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Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität: Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus
Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität: Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus
Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität: Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus
eBook708 Seiten8 Stunden

Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität: Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus

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Über dieses E-Book

Die Entfremdung des Menschen von seinen Gefühlen lässt sich bis zum Beginn der Neuzeit zurückverfolgen; sie hat aber nach und infolge von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg durch die transgenerationale Weitergabe der Traumata und durch die ökonomische Entwicklung eine Dynamisierung erfahren und wird absehbar mit der Künstlichen Intelligenz im Digitalen Kapitalismus eine neue Qualität erreichen. Lässt sich der allgegenwärtigen Verblendung, dem "Kapitalistischen Realismus" (Mark Fisher), dem Weiter-so auf dem scheinbar alternativlosen Weg bis zum Abgrund überhaupt noch ideologiekritisch entgegenwirken?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. März 2024
ISBN9783758347832
Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität: Band 1: Individuum und Gesellschaft im Fordismus
Autor

Uli Gierschner

Uli Gierschner, geboren 1959, ist Mitbegründer von attac Schwäbisch Hall und Gymnasiallehrer für Psychologie, Geschichte und ev. Religion im (Un-)Ruhestand und veröffentlichte während der Warnkatastrophe der Pandemie 2019 auf den "Nachdenkseiten" "Digitalisierung first - nachdenken später? Eine Streitschrift für eine humane Schule".

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    Buchvorschau

    Ein Jenseits der Verblendung? Eine Geschichte des Wahnsinns der Normalität - Uli Gierschner

    Für meine ehemaligen Schülerinnen und Schüler

    „´Schließlich ist es nicht der Holocaust, dessen Monstrosität wir nicht zu begreifen vermögen, es ist die westliche Zivilisation überhaupt, die uns seit dem Holocaust fremd geworden ist – und das zu einem Zeitpunkt, als sicher schien, dass sie beherrschbar, dass ihre innersten Mechanismen und ihr gesamtes Potential durchschaubar seien; zu diesem Zeitpunkt, als diese Zivilisation einen weltweiten Siegeszug antrat. ` (Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, S. 98f.- U.G. )

    Wenn unsere Zivilisation hier angesprochen wird als zutiefst problematisch geworden, dann betrifft das die Grundlagen unseres Denkens und Handelns, dann betrifft das unsere Normalität."

    (Jürgen Müller-Hohagen)

    Inhaltsverzeichnis

    1 Statt eines Vorwortes: Lassen wir ein Gleichnis sprechen

    2 Der Mensch zwischen Verblendungszusammenhang und der Suche nach Wahrheit – Die Erkenntnisinteressen

    3 Im Diesseits der Verblendung

    3.1 Die Aporie der totalen Entfremdung?

    3.1.1 Das wechselseitige Geworden-Sein von Individuum und Gesellschaft

    3.1.2 Ein kurzer Abriss der Großen Spaltung

    3.1.3 Entfremdung und Ideologie: Kapitalismus als Religion

    3.1.4 Die Ideologie der Spaltung: Die Herrschaft des Geldes

    3.1.5 Kann eine Gesellschaft krank sein? – Die Pathologie der Normalität

    3.2 Zum Menschenbild

    3.2.1 Das Menschenbild Erich Fromms

    3.2.2 Erkenntnisse der Neurobiologie

    3.2.3 Homo cooperativus bzw. homo heteronomis versus homo oeconomis

    3.2.4 Schlussfolgerungen

    3.2.5 Der Korrumpierungseffekt

    3.2.6 Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

    3.2.7 Entfremdung und Resonanz

    3.2.8 Ursachen der basalen Entfremdung des Kleinkindes vom eigenen Selbst aus psychoanalytischer Perspektive

    3.2.9 Die schizoide Position als Konkretion der basalen Entfremdung – Folge des Nationalsozialismus und Basis des Marketing-Charakters

    3.2.10 Der heuristische Wert von Riemanns „Grundformen der Angst" für die Analyse von Kulturen

    3.3 Die Vergangenheit in der Gegenwart

    3.3.1 Trauma und Persönlichkeitsstörung

    3.3.2 Johanna Haarer und die Folgen

    3.3.3 Transgenerationale Traumatavererbung

    3.4 Kapitalismus und Individuum in der Nachkriegszeit

    3.4.1 Metamorphose des Kapitalismus - Die fordistische Periode

    3.4.2 Die Ambiguität des Rheinischen Kapitalismus aus psychoanalytischer Perspektive

    3.4.3 Marketing-Charakter und Sprache

    Literatur

    Internetquellen

    1 Statt eines Vorwortes:

    Lassen wir ein Gleichnis sprechen

    Hartmut Rosa hat vor Jahr und Tag unsere Situation mit einem Gleichnis illustriert:

    „Stellen wir uns einmal vor, ein Raumschiff voll neugieriger Aliens überflöge die Erde. Da sie die Relativität der kosmischen Zeit ausnützten, könnten sie die verschiedenen Kulturen und Lebensformen, die diese Erde in den letzten Jahrtausenden bevölkert haben, nacheinander in den Blick nehmen. Sie flögen dabei von einer Kulturgemeinschaft oder Lebensform zur nächsten, von ´Lebensinsel zu Lebensinsel`.

    Das wäre ein interessantes Schauspiel. Sie bekämen Lebensformen zu sehen, die bitterarm sind und einen unbarmherzigen Kampf ums nackte Überleben führen. Andere hätten vielleicht Nahrung und Behausung im Überfluss, verfügten aber (gerade deswegen?) kaum über technische oder kulturelle Errungenschaften. Wieder andere hätten gegen schreckliche Krankheiten zu kämpfen. Oder gegen übermächtige äußere Feinde. Manche wären auch von inneren Konflikten und vielleicht Bürgerkriegen gekennzeichnet.

    Auf fast allen Inseln, so steht zu vermuten, gäbe es identifizierbare Quellen menschlichen und sozialen Leidens, unter denen der Mangel an individueller Handlungs- und Entscheidungsfreiheit nicht die geringste wäre.

    Nehmen wir weiter an, auch unsere spätmoderne westliche Lebensform wäre eine solche Insel, über die die Aliens staunend hinweg flögen. Hier gerieten sie ins Grübeln: Die Menschen sehen unglücklich aus. Sie wirken gehetzt. 25 Prozent von ihnen haben die absoluten Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit erreicht. Praktisch alle klagen über Stress und Zeitnot. Depressionserkrankungen als Reaktion auf Überforderungsgefühle nehmen zu.

    Dabei verkünden ihre Führer, die goldenen Zeiten seien vorbei – der Wettbewerb müsse härter werden, viele materielle, kulturelle und soziale Errungenschaften der Vergangenheit könne man sich nicht mehr leisten.

    Da es sich zweifellos um eine sehr entwickelte Kulturform handelt, würden die Aliens vielleicht versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Worunter die Menschen denn so litten? ´Wir haben keine Arbeit` oder ´Wir haben Angst, die Arbeit zu verlieren` wäre gewiss eine häufige Antwort.

    Ihr habt keine Arbeit?! Die Aliens wären verwirrt: Wenn die da unten keine anderen Sorgen haben … Vielleicht ist ihnen den ganzen Tag langweilig, weil es nichts zu tun gibt? Doch nein: Unsere Wirtschaft muss um jeden Preis wachsen, würden sie von den Führern jener Gruppen, die ´Parteien` heißen und die Meinungsführerschaft innehaben, zu hören kriegen.

