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Angriff auf Syrakus: Anfang und Ende der Spurensuche
Angriff auf Syrakus: Anfang und Ende der Spurensuche
Angriff auf Syrakus: Anfang und Ende der Spurensuche
eBook343 Seiten4 Stunden

Angriff auf Syrakus: Anfang und Ende der Spurensuche

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Über dieses E-Book

Tja, mein Freund, meinte Hagenbusch zu mir, ich habe das Privileg, dass ich der Gesellschaft dieser Menschen enthoben bin. (...) Sie sind zwar oft geistreich und sogar gebildet, moralisch jedoch verfault. Und sie reden ununterbrochen von der Moral, auf eine Weise, wie das früher nur die Könige taten. Der Mensch, mein Lieber, ist ein Schwein. Es gibt nur sehr wenige wie du und ich, und schon bald wird es keine mehr geben.

Ich lese nie Gebrauchsanweisungen, meinte ich, ausser solche fürs Universum, und das ist eine.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Juni 2020
ISBN9783749494644
Angriff auf Syrakus: Anfang und Ende der Spurensuche
Autor

Adrian W. Fröhlich

Der Autor ist Philosoph, Arzt und Psychiater, geboren 1953. Er geht in diesem Buch seiner eigenen Verwandlung nach. Dabei zeigt es sich, dass seine Geschichte nicht nur eine solche des Lebens, sondern noch entschiedener eine solche des Denkens ist.

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    Buchvorschau

    Angriff auf Syrakus - Adrian W. Fröhlich

    Wie alle meine Bücher ist auch dieses von mir selbst lektoriert und korrigiert worden, so dass es zahlreiche Eigenheiten und Fehler enthalten kann, die mir entgingen, oder die meiner schweizerischen Ausdrucksweise geschuldet sind. Man möge, sofern man sich dazu in der Lage sieht, grosszügig darüber hinwegsehen.

    Die Belagerung von Syrakus 396 v. Chr. durch Himilkon von Karthago. Dargestellt sind links in der Ebene vor der Stadt Feldlager und Angriffsstrassen gegen die Mauern der Euryalos-Festung auf der Epipolai, sowie ein Doppelangriff der punischen Flotte (ganz links und rechts) auf die Stadtinsel Ortygia, Residenz Dionysios I., um die sich die griechische Flotte geschart hat. (Handzeichnung des Autors, 1989)

    Inhaltsverzeichnis

    TITEL UND ANSPRUCH

    DER COLT IN DEN KULISSEN

    MEINE GELIEBTE TOCHTER…

    MIT HAGENBUSCH DENKEN

    «KALEIDON», DER URKNALL

    «SCHÖPFUNG RELOADED» RELOADED

    MIND PLOTS, MODE SHIFTS

    VOM LAUF DER DINGE

    EINE BILANZ

    TITEL UND ANSPRUCH

    Im für mein Denken wegweisenden Dialog «Kaleidon» – dessen wichtigster Abschnitt im vorliegenden Buch enthalten ist - wird ein fiktiver römischer Angriff auf das vom nicht minder fiktiven Spartaner Kaleidon verteidigte Syrakus konstruiert, der sich an historische Angriffe auf die Stadt anlehnt, bei welcher Spartaner (ob nun Spartiaten oder Mothaken) jeweils das Steuer zugunsten der Stadt herumzureissen vermocht hatten, wie gegen Athen und später mehrere Male gegen Karthago, beispielsweise 396 v. Chr., als Himilkon die von Dionysios I. kurz zuvor überstark befestigte Riesenstadt erfolglos angriff (siehe meine Handzeichnung).

    Der im Dialog «Kaleidon» in der Stadt gefangene Römer Scipio - einem ciceronischen Dialog entnommen - muss den Ausgang der Belagerung mitbestimmen, indem er dem spartanischen Hegemonen Kaleidon auf dessen Befehl erklären soll, was «Wahrheit» ist. Angesichts der Bedrohung durch den herangerückten, imperialen Ungeist soll also eine letzte Betrachtung dessen, was den Kultivierten auszeichnet, