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Für den neuen Intellektuellen
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eBook300 Seiten8 Stunden

Für den neuen Intellektuellen

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Über dieses E-Book

Dieses Buch präsentiert die Hauptaussagen von Ayn Rands Philosophie „für alle, die eine integrierte Weltanschauung suchen“. Der Titelessay analysiert die westliche Kultur, diskutiert die Ursachen ihres Verlaufs, ihres Niedergangs, ihres gegenwärtigen Bankrotts und zeigt den Weg zu einer intellektuellen Renaissance auf.
Ayn Rand hisst die Flagge „der Vernunft, des Individualismus und des Kapitalismus“ gegen die heute vorherrschenden Lehren des Mystizismus, des Altruismus und des Kollektivismus. Ihre Romane, die ihre unkonventionelle Anschauung darlegen, sind inzwischen moderne Klassiker.
Sie ist die Autorin von „Atlas Shrugged“ („Der Streik“), dem provokantesten philosophischen Bestseller seiner Zeit. Ihr erster Roman „We, the Living“ („Vom Leben unbesiegt“) erschien 1936. Berühmt wurde sie mit der Veröffentlichung von „The Fountainhead“ („Der Ursprung“) im Jahre 1943. Ayn Rands einzigartige Philosophie, der Objektivismus, wird weltweit kontrovers diskutiert.

SpracheDeutsch
HerausgeberMises.at
Erscheinungsdatum17. März 2016
ISBN9783902639356
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    Buchvorschau

    Für den neuen Intellektuellen - Ayn Rand

    Fuer_den_neuen_Intellektuellen_-_Cover_(Futura_+_Logo).jpg

    Für den neuen intellektuellen

    Eine streitschrift gegen die pseudointellektuellen Verführer in den Medien

    und Universitäten

    von ayn ranD

    mises.at

    info@mises.at

    © 2016 scholarium

    Übersetzung: Philipp Dammer („Der Ursprung: Werner Habermehl; „Der Streik: Claudia Amor, Alice Jakubeit und Leila Kais)

    Lektorat: Rahim Taghizadegan

    Satz: Gerald Kalb

    Umschlag: Anna Hellmeister

    Titel der Originalausgabe: For the New Intellectual

    ISBN: 978-3-902639-36-3

    Inhalt

    Inhalt

    Vorwort

    Für den neuen Intellektuellen

    We, the Living

    (Vom Leben unbesiegt)

    Anthem (Hymne)

    The Fountainhead (Der Ursprung)

    Das Wesen des Zweithänders

    Die Seele des Kollektivisten

    Die Seele des Individualisten

    Atlas Shrugged (Der Streik)

    Die Bedeutung von Geld

    Das Martyrium der Industriellen

    Die moralische Bedeutung

    des Kapitalismus

    Die Bedeutung von Sex

    „Von jedem nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen"

    Der vergessene Mann des verstaatlichten Gesundheitswesens

    Das Wesen eines Künstlers

    „Hier spricht John Galt"

    Vorwort

    Dieses Buch richtet sich an alle, die sich der Verantwortung stellen wollen, die neuen Intellektuellen zu werden. Es enthält die wichtigsten philosophischen Abschnitte aus meinen Romanen und präsentiert den Umriss eines neuen philosophischen Systems.

    Das vollständige System ist in diesen Auszügen implizit (besonders in Galts Rede), aber seine fundamentalen Aussagen werden nur grob angerissen und erfordern eine detaillierte Abhandlung. Ich arbeite im Moment an solch einer Abhandlung. Sie wird sich hauptsächlich mit dem Thema beschäftigen, das in Galts Rede kaum berührt wird: der Erkenntnistheorie.

    Sie wird eine neue Theorie über das Wesen, den Ursprung und die Gültigkeit von Begriffen präsentieren. Diese Arbeit wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Bis dahin möchte ich allen, die eine integrierte Weltanschauung suchen, das vorliegende Buch als Leitfaden oder Zusammenfassung anbieten. Sehen Sie es als Umriss an. Es wird Ihnen die Anleitung geben, die Sie brauchen, aber nur, wenn Sie die genaue Bedeutung und die genauen Implikationen dieser Auszüge durchdenken und verstehen.

    Ich werde oft gefragt, ob ich in erster Linie Schriftstellerin oder Philosophin bin. Die Antwort lautet: beides. In gewisser Weise ist jeder Schriftsteller ein Philosoph, weil man kein Abbild des menschlichen Daseins ohne philosophischen Bezugsrahmen präsentieren kann; die einzige Entscheidung des Schriftstellers besteht darin, ob dieser Rahmen in seiner Geschichte explizit oder implizit vorhanden ist, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – ob er seine philosophischen Überzeugungen bewusst oder unterbewusst vertritt. Dies beinhaltet noch eine andere Entscheidung: Ist sein Werk eine individuelle Auslegung bereits existierender philosophischer Ideen oder erschafft er den philosophischen Rahmen selbst? Ich habe Letzteres getan. Das ist nicht die primäre Aufgabe eines Schriftstellers; ich musste es tun, da mein grundlegendes Menschen- und Weltbild den meisten philosophischen Theorien widersprach. Um mein Menschenbild zu definieren, zu erklären und darzulegen, musste ich Philosophin werden, und zwar in der vollen Bedeutung dieses Wortes.

    Wer sich für die chronologische Entwicklung meines Denkens interessiert, findet hier eine Sammlung von Auszügen aus meinen vier Romanen. Man kann einen Fortschritt von einem politischen Thema in

    We, the Living" („Vom Leben unbesiegt") zu einem metaphysischen in „Atlas Shrugged" („Der Streik") beobachten.

    Diese Auszüge sind zwangsläufig komprimierte Zusammenfassungen, weil die volle Darlegung der Themen in jedem Roman durch die Ereignisse der jeweiligen Geschichte präsentiert wird. Die Ereignisse sind die konkreten Einzelfälle, die Reden sind die abstrakten Zusammenfassungen.

    Wenn ich sage, dass diese Auszüge nur ein Umriss sind, meine ich nicht, dass mein komplettes System erst noch definiert oder entdeckt werden müsste; ich musste es definieren bevor ich „Atlas Shrugged" („Der Streik") überhaupt schreiben konnte. Galts Rede ist seine kürzeste Zusammenfassung. Bis ich die Präsentation meiner Philosophie in detaillierter Form fertiggestellt habe, kann dieses Buch als Programm oder Manifest dienen.

    Aus Gründen, die auf den folgenden Seiten deutlich werden, habe ich meiner Philosophie den Namen Objektivismus gegeben.

    AYN RAND, Oktober 1960

    Für den neuen Intellektuellen

    Wenn ein Mensch, ein Unternehmen oder eine gesamte Gesellschaft dem Bankrott entgegensteuert, können die Betroffenen zweierlei Wege einschlagen: Sie können die Realität ihrer Situation verdrängen und ohne einen Gedanken an die Zukunft blindwütig nach der Zweckdienlichkeit des Momentes handeln und hoffen, dass niemand die Wahrheit benennt und irgendetwas sie retten wird – oder sie können die Situation identifizieren, ihre Grundsätze überprüfen, ihre stillen Reserven entdecken und mit dem Neuaufbau beginnen.

    Amerika folgt zurzeit dem ersten Weg. Die Langeweile, der abgestandene Zynismus, die unverbindliche Vorsicht und die schuldhaften Ausflüchte unserer Wortführer erinnert an die Höflinge aus der Geschichte „Des Kaisers neue Kleider", die ihre Bewunderung für die nichtexistenten Gewänder des Kaisers ausdrückten, da sie die Behauptung akzeptiert hatten, dass jeder, der die Kleider nicht sähe, moralisch verkommen sei.

    Lassen Sie mich das Kind in dieser Geschichte sein und sagen, dass der Kaiser nackt ist – dass Amerika kulturell bankrott ist.