    Das verstünden die Aliens. Ihr meint, eure Wirtschaft muss wachsen, weil ihr nicht genug Nahrung, Häuser, Autos, Computer, Fernseher oder Bücher habt?! Nein, nein, bekämen sie zur Antwort. Die Wirtschaft muss wachsen, weil wir sonst keine Arbeit haben. Das Problem ist, dass wir mehr produzieren müssen, und zwar mit weniger Leuten, obwohl wir schon alles haben, was wir brauchen. Weil wir sonst keine Arbeit mehr haben. Arbeit gäbe es eigentlich genug – wir müssten dringend unsere Straßen reparieren, unsere Umwelt pflegen, unsere Alten und Kranken angemessen versorgen –, aber wir können uns das alles nicht mehr leisten, weil die anderen Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, sich dies auch nicht mehr leisten. Versteht ihr das nicht?! Aber die Aliens verstünden nicht. Also, würde ihr Chefanalytiker anheben, ihr wollt uns sagen, dass ihr alle Maschinen der Welt habt, um alle eure materiellen Probleme zu lösen, dass ihr keine tödlichen Krankheiten, keine nennenswerten Kriege und genug intellektuelles Potenzial habt, um eure materielle und kulturelle Reproduktion spielend aufrechtzuerhalten, dass ihr gesunde Mitbürger habt, die jene Maschinen bedienen und alle Arbeit nicht nur erledigen können, sondern auch wollen, dass ihr aber schrecklich und immer stärker leidet, weil ihr nicht in der Lage seid, Arbeit und Güter zu verteilen? So ist es!, würden wir antworten.

    Die Aliens würden uns auslachen: Dann ändert doch euer System! Wir aber würden aufheulen: Das geht nicht! TINA! There Is No Alternative! hat schon Margaret Thatcher gewusst. Alle Länder der Erde, von zwei kleinen, inselartigen Gebilden abgesehen, denen es noch schlechter geht als uns, haben es eingesehen, alle Universitäten, alle Zeitungen und Fernsehsender, alle Wirtschaftsexperten predigen es: Die Wirtschaft muss wachsen, es gibt keine Alternative!

    Wann, würden die Aliens entgeistert fragen, ist eure Wirtschaft leistungsfähig genug, dass sie aufhören kann zu wachsen; wann ist der Wettbewerb so hart, dass ihr es zufrieden seid und euch anderen Dingen des Lebens zuwenden könnt? Kleinlaut müssten wir eingestehen: Einen solchen Endpunkt gibt es nicht. Die Wirtschaft wird immer weiterwachsen, als Selbstzweck, nicht um ein großes Ziel zu verwirklichen. Bis in alle Ewigkeit. Fredric Jameson, kein Alien, sondern amerikanischer Literaturwissenschaftler, bemerkt, das Erstaunlichste an unserem Zeitalter sei es, dass wir uns wesentlich leichter das Ende der Welt ausmalen könnten als eine Alternative zum herrschenden wirtschaftlichen und politischen System. Das Einzige, was uns als Gegenmodell einfällt, ist die stalinistische Planwirtschaft. Und die wollen wir nicht.

    Jetzt würden die Aliens nicht mehr lachen. Sie würden den Kopf schütteln und davonfliegen. Denen ist nicht mehr zu helfen. Die sind übergeschnappt. Kollektiver Wahnsinn …".¹


    ¹ Rosa, Hartmut (2005), „TINA und die Aliens", S. 2.

    2 Der Mensch zwischen Verblendungszusammenhang und der Suche nach Wahrheit

    – Die Erkenntnisinteressen

    „SPIEGEL: Herr Professor, vor zwei Wochen

    schien die Welt noch in Ordnung …

    Adorno: Mir nicht."

    (Theodor W. Adorno im Spiegel-Interview, 4. Mai 1969) ²

    Wenn man den gegenwärtigen Angriff der Algorithmen (Cathy O`Neil) im Zuge der Digitalisierung aller Lebensbereich wahrnimmt, so kann sich die Assoziation einstellen, dass wir in der Gegenwart den Film vor Augen geführt bekommen, zu dem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung 1947 das „Drehbuch" geschrieben haben.

    Wie Aufklärung in Mythos und Unterdrückung umschlagen konnte haben Horkheimer und Adorno in jenem während des Nationalsozialismus geschriebenen Buch beschrieben. Die Grundthese lautete: Die Barbarei der Gegenwart war kein Zufall, Herrschaft und Unterdrückung sowie der Hang in das eigene Gegenteil umzuschlagen, war Vernunft und Aufklärung schon vom Ursprung her eigen. Diese Dialektik nachzuzeichnen, die Ambivalenz der Rationalität gleichsam entwicklungsgeschichtlich darzustellen, bemühte sich die Abhandlung. Aufklärung und Vernunft haben den Menschen vom irrationalen Mythos frei gemacht, auf den Weg von kollektiven Massenwesen zu selbstbewussten Individuen gebracht, doch eben jene Vernunft hat sie zu Schräubchen im rationalen Apparat der Gesellschaft gemacht. Und als Rädchen im Getriebe sind sie nicht mehr offen für das, was über das wissenschaftlich-technische Funktionieren hinausgeht:

    „Je komplizierter und feiner die gesellschaftliche, ökonomische und wissenschaftliche Apparatur, auf deren Bedienung das Produktionssystem den Leib längst abgestimmt hat, um so verarmter die Erlebnisse, deren er [der Mensch] fähig ist. Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitswelten auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der Lurche an. Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung, in der zwanghaft gelenkten Kollektivität. Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewußten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen. Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung ihm zu entgehen, sich schließlich wandelt." ³

    Vernunft geht immer auf das Allgemeine. Das Einzelne, nicht bezifferbare, errechenbare wird systematisch missachtet. So wird das Individuelle letztlich ausgelöscht. Vom mythischen und naturwüchsigen Schicksal befreit, unterwerfen wir uns wieder ohne klares Bewusstsein einem menschengemachten Schicksal des modernen, alle Lebensbereiche unter das Joch des Funktionierens zwingenden Systems. Das gesellschaftliche System und seine Rationalität dringen bis in die privatesten Bereiche vor, der Mensch wird dem System angepasst und sich selbst entfremdet. Er wird so machtvoll in das System integriert, das ihm die gedankliche Überschreitung des status quo gar nicht mehr möglich ist. Kulturindustrie in Gestalt manipulativer Massenmedien als totales, homogenes System der Manipulation zerstört den letzten Rest der in der Kultur vorhandenen, von Nützlichkeit, von Zweckrationalität Freien, verhindert Reflexion und Autonomie – so Adorno und Horkheimer.

    Im Zeitalter des Internets und der Monopolkonzerne hat das Immergleiche, von dem Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung schreiben, eine neue Qualität bekommen. Mehr denn je werden kulturelle Angebote von Google und Co. auf den Geschmack jedes einzelnen Menschen zugeschnitten. Die Idee, dass Kultur durchaus auch den eigenen Geschmack aufsprengen sollte, geht – so Stuart Jeffries, Kulturjournalist bei der britischen Zeitung The Guardian – damit verloren. Wir erweitern mit Kultur dann nicht mehr den eigenen Horizont, sondern sind in einer ewigen Feedback-Schleife gefangen.

