moderne in eine Form des Millenarismus hinüber, ist diese apokalyptische Geistesaustreibung zu einem regelrechten Schlachtgesang angeschwollen. Gewissermaßen erscheint das System als symbolische Zwangsjacke, die ihre Insassen einhüllt und nicht mehr in die Freiheit entlassen will. Als hätte sich das helle Licht der Aufklärung in eine schwarze Sonne, eine menschengemachte Finsternis verwandelt, erhebt das Monster einer weltlichen Apokalypse sein Haupt.

    Das Gefühl, in einer Untergangskultur zu leben, ist so groß, dass fast alle gegenwärtigen Zeitstrebungen mit dem Präfix des Post- ausgestattet werden. Konnte der Postmaterialismus, von der Digitalisierung befördert, der Angestelltenkultur noch ein papierloses Büro in Aussicht stellen, lässt die postnationale, postdemokratische, postfaktische Trias keinen Zweifel daran, dass das moderne Selbstverständnis in einen Dämmerzustand, ja eine tiefe Depression verfallen ist. Weil das eigene Haus, wie in dem Film The Omega Man, von eine Zombiearmee belagert scheint, hat die zurückgebliebenen Einwohner das übermächtige Gefühl der Oikophobie⁷ erfasst. Es scheint nur mehr darum zu gehen, die passende Exit-Strategie zu finden. Aber da jeder Ausweg verstellt scheint, bleibt als einziger Fluchtweg die Apokalypse. Wenn es einfacher ist, »sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«,⁸ geht mit diesem Offenbarungseid der Einbildungskraft das bittere Eingeständnis einher: So wenig Zukunft war nie!

    In schärfstem Kontrast zu den Untergangsfantasien, die seit den Siebzigerjahren die Köpfe beherrschen, steht der Umstand, dass die Moderne, als technologische Entwicklung begriffen, sich nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen anmerken lässt – ja dass sie sich auf eine Weise entfesselt, welche noch ihre leidenschaftlichsten Apologeten in Staunen versetzt hätte. Denn während sich im Psychologischen eine Zukunftsverzagtheit hat herausbilden können, erlebt die Gesellschaft technologisch eine grundstürzende Modernisierung. Ist das 19. Jahrhundert mit Eisenbahn und Telegrafie in den Geschwindigkeitsraum der Moderne eingetreten,⁹ hat die Digitalisierung die Welt in den Zustand des Instant Karma überführt: in das anything, anytime, anywhere der globalen Echtzeitkommunikation. Von daher ließe sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Moderne nicht vorüber ist, im Gegenteil, dass sie erst im Begriff ist, hochzufahren und zu ihrer Betriebstemperatur zu finden. Die Frage stellt sich: Wie konnte man sich zu der verwegenen Behauptung versteigen, dass die Moderne vorüber ist? Und: Wäre es möglich, dass dieses Totsagen nichts anderes ist als der Beweis unerschütterlicher Vitalität?

    Die einzig plausible Antwort auf diese Fragen besteht in der Hypothese, dass die großen Erzählungen, die man sich über die Moderne erzählt hat, die falschen gewesen sein müssen, ja dass sich die Moderne auf denkwürdige Weise selbst missverstanden hat. Man könnte sogar einen Schritt weiter gehen und die Frage stellen, ob dieses Verkennen nicht ein verlässlicher Begleiter der Moderne ist, ihre Zwillingsgestalt geradezu. Bezeichnenderweise ist nämlich das Schreckbild der triumphierenden Moderne (in Form der Digitalisierung) keineswegs ein Produkt unserer Zeit, sondern nimmt seinen Ausgang bereits im 17., machtvoller noch im 18. Jahrhundert.¹⁰ Offenbar ist im Bauch der Moderne ein Monster herangereift, ein gesellschaftliches Unbewusstes, das sich peu à peu den Lebensverhältnissen eingeschrieben, das Denken formatiert und die Verhältnisse, im Wortsinn, auf den Kopf gestellt hat. Dass man ernsthaft von einem Digital Native sprechen kann, ist das Resultat dieses Wandels, ebenso wie es Ausdruck einer Begriffslosigkeit ist, wenn nicht gar einer flagranten Illiteralität. Denn wenn dieser Geisteskontinent nicht ebenso unversehens, wie die Insel Atlantis versunken ist, aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht sein sollte, woher kommt er dann? Und worin bestehen seine geistigen Wurzeln?

    Insofern diese Fragen weitgehend unbeantwortet geblieben sind, tut sich eine Leerstelle auf: die große Erzählung, die nicht erzählt worden ist. Tatsächlich überträgt sich das Paradox des totgesagten, gleichwohl quicklebendigen Monsters auch auf das Verhalten der Menschen. Denn die Bewohner dieses Kontinents, die sich als konsumistische Internationale aller digitalen Segnungen erfreuen, sind vor allem darauf erpicht, sich ihre Zumutungen vom Leib zu halten – dort jedenfalls, wo sie mit Kosten und Mühen verbunden sind. Folglich nehmen sie, wie die Apokalyptiker, Zuflucht zu einer Strategie des katechon, und diese gebärdet sich, je nachdem, als Entschleunigungs- oder als Entgiftungsmaßnahme: digital detox. Ex negativo ist damit das moderne Gesellschaftstriebwerk benannt. Und wie Freud uns gelehrt hat, ist das Totsagen ein Fortschritt. Die Welt scheint aus ihrem Schlaf aufgeschreckt.

    Ist von einem Unbehagen in der Moderne die Rede, ist die Erinnerung an Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur nicht fern – und diese Doppelbelichtung wiederum gibt Anlass, das Verbindende wie das Trennende deutlich zu machen. Der Grundkonflikt, den Freud in diesem Werk zeichnet, läuft zwischen Trieb und Kultur – und das Unbehagen, das Freud zufolge den Zivilisierten ergreift, hat damit zu tun, dass der Kultivierungsprozess mit einem Triebverzicht, ja einer Form der Kulturversagung einhergeht.¹¹ Aus der Freud’schen Warte betrachtet, kann jede Kultur nur ein Schattenreich ursprünglicher, mächtiger Strebungen sein, eine platonische Höhe, die ihren Insassen bloß das Schattenspiel jener schwarzen Sonne zuteilwerden lässt, die am Anfang allen Gesellschaftslebens steht: der Libido.¹²

    Insofern diese Gedankenlinie eine unwandelbare, dunkle und per se ahistorische Triebstruktur voraussetzt, ist Freuds psychischer Apparat, seinem Namen zum Trotz, keine kulturelle Errungenschaft, sondern ein Residual der Urzeit. Und in dieser Dunkelzone wiederum tobt sich aus, was Freud die Urhorde in uns getauft hat. In Anbetracht dieser Tatsache läuft der Umstand, dass Freud mit dem Apparate-Begriff eine technische Konnotation durchklingen lässt, nachgerade auf eine Irreführung hinaus. Denn hier werden Apparat und Unbewusstes, Maschine und Natur als ein und dasselbe gedacht. Zudem widerspricht diese Gleichsetzung der Vorgeschichte des Apparates, den Freud als neuronale, elektromagnetische Maschine konzipiert hat – weswegen Begriffe wie libidinöse Ladung, Affektentladung etc. einen selbstverständlichen Platz in seinem Denken besitzen, während die Urhorde, ebenso wie die Urszenen, diesen Apparat erst in einem relativ späten Stadium besiedeln.¹³

    Diese Vorgeschichte, die man ebenso gut als ein Unbewusstes des Unbewussten auffassen kann, wird uns im Folgenden noch häufiger beschäftigen – und sie wird auf eine Gedankenfigur hinweisen, mit der ein anderes, sehr viel geschichtsmächtigeres Modell des Unbewussten verknüpft ist: das Gesellschaftstriebwerk. Schon der Name verrät, dass man es mit einem kollektiven Unbewussten zu tun hat. Das unterscheidet es vom psychischen Apparat Freud’scher Prägung, der von dezidiert individualpsychologischem Zuschnitt ist. Freud trägt dem in der Wortprägung des Über-Ich Rechnung. Diese ist, was wenig bekannt ist, die Umformulierung eines Konzeptes, das erstmals in Heinroths Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlungen von 1818 erscheint, hier aber den Namen des »Über-Uns« trägt.¹⁴ Freud übernimmt das Konzept, aber verengt es auf den Einzelnen. Damit wird das kollektive Unbewusste privatisiert und der psychische Apparat erfolgreich in der bürgerlichen Welt angesiedelt. Und genau darin liegt auch seine erkenntnistheoretische Grenze, das Problem, das die Psychoanalyse mit der Moderne hat.

    Es ist also nichts Geringeres als der psychische Apparat selbst, welcher der Erkenntnis dieses modernen Gesellschaftstriebwerks im Weg steht. Zwar konzediert Freud, dass der Mensch durch die Technik zu einem Prothesengott geworden sei, ja ein geradezu märchenhaftes Vermögen erworben habe – gleichwohl kommt Freud aber immer wieder auf den alten Adam zurück.¹⁵ Demgegenüber zeigt schon die Begriffsprägung des Gesellschaftstriebwerks die Richtung an, in die die Kritik geht. Denn der Trieb, der zum Triebwerk wird, lässt die Vorstellung einer unwandelbaren Libido hinter sich.¹⁶ Stattdessen tut sich der fremde Kontinent eines historischen Unbewussten auf, welches die Triebstruktur modifiziert – und auf diese Weise nie zuvor da gewesene, moderne Begierden ins Spiel bringt. Damit aber verschiebt sich der Schwerpunkt.

    Denn während die klassische Psychoanalyse auf die immer wiederkehrenden Urszenen zurückkommt (Ödipus, den Vatermord etc.), verlangt das Gesellschaftstriebwerk, dass man sich mit dem je gegebenen historischen Triebwerk, und damit auch dem psychischen Treibstoff einer Epoche, auseinandersetzen muss. Das setzt voraus, dass man die Grenzen der Individualpsychologie überschreiten muss. Nur so kann sich der Blick auf jenes kollektive Unbewusste öffnen, das die Mentalität einer Epoche bestimmt. Genau das ist mit dem Begriff des Gesellschaftstriebwerks gemeint. Wir können es uns als einen kollektiven psychischen Apparat denken, der sich nicht mehr im Innenleben der Menschen befindet, sondern in die Realität ausgelagert worden ist: in ihre Werkzeuge, Institutionen, Diskurse. Man könnte – was vor dem Prospekt der Guillotine durchaus eine Sinnfälligkeit besitzt – von einem kopflosen Unbewussten sprechen, das heißt einer Kraft, die sich im Raum zwischen den Menschen artikuliert.

    Schon der Begriff des Interesses, der als inter-est im Angelsächsischen für das zinsheckende Geld steht, verortet diesen Gedanken in der uns vertrauten Umgebung: dem modernen Kapitalismus. Diese Verortung unterscheidet das Gesellschaftstriebwerk auch vom kollektiven Unbewussten Jung’scher Prägung. Denn insofern dieses in die Welt der Mythen und Märchen hineinreicht – und mit seinen Archetypen die Problematik des Immer-schon esoterisch verkleidet¹⁷ –, gelingt es Jung, die Historizität der Psyche aus dem Blick zu verbannen. Der Kunstgriff besteht, wie im Fall Freuds, in einer psychologia perennis: einem psychologischen Grundverständnis, das die Gegenwart als Verkleidung uralter, immerwährender Problemstellungen begreift.

    Demgegenüber stellt das Gesellschaftstriebwerk einen in die Wirklichkeit ausgelagerten, zugleich historischen apparatus communitatis dar – ein Phänomen, dem die Humanwissenschaften mit Verlegenheitsbegriffen wie Zeitgeist oder Mentalität begegnet sind. Dieser Apparat kann, obzwar allgegenwärtig und tagtäglich bearbeitet, zu großen Teilen unbewusst wirken. Man muss nicht lange suchen, um sich von der Gültigkeit dieser Aussage zu überzeugen. Schon ein Geldschein reicht aus, um zu sehen, wie sich ein abstraktes Zeichen der Psyche eines Menschen bemächtigt; das gilt nicht minder für jene sozialen Zauberwirkungen, die wir den Monstern unserer Vernunft, den Maschinen und Künstlichen Intelligenzen, angehängt haben. Das Gesellschaftstriebwerk setzt sich als Introjekt in das Denken der Menschen hinein – vor allem aber strukturiert es die Art und Weise ihres Begehrens. Folglich verwundern wir uns nicht weiter, wenn wir von einem Menschen hören, der sich einer Schönheitsoperation unterzieht, um endlich dem eigenen Profilbild ähnlich zu sehen. Erinnern wir uns daran, dass Freud den Zivilisationsprozess weitgehend als Kulturversagung auffasst – das heißt: als homöopathische Verdünnung einer ursprünglich übermächtigen Libido –, kommen mit den künstlichen Paradiesen der Moderne auch neuartige Gelüste ins Spiel.

    Auf die gleiche Weise, wie wir von einem Biotop sprechen, könnte man demgemäß von einem Psychotop der Moderne sprechen – einem geistigen Raum, der auf die Individuen zurückwirkt und damit eine psychotrope, also bewusstseinsverändernde Größe darstellt. An diesem Punkt wäre die Frage zu stellen, inwieweit das Psychotop überhaupt eine Einheit vorzuweisen hätte – oder ob man es nicht mit einem Komplex zu tun hat, der sich nur in bildlicher Form als Einheit fassen lässt. Wir begegnen hier dem Dilemma aller Soziologie, die, wann immer sie mit der Problematik des Gesellschaftsganzen konfrontiert wird, sich in allerlei Hilfsbegriffe hineinflüchtet. So spricht man, je nachdem, vom Gesellschaftssystem – und assoziiert diesem eine Maschine oder einen Apparat, allerdings nur, um im gleichen Atemzug darauf zu insistieren, dass man das lediglich im metaphorischen Sinn tue, wie man etwa von einer machina mundi redet.

    Aber auch das uneigentliche Sprechen bringt, mit der Wahl der Metapher, einen Realitätsbezug auf den Tisch – und damit: das Problem der Geschichte. Redet man beispielsweise davon, dass die Welt ein großes Räderwerk, ärger noch: eine Mühle sei, würde jeder aufgeweckte Student einwenden, dass das mechanische Zeitalter vorüber ist. In Anbetracht dieses Metaphernproblems ist es sehr viel eleganter, wenn man dem Freud’schen Vorbild folgend das System zu verewigen weiß – etwa dadurch, dass man es in einen übergeschichtlichen Rahmen verpflanzt. So hat Niklas Luhmann die der Biologie Maturanas entlehnte Formel vom autopoietischen System auf die Gesellschaft übertragen – und mit dieser biologisch-evolutionären Logik das Problem der konkreten Historizität abgestreift.¹⁸ Eine andere, nicht minder erfolgreiche Verleugnungstechnik besteht darin, dass man den Gesellschaftsbegriff versprachlicht: Das Begehren schreibt den Text, wie Roland Barthes formuliert hat. Das ist der Kunstgriff Foucaults, der eine alte rhetorische Technik aufgreift, das »Dispositiv«, um die Gesellschaft als écriture mecanique zu charakterisieren: einen sich selbst schreibenden Text, der vor allem die gesellschaftliche Macht-Batterie paraphrasiert, organisiert und verwaltet.¹⁹

    Inwiefern nun unterscheidet sich das Gesellschaftstriebwerk von diesen Gesellschaftsmetaphern? Handelt es sich ebenfalls nur um eine Metapher – oder besitzt das Gesellschaftstriebwerk umgekehrt eine dingliche Kraft? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf das Konzept der universalen Maschine rekurrieren, das seit den Metamorphosen von Raum und Zeit ein Leitmotiv meines Denkens ist. Ausgangspunkt dieser Gedankenfigur war eine Frage, die in ihrer Schlichtheit einer Kinderfrage gleichkommt: Was ist ein Computer? Versucht man den Werkzeugcharakter eines Computers zu fassen, ist man mit der Verlegenheit konfrontiert, dass seine Zwecke unabschließbar sind, ja dass man es weniger mit einem Werkzeug als vielmehr mit einer Werkstatt zu tun hat, der alle erdenklichen Werkzeuge entspringen können – auch solche, die noch nicht einmal ersonnen sind. Die universale Maschine wirkt also morphogenetisch – das heißt: Sie erzeugt Formen nach ihrem Bild.²⁰ Folglich skandiert jedes Stück Software, auch wenn es im Detail neu und unerhört sein mag, die Logik der Null und der Eins – und reiht sich auf diese Weise in eine gedankliche Kette ein. In diesem Sinn scheint in jedem Werkzeug, der forma formata, die formgebende Form, die forma formans, auf.²¹

    Genau dieser nicht versiegenden Schöpfungskraft wegen kann das Verhältnis, das die Gesellschaft zu einem solchen Triebwerk entwickelt, eine libidinöse Aufladung erhalten. Die universale Maschine erscheint als magischer Spiegel, der einerseits das Gegebene auf den Begriff bringt, andererseits die Zukunft vorherzusagen vermag. Folglich spricht man der Maschine eine künstliche Intelligenz zu, die über den Kopf des Einzelnen deutlich hinausgeht – und macht sie solcherart zu einem kollektiven Phantasma, das die Position eines Gottes besetzt. Insofern wohnt dem Gesellschaftstriebwerk ein Doppelcharakter inne. Zum einen stellt es, in Gestalt der universalen Maschine, ein reales, wirkmächtiges Gesellschaftstriebwerk dar – zum anderen tritt es, als Verheißung der Zukunft, als transzendente Batterie in Erscheinung. Schon deswegen greift man zu kurz, wenn man sich lediglich mit der Gesellschaftsmetapher bescheidet. Denn wenn der Maschine eine phantasmatische Aufladung zuteilwird, ja wenn die Maschine als gesellschaftsüberwölbende Größe erscheint – als apparatus communitatis, als Über-Uns –, so besagt das umgekehrt, dass das Gesellschaftstriebwerk nicht bloß auf eine Positivität verweist, also das, was wir üblicherweise »Realität« nennen, sondern eine psychische Realität darstellt: das, was ich ein Psychotop nenne.

    Das Psychotop, das sich mit dem neuen, digitalen Gesellschaftstriebwerk einstellt, lässt sich nicht als etwas Immer-schon-Dagewesenes begreifen, sondern verändert, mit der conditio humana, auch das Begehren. Charles Baudelaire hat diese Einsicht seiner Widmung zu Die künstlichen Paradiese vorangestellt, das sich vor allem mit der Wirkung von Haschisch und Opium beschäftigt: »Liebe Freundin, der gemeine Verstand sagt uns, dass die Dinge der Erde nur wenig Dasein haben, und dass es Wirklichkeit nur in den Träumen gibt.«²² Anders gesagt: Realität konstituiert sich über die Träume, denen eine Gesellschaft nachhängt und zu deren Realisierung sie sich symbolischer Formen bedient. Demgemäß ließe sich das Gesellschaftstriebwerk, in einem buchstäblichen Sinn, als Traumfabrik auffassen.

    Ein advocatus diaboli könnte an dieser Stelle einwenden, dass der Begriff des Gesellschaftstriebwerks ebenso gut durch den Begriff der Kultur ersetzt werden könnte. Darauf wäre zu entgegnen, dass ein Kulturbegriff, der der Logik des Ackerbaus entspringt, also den Dingen der Erde, die Gedanken auf eine falsche Fährte führt, ja, sie stumpfsinnig die immergleiche Ackerfurche entlangtrotten lässt.²³ Warum? Weil die diesseitigen Artefakte sich nicht der cultura, sondern einem Denken verdanken, das der

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