    In jedem Zeitalter muss eine Kultur anhand ihrer bestimmenden Philosophie beurteilt werden, nach den maßgeblichen Trends ihres intellektuellen Lebens, das sich in Moral, Politik, Wirtschaft und Kunst widerspiegelt. Professionelle Intellektuelle sind die Stimme einer Kultur und deswegen ihre Anführer, Integratoren und Leibwächter. Amerikas intellektuelle Führerschicht ist kollabiert. Amerikas Tugenden, seine Werte und seine enorme Macht liegen brach und werden geschichtlich keine Rolle spielen, wenn sie ohne intellektuellen Ausdruck bleiben. Amerika ist ein Land ohne Stimme und Verteidigung – ein Land, ausverkauft und aufgegeben von seinen intellektuellen Leibwächtern.

    Bankrott bedeutet, am Ende seiner Mittel zu sein. Wie sehen die intellektuellen Werte oder Mittel aus, die uns die Wächter unserer heutigen Kultur anbieten? In der Philosophie wird uns beigebracht, dass der Verstand ohnmächtig sei, dass die Realität unerkennbar sei, dass Wissen eine Illusion und Vernunft Aberglaube sei. In der Psychologie wird uns gesagt, dass der Mensch ein hilfloser Automat sei, der von Kräften jenseits seiner Kontrolle gelenkt und von innerer Verkommenheit motiviert werde. In der Literatur wird uns eine Reihe von Mördern, Trunksüchtigen, Drogenabhängigen, Neurotikern und Psychotikern als Repräsentanten der menschlichen Seele gezeigt, und wir werden aufgefordert, uns selbst mit ihnen zu identifizieren – zusammen mit den kämpferischen Behauptungen, dass das Leben eine Kloake oder ein sinnloses Wettrennen sei, mit gejammerten Befehlen, dass wir alles lieben müssen außer Tugend, und alles vergeben müssen außer Größe. In der Politik sagt man uns, dass Amerika, die großartigste, edelste und freieste Nation der Welt, der Sowjetunion, der blutigsten Diktatur in der Geschichte, politisch und moralisch unterlegen sei – und dass wir unseren Wohlstand an die Wilden in Afrika und Asien verschenken und uns für die Tatsache entschuldigen sollten, dass wir ihn produziert haben und nicht sie. Wenn wir uns die modernen Intellektuellen ansehen, sehen wir das groteske Schauspiel solcher Eigenschaften wie militanter Ungewissheit, fanatischem Zynismus, dogmatischem Agnostizismus, prahlerischer Selbsterniedrigung und selbstgerechter Verkommenheit in einer Atmosphäre aus Schuld, Panik, Verzweiflung, Langeweile und allgegenwärtigen Ausflüchten. Wenn das nicht bedeutet, am Ende seiner Mittel zu sein – tiefer kann man nicht mehr sinken.

    Alle scheinen sich darüber einig zu sein, dass die Zivilisation in einer Krise steckt. Aber niemand will ihr Wesen definieren, ihre Ursache entdecken und die Verantwortung übernehmen, eine Lösung zu formulieren. In Zeiten der Gefahr ruft eine moralisch gesunde Kultur ihre Werte, ihre Selbstachtung und ihren Kampfgeist zusammen, um in vollem, gerechtfertigtem Vertrauen für ihre moralischen Ideale zu kämpfen. Aber das sehen wir heute nicht. Wenn wir unsere intellektuellen Anführer fragen, für welche Ideale wir kämpfen sollen, so besteht ihre Antwort aus einem wiedergekäuten Kaugummi – aus wohlmeinenden Plattitüden und entschuldigenden Allgemeinplätzen über Bruderliebe, globalen Fortschritt und universellen Wohlstand auf Amerikas Kosten, dass ihnen nicht einmal eine Fliege auf diesen Leim gehen würde.

    Einer der tragischen Fehler Amerikas besteht darin, dass zu viele seiner besten Köpfe (genau wie in der Vergangenheit) glauben, dass die Lösung darin bestehe, anti-intellektuell zu werden und sich auf schlaumeierische Bauernweisheiten zu verlassen. Das genaue Gegenteil trifft zu. Was wir am dringendsten brauchen, ist die Anerkennung der enormen Kraft der intellektuellen Berufe und ihrer entscheidenden Wichtigkeit. Eine Kultur kann nicht existieren ohne den ständigen Fluss von Ideen und die aufmerksamen, unabhängigen Geister, die sie schmieden. Sie kann nicht ohne eine Lebensphilosophie existieren oder die, die sie formulieren und artikulieren. Ein Land ohne Intellektuelle ist wie ein Körper ohne Kopf. Und genau das ist heute die Lage von Amerika. Die gegenwärtige Auflösung unserer Kultur wird nicht von den Intellektuellen verursacht oder beschleunigt, sondern von der Tatsache, dass wir keine haben. Die Mehrheit derer, die heute als Intellektuelle posieren, sind verängstigte Zombies, die in einem Vakuum leben, das sie selbst geschaffen haben, und die durch die Annahme von Lehren wie Existentialismus und Zen-Buddhismus ihre Abdankung aus dem Reich des Intellekts eingestehen.

    Nachdem sie jahrzehntelang gepredigt haben, dass das wahre Zeichen eines Intellektuellen daraus bestehe, die Ohnmacht des Intellekts zu proklamieren, sind diese modernen Zombies bestürzt über die Tatsache, dass sie erfolgreich waren – dass sie unfähig sind, die Lichter der Zivilisation, die sie gelöscht haben, wieder zu entzünden, dass sie den triumphalen Vormarsch des urzeitlichen Untiers nicht stoppen können, das sie losgelassen haben, dass sie keine Antwort auf die Stimmen aus den Dunklen Zeitaltern haben, die sich hämisch freuen, dass Vernunft und Freiheit ihre Chance gehabt und versagt haben und dass die Zukunft ebenso wie die lange Nacht der Vergangenheit einmal mehr dem Glauben und der Gewalt gehören.

    Wenn alle Eisenbahnhersteller plötzlich irrational würden und stattdessen Pferdewagen herstellen würden, würde niemand die Behauptung akzeptieren, dass dies eine progressive Innovation sei oder dass das Eiserne Pferd versagt hat. Andere Menschen würden in das industrielle Vakuum treten und anfangen, Eisenbahnen herzustellen. Doch wenn dies in der Philosophie passiert – wenn man uns Zen-Buddhismus und seine Äquivalente als letztes Wort im menschlichen Denken anbietet – so ist bisher niemand in das intellektuelle Vakuum getreten, um die Arbeit des Geistes voranzutreiben.

    Daher erwartet man jetzt von unserer großartigen industriellen Zivilisation, dass sie Eisenbahnen, Fluglinien, Interkontinentalraketen und Wasserstoffbomben durch philosophische Lehren leitet, die von und für barfüßige Wilde geschaffen wurden, die in Erdlöchern hausten, für eine Handvoll Getreide in der Erde wühlten und dankbar die Statuen von entstellten Tieren anbeteten, die sie für überlegen hielten.

    Der professionelle Intellektuelle ist historisch gesehen ein sehr junges Phänomen: Es gibt ihn erst seit der Industriellen Revolution. In primitiven Gesellschaften gibt es keine professionellen Intellektuellen; es gibt nur Geisterbeschwörer. Im Mittelalter gab es keine professionellen Intellektuellen, es gab nur Mönche in Klöstern. Vor der Renaissance, vor der Geburt des Kapitalismus, hatten die Menschen des Intellekts (die Philosophen, die Lehrer, die Schreiber, die frühen Wissenschaftler) keinen Beruf, d.h. keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Intellektuelle Beschäftigung hing von ererbtem Wohlstand oder von der Gunst und der finanziellen Unterstützung eines reichen Beschützers ab. Aber auch Reichtum wurde nicht auf dem offenen Markt verdient; Reichtum wurde durch Eroberungen, durch Gewalt oder durch die Gunst der politischen Machthaber erlangt. Und die Händler waren viel abhängiger von dieser Gunst als die Intellektuellen. Der professionelle Unternehmer und der professionelle Intellektuelle entstanden zusammen, beide sind Kinder der Industriellen Revolution. Beide sind Söhne des Kapitalismus – und wenn sie untergehen, werden sie zusammen untergehen. Die tragische Ironie wird sein, dass sie sich gegenseitig zerstört haben werden – und die Hauptschuld daran trägt der Intellektuelle.

    Vorkapitalistische Gesellschaften hatten mit sehr wenigen und kurzen Ausnahmen keinen Platz für die kreative Kraft des menschlichen Geistes, weder in der Schaffung von Ideen noch in der Schaffung von Wohlstand. Vernunft und ihr praktischer Ausdruck – freier Handel – waren als Sünde und Verbrechen verboten oder wurden als unehrenhaft toleriert und von Behörden kontrolliert, die diese Tolerierung nach Laune wieder entziehen konnten. Solche Gesellschaften wurden regiert durch Glauben und seinen praktischen Ausdruck: Gewalt. Es gab niemanden, der Wissen und Wohlstand erschuf; es gab nur Geisterbeschwörer und Stammeshäuptlinge. Diese zwei Figuren dominieren jede anti-rationale Periode der Geschichte, sie heißen jeweils nur anders: Stammeshäuptling und Geisterbeschwörer, absoluter Monarch und Religionsführer oder Diktator und Logischer Positivist.

    „Der tragische Witz der Menschheitsgeschichte" – ich zitiere John Galt aus „Atlas Shrugged" („Der Streik) – „besteht darin, dass es auf allen Altären, die die Menschen errichtet haben, immer der Mensch war, der geopfert wurde, während das Tier verehrt wurde. Es waren immer die Eigenschaften des Tiers, nicht die des Menschen, welche die Menschheit verehrt hat: der Götze des Instinkts und der Götze der Gewalt – die Mystiker und die Könige – die Mystiker, die sich nach einem verantwortungslosen Bewusstsein sehnten und mittels der Behauptung herrschten, dass ihre unklaren Gefühle der Vernunft überlegen seien, dass Wissen in blinden, unbegründeten Anfallen über sie käme, denen blind zu folgen und die nicht anzuzweifeln seien – und die Könige, die mit Klauen und Muskeln herrschten, deren Methode die Eroberung und deren Ziel das Plündern war, mit einer Keule oder einem Gewehr als einziger Legitimation ihrer Macht. Die Verteidiger der Seele des Menschen sorgten sich um seine Gefühle, und die Verteidiger des Körpers des Menschen sorgten sich um seinen Bauch – aber beide Fraktionen standen vereint gegen seinen Verstand.

    Diese beiden Figuren – der Mann des Glaubens und der Mann der Gewalt – sind philosophische Archetypen, psychologische Symbole und historische Realität. Als philosophische Archetypen verkörpern sie zwei Varianten eines bestimmten Menschen- und Weltbildes. Als psychologisches Symbol repräsentieren sie die Grundmotivation vieler Menschen aus vielen Zeitaltern, Kulturen oder Gesellschaften. Als historische Realität sind sie die Herrscher, die an die Macht kommen, wenn der Mensch die Vernunft aufgibt.*

    Die maßgeblichen Merkmale dieser beiden sehen in allen Zeitaltern gleich aus: Attila, der Mann, der durch nackte Gewalt herrscht, aus der Laune des Augenblicks handelt, sich nur mit der unmittelbaren physischen Realität vor seinen Augen beschäftigt, der außer Muskelkraft nichts respektiert und dessen einzige Antwort auf jedes Problem eine Faust, eine Keule oder eine Pistole ist – und der Geisterbeschwörer, der Mann, der die physische Realität und die Notwendigkeit der praktischen Tat fürchtet und sich in seine Gefühle flüchtet, in Visionen eines mystischen Reiches, wo seine Wünsche übernatürliche Macht genießen und durch die Tatsachen der Natur nicht behindert werden.

    Oberflächlich scheinen diese beiden Gegenteile zu sein, doch beachten Sie, was sie gemeinsam haben: ein Bewusstsein, das auf wahrnehmendes Funktionieren reduziert ist, ein Bewusstsein, das nicht über das Automatische, das Unmittelbare, das Unfreiwillige hinausgehen will, d.h.: die „Erkenntnistheorie" eines Tieres – oder die größtmögliche Annäherung daran, die ein menschliches Bewusstsein erreichen kann. Das menschliche Bewusstsein teilt mit den Tieren die ersten beiden Entwicklungsstufen: Sinnesdaten und Wahrnehmungen; aber die dritte Stufe, Begriffe, macht ihn zum Menschen. Sinnesdaten werden automatisch durch das Gehirn des Menschen oder eines Tieres in Wahrnehmungen integriert. Aber Wahrnehmungen durch einen Prozess der Abstraktion in Begriffe zu integrieren, ist eine Leistung, die zu vollführen nur der Mensch die Macht hat – und er muss sie aus eigener Entscheidung vollführen. Der Prozess der Abstraktion und der Begriffsbildung ist ein Prozess der Vernunft, des Denkens; er ist weder automatisch, instinktiv noch unfehlbar. Der Mensch muss ihn initiieren, ihn aufrechterhalten und die Verantwortung für seine Resultate tragen. Die vor-begriffliche Stufe des Bewusstseins ist unwillentlich; freier Wille dagegen beginnt mit dem ersten Syllogismus. Der Mensch hat die Wahl, zu denken oder dem auszuweichen – den Zustand des vollen Bewusstseins aufrechtzuerhalten oder von Moment zu Moment zu treiben, in einem halbbewussten Dunst, der Gnade der zufälligen Assoziationen seines unfokussierten Denkapparates ausgeliefert.

    Doch die Lebewesen, die ein Bewusstsein besitzen, müssen es ausüben, um zu überleben. Das Bewusstsein eines Tieres funktioniert automatisch; ein Tier nimmt das wahr, wozu es in der Lage ist und überlebt dementsprechend; nicht mehr als es die wahrnehmende Stufe erlaubt und nicht besser. Der Mensch kann nicht auf der wahrnehmenden Stufe seines Bewusstseins überleben: Seine Sinne versorgen ihn nicht mit einer automatischen Anleitung, sie geben ihm nicht das Wissen, das er braucht, sondern nur das Material, welches sein Verstand integrieren muss. Der Mensch ist die einzige Spezies, die die Realität aus eigener Entscheidung wahrnehmen muss – d.h., er muss sich entscheiden, bewusst zu sein. Aber er teilt mit anderen Spezies die Strafe für Bewusstlosigkeit: die Zerstörung. Für ein Tier ist die Frage des Überlebens primär physisch; für den Menschen primär erkenntnistheoretisch.

    Die einzigartige Belohnung des Menschen besteht jedoch darin, dass er im Gegensatz zu Tieren nicht durch die Anpassung an seine Umwelt überlebt, sondern durch die Anpassung der Umwelt an sich selbst. Wenn eine Dürre sie ereilt, sterben Tiere – der Mensch baut Bewässerungskanäle; wenn eine Überschwemmung sie ereilt, sterben Tiere – der Mensch baut Dämme; wenn ein blutrünstiges Rudel sie angreift, sterben Tiere – der Mensch schreibt die Verfassung der Vereinigten Staaten. Aber man erlangt Nahrung, Sicherheit oder Freiheit nicht durch Instinkt.