    Die Verblendung ist so umfassend, dass sie alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst.Verblendung bedeutet nach Horkheimer und Adorno, dass wir so mit Blindheit geschlagen sind, dass wir unsere Unterdrückung als Freiheit empfinden und unserem inhuman gewordenen Dasein sogar die Lust der Illusionen abringen können. Ideologie und Manipulation der Kulturindustrie reduzieren das Individuum nach Adorno und Horkheimer auf austauschbare „Durchschnittsfälle, die sich sämtlich mit den wenigen Gewinnern von lotterieähnlichen „Erfolgen und Karrieresprüngen (Stars) identifizieren und an deren „Glück symbolisch partizipieren, weil sie sämtlich auch die „Glücklichen hätten sein können.⁶

    Wenn der Psychoanalytiker Arno Gruen Jahrzehnte später die falsche Totalität auf den Begriff Wahnsinn der Normalität brachte, so hat Adorno im Schlußteil der Negativen Dialektik analog resümiert:

    „Daß die endliche Welt der unendlichen Qual umfangen sei von einem göttlichen Weltplan, wird für jeden, der nicht die Geschäfte der Welt besorgt, zu jenem Irrsinn, der mit dem positiven Normalbewußtsein sich so gut verträgt."

    Der Normalismus der Nachkriegszeit war für Adorno nichts anderes als die Oberfläche oder der Schleier einer Tiefenstruktur, die in Auschwitz virulent wurde und jederzeit erneut virulent werden konnte. Auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Angriff(s) der Algorithmen (Cathy O`Neil) gilt es diese These nicht vorschnell beiseite zu wischen,⁸ sondern sie in einer operativen Analyse konkreter heutiger Produktionsinstanzen von Normalität⁹ wie der Künstlichen Intelligenz aktuell zu überprüfen.¹⁰

    Der Verblendungszusammenhang hat zur Folge, dass die Entfremdung sich kaum mehr als wahrnehmbares und registriertes Leiden manifestiert, sondern nur noch als existentielle Kälte bemerkbar macht. Kälte, schreibt Adorno in der Negativen Dialektik, sei das Grundprinzip „der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre."¹¹ Und selbst unsere Kritik daran, muss sich der Mittel bedienen, die zur Verblendung führten – also etwa einer Rationalität, die immer nur auf das Allgemeine ging und das Individuelle unterdrückt: „Der Verblendungszusammenhang, der alle Menschen umfängt, hat Teil auch an dem, womit sich den Schleier zu zerreißen wähnen." ¹²

    In Übereinstimmung mit Fromm und Marcuse identifizieren Adorno und Horkheimer in der atomisierenden Beziehungslosigkeit der Subjekte das Kernmerkmal der auf der kapitalistischen Tauschökonomie und der technisch-wissenschaftlichen Rationalität beruhenden instrumentellen Weltbeziehung.¹³ Gesellschaftliche Beziehungen und, mehr noch: alle Beziehungen beruhen, so Adorno, unter den herrschenden Bedingungen „nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung und Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich durchgeschlagen."¹⁴

    Adorno und Horkheimer schrieben dies auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in den USA vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, noch bevor der Fordismus in der Bundesrepublik dann etabliert wurde. Auch der den Fordismus ablösende Neoliberalismus wurde in der Bundesrepublik später als in den USA politökonomisch durchgesetzt.

    Die zentrale Argumentationslinie, die es in dieser Arbeit zu elaborieren und empirisch zu illustrieren und auf diesem Wege zu differenzieren gilt, sei vorab kurz zusammenfassend skizziert: Kapitalistische Politik ist darauf angewiesen, ökonomische, technische und soziale Bewegungen mit der Produktion von Subjektivität zu synchronisieren, dergestalt, dass politische Ökonomie und Subjektivitätsökonomie zusammenfallen: Immer wieder gelingt es dem Kapitalismus, neue Subjektivitäten mit sozioökonomischen Veränderungen zu synchronisieren. Als Motor dieser Anpassung identifizieren Boltanski/Chiapello ausgerechnet die von Adorno und Horkheimer schon in den Fokus genommene Kritik am Kapitalismus. Ihre These: Der Geist des Kapitalismus nutze ironischerweise die Ideen seiner Kritiker, um sich selbst zu erneuern und damit den Kapitalismus zu stabilisieren.¹⁵ Sogar der schärfste und radikalste Antikapitalismus wird so zum Instrument für die Erneuerung des Geists des Kapitalismus. Boltanski/Chiapello unterscheiden dabei zwei grundlegende inhaltliche Ausrichtungen der Kapitalismuskritik. Eine erste kritisiere, dass der Kapitalismus zu Armut sowie sozialer Ungleichheit führe und opportunistisches sowie egoistisches Handeln fördere. Diese Argumentation bezeichnen beide als Sozialkritik. Eine zweite Kritik laute, dass der Kapitalismus autoritäre Unterdrückung und mangelnde Authentizität des Menschen mit sich bringe. Er beschneide Freiheit und Autonomie. Diese Argumentation, die weniger auf materielle als auf ideelle und individuelle Verbesserungen zielt, bezeichnen sie als Künstlerkritik. Im geschichtlichen Rückblick interessieren sich Boltanski/Chiapello nun besonders für jene Phase des Kapitalismus, mit der ab etwa 1970 Globalisierung, Vernetzung, Flexibilität, Projektarbeit, Mobilität und individuelle Selbststeuerung ins Zentrum rückten.¹⁶ Es ist dies die Phase des beginnenden neoliberalen Kapitalismus. Im Nachgang der Studentenrevolten von 1968, so Boltanski/Chiapello, habe ab Mitte der 1970er Jahre die Künstlerkritik gegenüber der Sozialkritik an Bedeutung gewonnen. Ausgangspunkt waren neue linke und alternative Bewegungen. Sie äußerten lautstarke Kritik an Fließbandarbeit, an Bürokratie und an menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen einerseits, ein Interesse an der Arbeitszufriedenheit der Menschen, an Eigenständigkeit und Arbeitsplatz-Autonomie und an Mechanismen der Selbstkontrolle – statt Fremdkontrolle – andererseits. Die Unternehmen waren nach anfänglichen Zögern durchaus geneigt, dieser Kritik nachzugeben: Sie schufen zunehmend Räume der Innovation und der Eigeninitiative, der Flexibilität und der individuellen Autonomie, der Selbstkontrolle und der Eigenverantwortung. Praktischerweise konnten sie sich auf diese Weise zugleich klassischer – teurer – Forderungen der Sozialkritik erwehren, etwa nach Lohnerhöhungen oder kürzeren Arbeitszeiten. Die Menschen verinnerlichten die mit alldem einhergehenden neuen Anforderungen, Werte und Regeln. Kollektive Vertretungsstrukturen wie Gewerkschaften verloren an Bedeutung.¹⁷ Ein ideologisches Fundament für die Neoliberalisierung der Gesellschaft war gegossen. Die Sozialwissenschaftlerin Cornelia Koppetsch hat diese Entwicklung wie folgt beschrieben: „Die einst gegenkulturell formulierten Ideale wie Autonomie, Emanzipation, Eigenverantwortung, Freiheit, Kreativität sind vom kapitalistischen Mainstream vereinnahmt worden."¹⁸

    Dies hat aber auch Auswirkungen auf das Privatleben der Menschen: Prinzipien, Werte und Ziele des Arbeitslebens und des Privatlebens gehen ineinander über. So kommt es, dass sich beispielsweise auch Selbstoptimierung und Selbstdarstellung im Neoliberalismus keineswegs auf das Berufsleben beschränken. Sie greifen vielmehr umfassend auf das Privat- und Alltagsleben der Menschen über. Ja mehr noch: Selbstoptimierung und Selbstdarstellung werden privat wie beruflich zur beständigen Anforderung wie auch zur moralischen Erwartung. Und die Menschen wollen dem gerecht werden. So gilt beispielsweise der menschliche Körper immer mehr als etwas Veränderbares, das der eigenen Selbstdarstellung dient. Er soll durch Fitness, Schönheitsoperationen, gesunde Ernährung, Diäten, Mode und Kosmetik optimiert werden. Selbstdarstellung und Selbstoptimierung stehen zudem auch hinter dem Konsum besonders anerkannter „geschmackvoller" Waren.

    Die sich verändernden Produktionsbedingungen haben seit je her nicht nur unsere Lebensvollzüge verändert, sondern auch unsere Wahrnehmungen und drangen bzw. dringen bis in die Tiefenstruktur unserer Psyche ein. Die Familie, die Schule, die Medien, die Werbung und der Arbeitsplatz sind solche Dispositive der Herstellung spezifischer Subjektivitäten, sodass wir im Einklang mit dem System sind und letztlich zu einer Stabilisierung des Ganzen beitragen.

    Für die meisten Menschen in Europa und Nordamerika, die die fordistische Phase des Kapitalismus nicht erlebt haben, ist der Mangel an Alternativen zum Kapitalismus – wie von Hartmut Rosa in seinem Gleichnis zum Ausdruck gebracht – nicht länger ein Thema.

    „Der Kapitalismus bestimmt nahtlos den Horizont des Denkbaren. Jameson hat in diversen Horrorszenarien beschrieben, wie der Kapitalismus in unser Unbewusstes eindringt. Heute wird die Tatsache, dass er die Träume der Bevölkerung kolonisiert hat, als so selbstverständlich angesehen, dass dies kaum noch eines weiteren Kommentars wert ist. (…) [D]er alte Konflikt zwischen Zweckentfremdung (…) und Vereinnahmung (…), zwischen Subversion und Inkorporation, scheint sich erledigt zu haben. Heute haben wir es weniger mit der Inkorporation, der Einverleibung von Dingen, die angeblich mal subversiv gewesen sind, zu tun, als vielmehr mit ihrer Präinkorporierung: dem präventiven Formatieren und Gestalten von Begehren, Ansprüchen und Hoffnungen durch eine kapitalistische Kultur."¹⁹

    Wie ist unter den gegebenen Bedingungen Ideologiekritik noch möglich?

    Ideologie bezieht sich auf dogmatische Aussagen, die mit dem Zweck vertreten werden, Veränderungen am Bestehenden zu verhindern, ²⁰ oder kann mit Lukács noch grundlegender verstanden werden als gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein.²¹ Diese Begriffsverständnisse schließen an Marx an, der im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis im ersten Band des Kapitals den ideologischen Charakter der vermeintlichen Naturhaftigkeit der Warenform erläutert (siehe das Kapitel Die Ideologie der Spaltung: Die Herrschaft des Geldes). Ideologie wird – um es für den jetzt zu analysierenden Aspekt zusammen zu fassen – von Marx verstanden als Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse, die einen falschen Schein erzeugen. Menschen sind einem abstrakten Markt unterworfen, auf dem Waren einen Mehrwert hervorbringen müssen. An die Stelle von Qualitäten treten deshalb Quantitäten, die im Tauschprozess einsetzbar sind. Unabhängig von konkreten menschlichen Bedürfnissen werden verwertbare Waren produziert und die Entlohnung für die verrichtete Arbeit richtet sich nach der im Produktionsprozess verausgabten abstrakten Arbeit. Dieses Verhältnis erscheint deshalb als nicht gesellschaftlich, weil auf dem Markt die Tatsache, dass Waren Produkte menschlicher Arbeit sind, in den Hintergrund tritt und damit der Eindruck entsteht, es sei quasi naturhaft. Die damit verbundenen Bewusstseinsformen bergen Wahres und Unwahres zugleich, weil sie einerseits auf gesellschaftliche Realitäten verweisen und andererseits gesellschaftliche, gewordene Verhältnisse naturalisieren. Sie werden in dem Maße ideologisch, indem mit ihrer Hilfe das Bestehende gerechtfertigt und ohne grundlegende Beschäftigung mit den strukturierten und strukturierenden Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung gedeutet wird.

    Im Spätkapitalismus wird mit Horkheimer und Adorno die Ideologiekritik insofern schwieriger, als in der Kulturindustrie kulturelle Formen und Bewusstsein immer mehr in Warenform vorliegen und die damit verbundene Herrschaft sich durch schiere Präsenz rechtfertigt. Die Kulturindustrie sorgt für die ökonomische Durchdringung aller Lebensbereiche.²² Unreglementierte Erfahrung verbunden mit der Vorstellung, die Welt könnte auch anders sein, wird dadurch behindert. Weil das Bestehende zu seiner eigenen Ideologie geworden ist, wird es immer schwieriger, im Distanzgewinn zu den bestehenden Verhältnissen kritische Perspektiven zu gewinnen. Für Adorno kommt als Problem der Ideologiekritik noch hinzu, dass ihr Standpunkt nicht außerhalb von jeglicher Ideologie liegen kann:

    „Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn suggeriert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat. Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunktes ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien."²³

    Den Subjekten kommt nur in Bezug auf die gesellschaftliche Totalität eine Funktion zu, das heißt, sie sind vorrangig in ihrer Einpassbarkeit in die durch die Warenform präformierten Bedingungen anerkennbar. Dies führt zur Steigerung von Konkurrenz und zu einer Verfassung „bürgerlicher Kälte".²⁴ Die Gewordenheit gesellschaftlicher Verhältnisse bleibt hingegen weitgehend unerkenntlich – dies ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit –, weil die Vermittlung durch ihre Totalität verstellt ist:

    „Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind. Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht. Sie ist zu jener Fatalität geworden, die in der allgegenwärtigen, nach Freuds Wort, frei flutenden Angst ihren Ausdruck findet; frei flutend, weil sie an keine Lebendigen, an Personen nicht an Klassen länger sich zu heften vermag."²⁵

    Subjektivität gerinnt vor diesem Hintergrund zur Erscheinungsform kapitalimmanenter Strukturverhältnisse. Zentraler Bezugspunkt für Ideologiekritik ist für Adorno die Konfrontation mit der für das Kapitalverhältnis charakteristischen Diskrepanz zwischen Anspruch auf Autonomie und Selbstverfügung und der Wirklichkeit von vermeidbaren Zwängen und Leiden. Insofern sieht sich Hartmut Rosa zu Recht in der Tradition der Kritischen Theorie, wenn er „das reale menschliche Leiden" zum normativen Ausgangspunkt für Kritische Theoretiker bestimmt.²⁶

    Für Mark Fisher ist die zentrale Haltung im Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte und bis heute der kapitalistsche Realismus, also die Vorstellung, dass der Kapitalismus ökonomisch und politisch so unhintergehbar ist, dass es heute leichter ist, „sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus."²⁷ Mit Adorno könnte hier als kritischer Maßstab der Umstand bestimmt werden, dass die Verheißungen von Freiheit und Autonomie eben gerade nicht verwirklicht werden, sondern in veränderter Gestalt Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduzieren helfen. Stephan Lessenich drückt es so aus:

    „Die gesellschaftliche Neuerfindung des Sozialen im flexiblen Kapitalismus lässt die subjektiven Wertbezüge sozialen Handelns – Aktivität und Mobilität, Produktivität und Autonomie – zu politischen Steuerungsformen des individuellen Selbstzwangs in sozialer Absicht verkommen."²⁸

    Dies sind genau die sekundären Befriedigungsformen psychischer Bedürfnisse, von denen Erich Fromm sprach, die zwar das herrschende System zu reproduzieren vermögen, aber auf Kosten der Wachstumspotenziale des Einzelnen gehen und – im Anschluss an Adorno – „nach deren Nutznießern man mittlerweise (…) vergeblich forscht", insofern das Destruktionspotenzial dieser Befriedigungsformen nicht nur Menschen, sondern dessen Naturbasis zu zerstören droht.

    Die heute prägenden Optimierungsformen sind sowohl auf die Ausweitung des absoluten Mehrwerts angelegt, zum Beispiel auf die Verlängerung des Arbeitstages und Mehrarbeit, als auch auf die Steigerung des relativen Mehrwerts, indem der Arbeitsprozess intensiviert wird.²⁹

    „Zu dieser Intensivierung des Arbeitsprozesses tragen Formen der Selbstoptimierung bei, die dafür sorgen, dass die Lebensführung insgesamt der Leistungsfähigkeit in der Arbeitswelt im Allgemeinen und den Anforderungen in konkreten Arbeitsumfel-dern im Besonderen untergeordnet werden. Der zugrundeliegende Optimierungsdruck resultiert aus dem durch die abstrakte Zeit ausgeübten Zwang, der insofern Ausdruck entfremdeter Verhältnisse ist, als er dazu beiträgt, Menschen unter die Struktur abstrakter Herrschaft zu subsummieren."³⁰

    Weil der Kapitalismus auf das Mitmachen angewiesen ist, muss die Bereitschaft, etablierte Prinzipien und Praktiken zu akzeptieren, stets aufrechterhalten oder neu hergestellt werden. Im Fall des Neoliberalismus geht es um eine grundlegende Zustimmung zu Prozessen der Vermarktlichung und Affirmation der damit verbundenen Handlungslogiken. Oliver Nachtwey nennt das „neoliberale Komplizenschaft",³¹ Erich Fromm sprach als Erster vom Gesellschafts-Charakter, der äußere Notwendigkeiten internalisiere und auf diese Weise die menschliche Energie für die Aufgaben eines bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Systems einspanne, sodass in diesem Prozess der Anpassung ein Mensch jene Charakterzüge entwickle, dass er so handeln will, wie er soll.³²

    Wenn die Kritik des Bestehenden sich selbst als dem Verblendungszusammenhang nicht enthoben wähnen darf, wie Adorno und Horkheimer deutlich gemacht haben, wie ist dann Kritik noch möglich? Nach Adorno liegt der Maßstab für die Richtigkeit der Kritik in der Unstimmigkeit der wirklichen Verhältnisse.³³

    „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, bei dem der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen Schleiers."³⁴

    Der Kulturwissenschaftler Mark Fischer führt – an Horkheimer und Adorno anknüpfend – den Begriff des kapitalistschen Realismus ein:

    „In meinem Verständnis kann man mit dem Begriff ´kapitalistischer Realismus` nicht quasi-propagandistische Art und Weise beschreiben, in der z.B. Werbung funktioniert. Kapitalistischer Realismus ist eher eine Art alles durchdringender Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt. Er wirkt eher wie eine unsichtbare Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt."³⁵

    Nach Fisher ist in den letzten Jahrzehnten erfolgreich eine Ontologie des Unternehmens installiert worden. In dieser sei es schlicht offensichtlich, dass alle Bereiche der Gesellschaft wie ein Unternehmen geführt werden sollten.³⁶ Eine Ideologie kann – so betont Fisher – niemals erfolgreich sein, wenn sie nicht naturalisiert sei. Deshalb hätten radikale Theoretiker auch immer betont,

    „eine emanzipatorische Politik (muss) immer den Anschein einer ´natürlichen Ordnung` zerstören und das als notwendig und unausweichlich dargestellte als reine Kontingenz aufdecken. Ebenso muss sie das als erreichbar sichtbar machen, was zuvor als unmöglich erschien. Man sollte sich vor Augen führen, dass das im Moment realistisch erscheinende selbst einmal für ´unmöglich` gehalten wurde: Die zahlreichen seit den 1980er Jahren durchgeführten Privatisierungen wären ein Jahrzehnt zuvor undenkbar gewesen; und die gegenwärtige polit-ökonomische Situation, in der Gewerkschaften den Kampf vorübergehend eingestellt haben und Energieversorgung und Eisenbahn privatisiert sind, wäre 1975 kaum vorstellbar gewesen. Und umgekehrt wird das, was einst als möglich erschien, heute als unrealistisch betrachtet. ´Alle Tage sieht man`, schreibt Alain Badiou mit bitterem Unterton, ´dass Modernisierung der Name einer strikten und servilen Definition des Möglichen ist. Die ´Reformen` gehen unweigerlich dahin, unmöglich zu machen, was es (für die herrschende Oligarchie) bis dahin nicht war`."³⁷

    Im Zentrum des kapitalistischen Realismus (Mark Fisher) steht also das, was Franco Berardi als Aushöhlung der gesellschaftlichen Vorstellungskraft bezeichnet hat.³⁸ Anknüpfend an diese Überlegungen von Mark Fisher und anknüpfend an Adorno, der aus der Erfahrung des heute Negativen deren Ursachen in der Vergangenheit nachspürte, soll in der vorliegenden Arbeit aus einer historischen Perspektive die Entstehung der falschen Totalität nachgezeichnet werden und letztere damit insbesondere einer jüngeren LeserInnenschaft, die im Neoliberalismus sozialisiert wurde und deshalb nichts anderes erfahren hat, ideologiekritisch als veränderbar vor Augen gestellt werden. Im Gegensatz zum TINA-kapitalistischen Realismus zeigt sich so: Eine andere Welt ist möglich!³⁹ Hartmut Rosa hat deutlich gemacht, dass es für eine Kritik der Resonanzverhältnisse unverzichtbar sei, die Spezifika des modernen In-der-Welt-Seins herauszuarbeiten, „weil erst dadurch sicht- und spürbar werden kann, dass die dominanten Resonanzverhältnisse eben nicht anthropologisch fundiert, sondern historisch kontingent und das heißt: veränderbar sind."⁴⁰ Dabei sollen uns folgende Erkenntnisinteressen leiten:

    1. Wie gestaltete sich der wechselseitige Prozess von Gesellschaft und Individuum in seinen unterschiedlichen Phasen in Deutschland seit 1945?

    2. Was waren unter traumatologischen Gesichtspunkten die Folgen des Zweiten Weltkrieges?

    Das Leben unter permanenter existenzieller Bedrohung und die Erfahrung traumatischer Übergriffe zerstört häufig das soziale Leben betroffener Menschen und mündet in die Weitergabe selbst erlebter und unverarbeiteter traumatischer Erfahrungen in die soziale Umwelt und in die folgende Generation.

    3. Lassen sich Folgen, die bis heute reichen, identifizieren?

    4. Welche traumatischen Erfahrungen gab es nach dem Krieg (z.B. die den Kleinkindern entgegengebrachte Bindungsverweigerung als nationalsozialistische Kontinuität über das Kriegsende hinaus und die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche)? Kann man die Dimension dieser Probleme erfassen?

    5. Gibt es von hier aus – bildlich gesprochen – neben der horizontalen Ebene (von Generation zu Generation) auch auf der vertikalen Ebene (vom Individuum zur Gesellschaft) Verbindungslinien zu dem was Erich Fromm den Gesellschaftscharakter genannt hat?

    Erich Fromm hat den Marketing-Charakter mit dem schizoiden Typus parallelisiert.

    6. Ja, muss man nicht sogar als Ausgangspunkt der Analyse den Beginn der Neuzeit nehmen, um die Entfremdung des Menschen von seinen Gefühlen als Mega-Trend der Moderne wahrnehmen zu können?⁴¹

    Die Beschäftigung mit der Geschichte zielt darauf ab, den Griff der Vergangenheit zu lockern. Sie wird uns nicht sagen, wie wir uns entscheiden sollen, aber sie wird uns zumindest mehr Optionen verschaffen. Der beste Grund, sich mit der Geschichte zu befassen, so Harari:

    „Nicht um die Zukunft vorherzusagen, sondern um sich von der Vergangenheit zu befreien und sich andere Ziele auszumalen. Natürlich ist diese Freiheit keine vollkommene – eine gewisse Prägung durch die Vergangenheit lässt sich nun einmal nicht vermeiden. Aber ein bisschen Freiheit ist immer noch besser als gar keine."⁴²


    ² „Keine Angst vor dem Elfenbeinturm" – Spiegel-Interview mit Theodor W. Adorno, 04.05.1969

    ³ Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. [1947]: Dialektik der Aufklärung. S.53f.

    ⁴ Jeffries, Stuart (2016): Why a forgotten 1930s Critique of Capitalism is back in Fashion, The Guardian, 9.9.2016 – Adorno verachtete nicht die Populärkultur als solche, sondern ihre Warenform. Im digitalen Kapitalismus beherrscht die Warenform als eine Vielzahl digitaler Waren den Alltag in der digitalen Kultur (vgl. Fuchs, Christian [2023]: Der digitale Kapitalismus, S. 141ff.)

    ⁵ Roth, Florian (2011): Theodor W. Adorno – Der Mensch zwischen Verblendungszusammenhang und Mündigkeit

    ⁶ Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. [1947]: Dialektik der Aufklärung. S. 168

    ⁷ Adorno, Theodor W. [1966]: Negative Dialektik, S. 368; Eine Art Priorität auf die Formel darf Hans Magnus Enzensberger beanspruchen, der schon 1963 in seiner Büchnerpreisrede über die Bundesrepublik formulierte: „Dies alles ist zwar irrsinnig, aber normal".

    ⁸ So etwa bei Link, Jürgen (2013): Versuch über Normalismus, S.89f. Ganz anders als Link ist Stephan Lessenich nah an Adorno, wenn er schreibt: „Die den Mittelklassen Angehörigen bzw. sich ihnen Zurechnenden bestimmen, was (empirisch) normal ist, sie legen fest, was (normativ) normal sein soll, und von ihnen geht aus, was (evaluativ) als normal gilt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch der sozialstrukturelle Ort, aus dem in Deutschland der Faschismus er-wuchs, mutierte die ´Mitte` in der sozialen Selbstwahrnehmung wie in der wissenschaftlichen Fremdbeschreibung zum Ruhepol und Bindegewebe der deutschen Nachkriegsgesellschaft. So ist aus der nationalsozialistischen Ordnung des Grauens die bundesrepublikanische Ordnung des Grauens erwachsen. Und nur vor diesem historisch-sozial-psychologischen Hintergrund ist das Tiefgründige, ja Abgründige der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik zu verstehen." (Lesse-nich, Stephan [2022]: Nicht mehr normals, S. 36)

    ⁹ Peter Dabrock spricht beispielsweise im Zusammenhang mit ChatGPT von „Normalisierungs-Mimikry".

    ¹⁰ Vgl. dazu das Kapitel in diesem Band „Die Moderne und der Holocaust und Band 3 „Die Entmenschlichung des Menschen und die Vermenschlichung der Maschinen.

    ¹¹ Adorno, Theodor W. [1966]: Negative Dialektik, S. 356

    ¹² Ebd. , S. 364

    ¹³ Rosa, Hartmut (2016): Resonanz, S. 580

    ¹⁴ Adorno, Theodor W. [1966]: Erziehung nach Auschwitz, S.687

    ¹⁵ Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, S. 68f.

    ¹⁶ Ebd., S. 57

    ¹⁷ Ebd., S. 216-258

    ¹⁸ Herpell, Gabriela (2015): „Freiheit ist kapitalistischer Mainstream"

    ¹⁹ Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, S. 15f.

    ²⁰ Eagleton, Terry (2000): Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart

    ²¹ Lukács, Georg [1923] (2013): Geschichte und Klassenbewusstsein.

    ²² Siehe das Kapitel Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug , in: Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W., [1947]: Dialektik der Aufklärung, S. 141-191

    ²³ Adorno, Theodor W. (1977) [1949]: Prismen, S. 26

    ²⁴ Adorno, Theodor W. [1951]: Minima Moralia, S. 81

    ²⁵ Adorno, Theodor W. [1968]: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, S. 369

    ²⁶ Rosa, Hartmut (2013a): Beschleunigung und Entfremdung, S. 72

    ²⁷ Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? S. 8

    ²⁸ Lessenich, Stephan (2013): Die Neuerfindung des Sozialen, S. 17

    ²⁹ Krebs, Moritz (2022): Kritik der Optimierung, S. 7

    ³⁰ Ebd., S. 76f.

    ³¹ Nachtwey, Oliver (2017): Die Abstiegsgesellschaft, S. 78

    ³² Ebd. S. 381 – Zur kulturellen Vorgeschichte siehe das Kapitel „Die Abrichtung des Körpers", in: Scheidler, Fabian (2018): Das Ende der MEGA-Maschine, S. 122f.

    ³³ Reijen, Willem van ( 1980 ): Adorno zur Einführung, S. 59

    ³⁴ Adorno, Theodor W. [1968]: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, S. 369

    ³⁵ Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, S. 24

    ³⁶ Ebd., S. 25

    ³⁷ Ebd., S. 24f.

    ³⁸ Ebd., S. 96

    ³⁹ „Historische und biographische Resonanzen teilen miteinander die zeitliche Struktur einer Kopräsenz von Vergangenen, Gegenwärtigem und Zukünftigem, die sich in einzelnen Augenblicken zu einer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung verdichten kann, oft sich aber auch auf dem Wege narrativer Resonanzen einstellt. Die Erfahrung geschichtlicher Resonanz wird dann und dort besonders mächtig, wo sich Lebensgeschichte und (Zeit- bzw.´Welt`-) Geschichte wechselseitig berühren, wo mithin die erfahrenden Subjekte gleichsam in die Geschichte eintreten beziehungsweise sich als Teil der Geschichte erleben." (Rosa, Hartmut [2016]: Resonanz, S. 507)

    ⁴⁰ Rosa, Hartmut (2016): Resonanz, S. 518

    ⁴¹ Ähnlich Hartmut Rosa: „Tatsächlich ist die Geschichte der Moderne nicht unwesentlich mitbestimmt von der bisweilen sogar politisch artikulierten Sorge um einen schleichenden Verlust des Gespürs für die Leiblichkeit unserer Existenz (…)" (Rosa, Hartmut [2016]: Resonanz, S. 71; vgl. auch ebd., S. 651f.)

    ⁴² Harari, Yuval Noah (2022): Homo Deus, S. 106

    3 Im Diesseits der Verblendung

    3.1 Die Aporie der totalen Entfremdung?

    3.1.1 Das wechselseitige Geworden-Sein von Individuum und Gesellschaft

    „Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Verhaltensweisen, die man als typisch für die abendländisch zivilisierten Menschen ansieht. Die Frage, die sie uns aufgegeben, ist einfach genug. Die Menschen des Abendlandes haben sich nicht von jeher in der Weise verhalten, die wir heute als typisch für sie und als Kennzeichen des ´zivilisierten` Menschen anzusehen pflegen. (…) Wie ging eigentlich diese Veränderung, diese `Zivilisation` im Abend-lande vor sich? Worin bestand sie? Und welches waren ihre Antriebe, ihre Ursachen oder Motoren? " ⁴³

    So beginnt Norbert Elias` 1939 erstmals veröffentlichte Arbeit Über den Prozeß der Zivilisation. In seinem Werk radikalisierte Elias den soziologischen Blick, indem er zeigte, dass die Etablierung funktionierender Gewaltmonopole in den europäischen Nationalstaaten nicht bloß auf die Ausbildung effizienter Institutionen zurückzuführen war, sondern ebenso auf die gleichzeitig fortschreitende Verinnerlichung von Verhaltensnormen, die kontinuierliche Vewandlung von Fremdzwängen in Selbst-zwänge und die damit einhergehenden Veränderungen von Körperstrukturen. Die Vernachlässigung des Paradoxons der Gewaltkontrolle und dessen systematischer Effekte stellt den blinden Fleck der Elias´schen Analyse dar.⁴⁴ Allzu schnell schließt er von der normativen und affektiven Abneigung gegen die Gewalt auf deren Rückgang. Damit wiederholt und bekräftigt seine Arbeit ein zentrales Motiv der Fortschrittserzählung der Moderne, nämlich den Mythos vom Verschwinden der Gewalt.

    Demgegenüber ist zu betonen, dass für das Gewaltverhältnis der Moderne die Verbindung zweier widersprüchlicher Dynamiken charakteristisch ist: Die massive Delegitimierung und Skandalisierung von Gewalt geht Hand in Hand mit einer kontinuierlichen, bürokratisch und technologisch vorangetriebenen Steigerung staatlicher Gewaltpotentiale, die als Garanten genau dieser Werteordnung gelten ⁴⁵ und – wie Zygmunt Bauman gezeigt hat – im 20. Jahrhundert im Holocaust kulminierten. Die weitgehende Zurückdrängung gewaltsamer Interaktionen aus dem Alltag verlangt die organisierte Herstellung von Gewaltpotentialen an eigens dafür vorgesehenen Orten. Somit ist die Moderne zwar tatsächlich normativ gewaltavers, aber empirisch alles andere als gewaltarm. Vielmehr führt die Delegitimierung und Ächtung der Gewalt dazu, dass sich die Bedingungen ändern, unter denen sie ausgeübt werden kann. Darüber hinaus erzeugt die Moderne Praktiken, die – wissend um die normative und affektive Gewaltaversion moderner Subjekte – darauf zielen, Gewalthandlungen dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen.⁴⁶

    Dennoch folgt aus der Infragestellung der in Elias´ Werk entfalteten zivilisationstheoretischen Thesen keineswegs der Schluss, dieses Buch könne heute beiseite gelegt werden. Im Gegenteil! Elias´ Ziel war es, eine Prozesssoziologie zu etablieren, die Individuum und Gesellschaft in ihrem wechselseitig bedingten Geworden-Sein untersuchen sollte. Moderne Subjekte und moderne Staaten, so könnte man die zentrale Einsicht des Werkes zusammenfassen, sind Produkte ein und desselben Prozesses. In der Diktion Hartmut Rosas lautet die zentrale Einsicht,

    „dass Subjekt und Welt als trennbare Entitäten der Beziehung nicht vorausgehen, sondern gleichsam erst ´Beziehungsprodukte`sind (…).⁴⁷

    Elias´ prozess- und emotionssoziologische Reflexionen sind für das Nachdenken über Gewalt in der Gegenwart hochrelevant, besonders wenn man sie in den Horizont einer globalen Moderne stellt.⁴⁸ Ist für Elias das Vermögen der Affektkontrolle und der strategischen Handlungsplanung essentieller Bestandteil des „Zivilisationsprozesses", so machte Foucault später deutlich, wie sehr dieser Prozess das Ergebnis der Formung von Selbst-und Weltbeziehungen in Disziplinarinstitutionen war.

    Das Ziel des Soziologen Elias Individuum und Gesellschaft in ihrem wechselseitig bedingten Geworden-Sein zu untersuchen, koinzidierte mit der Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse. Abseits vom psychoanalytischen Mainstream hatte sich in den USA die Richtung der Interpersonalisten gebildet, wie sie von Erich Fromm, Karen Horney, Frieda Fromm-Reichmann, Clara Thompson und Harry Stuck Sullivan am White Institute der New York Universität vertreten wurde, die wiederum später die relationale und intersubjektive Psychoanalyse stark beeinflusst hat.⁴⁹ In einem Brief an Karl August Wittfogel vom 18. Dezember 1936 schrieb Fromm:

    „Gesellschaft und Individuum stehen sich nicht ´gegenüber´. Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben. Die Verschiedenheit der Produktions- und Lebensweise der verschiedenen Gesellschaften beziehungsweise Klassen führt zur Herausbildung verschiedener, für die Gesellschaft typischer Charakterstrukturen".⁵⁰

    Es gibt also, bei aller individuellen Verschiedenheit, einen sozial typischen Charakter, Fromm nannte ihn bald darauf erstmals den Gesellschafts-Charakter. Damit bezeichnete er „den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder einer Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und der Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat."⁵¹ In dem Prozess der Anpassung an die vorhandenen sozio-ökonomischen Bedingungen entwickelt ein Mensch jene Charakterzüge, dass er so handeln will, wie er soll, denn „der Gesellschafts-Charakter internalisiert äußere Notwendigkeiten und spannt auf diese Weise die menschliche Energie für die Aufgaben eines bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ein."⁵² Fromm baut mit seiner Formulierung des Gesellschaftscharakters auf Marx auf, stellt sich aber kritisch gegen die monokausalen Einflüsse der menschlichen Entfremdung. Der Gesellschaftscharakter nach Fromm definiert zusätzlich zu ökonomischen auch religiöse, politische, kulturelle und technologische Einflüsse und Veränderungen als bedeutsame Rahmenbedingungen für die charakterlichen Ausprägungen des Menschen. Die historische Entwicklung vom Protestantismus bis zur Philosophie Kants war für Fromm durch eine zunehmende Internalisierung von Autorität gekennzeichnet.⁵³ Das eigene Gewissen ersetze zunehmend Anordnungen äußerer Autoritäten (von Kirche, Staat etc.). Häufig handele es sich dabei aber nicht um Forderungen des eigenen Selbst, sondern um gesellschaftliche Forderungen, die sich darin manifestieren. In den hochzivilisierten Gesellschaften tarne sich die Autorität