    Gegen dieses Vermögen, das Vernunftvermögen, rebellieren Attila und der Geisterbeschwörer. Der Schlüssel zu ihren Seelen ist ihre Sehnsucht nach dem mühelosen, verantwortungslosen, automatischen Bewusstsein eines Tieres. Beide fürchten die Notwendigkeit, das Risiko und die Verantwortung rationaler Erkenntnis. Beide fürchten die Tatsache, dass man „um der Natur zu befehlen, ihr gehorchen muss". Beide wollen nicht durch die Eroberung der Natur existieren, sondern durch die Anpassung an das Gegebene, das Unmittelbare, das Bekannte. Wer aber die Natur nicht erobern will, für den gibt es nur eine Überlebensgrundlage: die zu erobern, die es tun.

    Die physische Eroberung von Menschen ist Attilas Methode zum Überleben. Für ihn sind Menschen das, was für andere Obstbäume oder Nutztiere sind: Objekte der Natur, die man sich nur greifen muss. Aber während ein guter Bauer zumindest weiß, dass Obstbäume und Tiere eine spezifische Natur haben und eine bestimmte Art der Behandlung brauchen, reicht die wahrnehmende Denkart Attilas nicht bis zu einer so abstrakten Stufe; Menschen sind für ihn ein natürliches Phänomen und ein unreduzierbarer Grundsatz, wie alle natürlichen Phänomene für ein Tier ein unreduzierbarer Grundsatz sind. Attila fühlt keine Notwendigkeit, zu verstehen, zu erklären, nicht einmal sich zu wundern, wie Menschen es schaffen, die Dinge zu produzieren, die er begehrt – „irgendwie ist für ihn eine völlig befriedigende Antwort, da er sich weigert, solche Fragen wie „Warum? und „Wie? oder solche Begriffe wie Identität und Kausalität zu erwägen. Alles was er braucht, so sagen ihm seine „Triebe, sind größere Muskeln, größere Keulen oder eine größere Bande, um sie und ihre Produkte zu greifen, wonach sie seinen Befehlen gehorchen und (irgendwie) seine Wünsche befriedigen werden. Er geht an Menschen heran wie ein Raubtier – und die Konsequenzen seiner Handlungen oder die Möglichkeit, seine Opfer aufzubrauchen, kommt ihm nie ins Bewusstsein, das er nicht über den gegebenen Moment hinaus erweitern will. In seiner Weltanschauung gibt es die Kraft der Produktion nicht. Die Kraft der Zerstörung, der brutalen Gewalt, ist für ihn metaphysisch allmächtig.

    Ein Attila denkt nie ans Erschaffen, nur ans Übernehmen. Immer, wenn er einen Nachbarstamm erobert oder einen Kontinent überrennt, ist materielle Beute sein einziges Ziel, und es endet mit ihrer Ergreifung: Er hat kein anderes Ziel, keinen Plan, kein System, das er den Eroberten aufzwingt, und auch keine Werte. Seine Freuden liegen näher an der Stufe der Sinneseindrücke als an der der Wahrnehmung: Essen, Trinken, Paläste, teure Kleidung, wahlloser Sex, Wettkämpfe in körperlicher Stärke, Glücksspiel – alle Aktivitäten, die nicht die Verwendung der begrifflichen Bewusstseinsstufe verlangen oder enthalten. Er erschafft seine Freuden nicht: Er begehrt und strebt nach dem, was alle anderen begehren. Sogar im Reich der Begierden erschafft er nicht – er übernimmt nur.

    Doch ein menschliches Wesen kann sein Leben nicht von Moment zu Moment führen; ein menschliches Bewusstsein bewahrt eine gewisse Kontinuität und verlangt ein bestimmtes Maß an Integration, ob der Mensch es will oder nicht. Ein menschliches Wesen braucht einen Bezugsrahmen, eine zusammenhängende Weltanschauung, und sei es nur eine rudimentäre – und da sein Bewusstsein willentlich ist, braucht er das Gefühl, Recht zu haben, eine moralische Rechtfertigung für seine Handlungen zu haben, d.h. einen philosophischen Wertekanon. Wer also versorgt Attila mit Werten? Der Geisterbeschwörer.

    Wenn Attilas Methode zum Überleben die Eroberung derer ist, die die Natur erobern, ist die Methode des Geisterbeschwörers sicherer, so glaubt er, da sie ihm das Risiko des körperlichen Konflikts erspart. Seine Methode ist die Eroberung derer, die die erobern, die die Natur erobern. Er will nicht Körper beherrschen, sondern Seelen.

    Für Attila wie für ein Tier sind die Phänomene der Natur unreduzierbare Grundsätze. Für ein Tier und den Geisterbeschwörer ist dieser unreduzierbare Grundsatz das automatische Phänomen des eigenen Bewusstseins.

    Ein Tier hat keine Kritikfähigkeit; es hat keine Kontrolle über die Funktion seines Gehirns und keine Macht, seinen Inhalt zu hinterfragen. Für ein Tier ist das, was seine Aufmerksamkeit erregt, etwas Absolutes, das der Realität entspricht – oder besser gesagt, ist dies eine Unterscheidung, die es nicht treffen kann: Realität ist das, was es wahrnimmt oder fühlt. Und dies ist das erkenntnistheoretische Ideal des Geisterbeschwörers, der Bewusstseinsmodus, den er in sich selbst erzeugen will. Für den Geister­beschwörer sind Gefühle Mittel der Wahrnehmung, und Wünsche haben Vorrang vor Fakten. Er will vor dem Risiko, Wissen zu suchen, fliehen – durch die Auslöschung des Unterschieds zwischen Bewusstsein und Realität, zwischen Betrachter und Betrachtetem. Er hofft, dass er durch das blinde, unfokussierte Starren seiner inwärts gedrehten Augen eine automatische Gewissheit und eine unfehlbare Kenntnis des Universums bekommt, indem er über die Gefühle, die Triebe, die dumpfen assoziativen Verdrehungen nachdenkt, die der ruderlose Mechanismus seines richtungslosen Bewusstseins projiziert. Was auch immer dieser Mechanismus produziert, ist etwas Absolutes, das nicht hinterfragt werden darf – und immer wenn es mit der Realität in Konflikt gerät, ignoriert er die Realität.

    Da das ständig passiert, sieht die Lösung des Geisterbeschwörers so aus: Er glaubt, dass das, was er wahrnimmt, eine andere, „höhere Realität sei – wo seine Wünsche allmächtig sind, wo Widersprüche möglich sind und ein A ein Nicht-A ist, wo seine Behauptungen, die auf der Erde falsch sind, wahr werden und den Status einer „höheren Wahrheit einnehmen, die er mittels einer besonderen Fähigkeit wahrnimmt, die anderen, „niederen Wesen vorenthalten ist. Der einzige irdische Beweis für sein Bewusstsein ist der Glaube und der Gehorsam anderer, wenn sie seine „Wahrheit über ihre Wahrnehmung der Realität stellen. Während Attila Gehorsam mittels einer Keule erzwingt, erlangt der Geisterbeschwörer Gehorsam mittels einer mächtigeren Waffe: Er besetzt das Gebiet der Moral.

    Man kann Moral nur dann in eine Waffe der Versklavung verwandeln, wenn man sie vom Verstand und von den Zielen der menschlichen Existenz abspaltet. Man kann das Leben des Menschen auf der Erde nur durch die tödliche Entzweiung des Moralischen und des Praktischen degradieren. Moral ist ein Wertekanon, der die Entscheidungen und Handlungen des Menschen leiten soll. Wenn er so aufgebaut ist, dass er sich gegen das Leben und den Verstand wendet, wendet der Mensch sich gegen sich selbst und handelt blind als Werkzeug seiner eigenen Zerstörung. Der Mensch kann die Rolle eines Opfertieres aber nur dann freiwillig annehmen, wenn seine Selbstachtung zerstört wird. Man kann seine Selbstachtung aber nur zerstören, wenn

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