    „als gesunder Menschenverstand, als Wissenschaft, als psychische Gesundheit, als Normalität oder als öffentliche Meinung. Sie verlangt nichts als das, was ´selbstverständlich` ist. Sie scheint keinen Druck auszuüben, sondern nur sanft überreden zu wollen (…). Die anonyme Autorität ist deshalb noch wirksamer als die offene Autorität, weil einem erst gar nicht der Verdacht kommt, dass da ein Befehl gegeben wird, den man zu befolgen hat. (…) [S]owohl der Befehl als auch die Instanz, die ihn erteilt, [ist] unsichtbar geworden. (…) Da ist niemand und nichts, wogegen man sich wehren könnte."⁵⁴

    So funktionierten die Bürokratien und die Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts sehr viel effizienter als mit Druck: indem sie die Dinge und Menschen auf die gleiche Weise verwalteten und damit den Menschen zum Ding erniedrigen würden. Es ist evident, dass diese Analyse im Hinblick auf das anhebende Zeitalter der künstlichen Intelligenz von hoher Relevanz ist. Besonders bedauerlich fand es Fromm, dass viele Psychiater und Psychoanalytiker sich in den Dienst dieses Konformismus gestellt hätten und Menschen nur noch zu einer scheinbaren Normalität zu manipulieren trachteten.⁵⁵

    Die Unterdrückung der eigenen Spontanität beginne schon im Kindesalter. Die Struktur, Dynamik und sozialen Züge einer Familie entwickeln sich aufgrund der Anforderungen der Gesellschaft, die sie zu einem bestimmten Maß an Anpassung zwingt.⁵⁶ Die Kinder würden dazu erzogen so zu funktionieren, dass die Erzogenen unter den bestehenden Bedingungen erfolgreich sein könnten, auch wenn dies ihre Persönlichkeit und ihr Glück beschädige. Die Unterdrückung von Gefühlen überhaupt, die abgekoppelt von der Welt der Rationalität existieren sollen, führe zu einem Absterben kreativen Denkens, welches immer an Emotionen gebunden sei.

    „Von Anfang an läuft unsere Erziehung darauf hinaus, das Kind am selbstständigen Denken zu hindern und ihm fertige Gedanken in den Kopf zu setzen. Wie man das bei Kleinkindern bewerkstelligt, ist einfach zu beobachten (…). [Man nimmt sie] nicht ernst, wobei es keinen Unterschied macht, ob diese Einstellung sich als offene Missachtung oder als subtile Herablassung äußert, wie man sie all jenen gegenüber zu bekunden pflegt, die machtlos sind (wie Kinder, alte Menschen oder Kranke)."⁵⁷

    Später, in Schule und Universität, würde durch die Überbetonung des Faktenwissens gegenüber dem Denken in Zusammenhängen, und einem sich als progressiv generierenden Relativismus des Wahrheitsbegriffs die Denkfähigkeit und der Mut zu eigenständigem Denken und eigenen Entscheidungen weiter geschwächt.

    Die Problematik des Gesellschaftscharakters besteht vor allem darin, dass der Mensch praktisch gezwungen ist, immer Genugtuung dabei zu empfinden, wenn er sich gemäß der neuesten kulturellen Errungenschaften verhält. Einfach gesagt: historische Rahmenbedingungen formen die seelischen Grundlagen, das Handeln und die persönliche Entwicklung eines Menschen, ohne dass dessen eigentliche Identität dabei eine wesentliche Rolle spielt.

    Demgegenüber ging es Fromm um die Entwicklung des Individuums durch die Entfaltung der ihm innewohnenden Möglichkeiten, um die Förderung von Vernunft und Liebe und einer konstruktiven Produktivität. Gerade im Zusammenhang mit der post-modernen Gesellschaft besitzt Fromms Theorie vom Gesellschaftscharakter eine besondere Bedeutung. Der Gesellschaftscharakter nach Erich Fromm kann als dynamisches Konzept erachtet werden, das abhängig von der Entwicklung der Gesellschaft ständig neu reflektiert und interpretiert werden muss. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte der Umbruch zum Wirtschaftswunder in der westlichen Welt auch zur Formung eines völlig neuen Gesellschaftscharakters, der das menschliche Dasein bis heute maßgeblich bestimmt. Mit der Marketing-Orientierung, die in den Fünfzigerjahren für Fromm zu einem wichtigen wissenschaftlichen Gegenstand wurde, wich die gesellschaftliche Wechselwirkung zwischen Dominanz und Unterwerfung allmählich jener zwischen Verkäufer und Konsument. Dieses Verhältnis nimmt bis heute kontinuierlich immer extremere Formen an. Dies ist vor allem auf die digitale Revolution zurückzuführen, die innerhalb des Marketing-Prinzips auch eine neue Orientierung des Gesellschaftscharakters mit sich brachte.

    Fromms Gesellschaftscharakter ist nicht nur als Theorie bedeutsam, sondern besitzt bis heute in höchstem Maße eine praktische Anwendbarkeit, wenn es um die Deutung und Analyse sozialer Strukturen und deren Entwicklung geht. Der Gesellschaftscharakter kann ein soziales Gefüge wie Zement zusammenhalten und dessen Fortbestand sichern. In der postmodernen, von digitalen Medien dominierten und definierten Welt muss er jedoch zunehmend als Angriff auf die Kreativität und Spontanität des einzelnen Menschen gewertet werden. Der Mensch wird eine Projektionsfläche, auf der verschiedene gesellschaftliche Einflüsse ein Gesamtbild erzeugen. Auf diesem Bild lässt sich der Grad der menschlichen Entfremdung ebenso deutlich ablesen wie die Beständigkeit des Sozialgefüges, in der die Entfremdung stattfindet.

    Fünf führende Fakultätsmitglieder des New Yorker William White-Institutes gründeten Ende der 80er Jahre parallel zu den amerikanischen Intersubjektivisten eine neue psychoanalytische Schule, die auf den von Greenberg und Mitchell vorgeschlagenen Namen relational school getauft wurde.⁵⁸ Diese Denkschule verstand sich als eine Art Schirm- oder Dachgruppierung, die unterschiedlichste theoretische Strömungen zu integrieren versuchte. Mit der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse wird eine andere Auffassung der conditio humana vertreten, als sie von Freud postuliert wurde: „Der Mensch ist keine Monade – er wird vielmehr in menschliche Beziehungen hineingeboren, gewinnt durch soziale Beziehungen hindurch ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und bleibt bis ins hohe Alter auf solche Beziehungen angewiesen."⁵⁹ Die für unserer Thema wichtigsten Momente der Relationalen Psychoanalyse, zu deren renommiertesten Vertretern im deutschsprachigen Raum Reinhold Bianchi gehört, lassen sich durch drei Gesichtspunkte charakterisieren: (1) primäre Intersubjektivität, (2) die spezifischen traumatheoretischen Implikationen

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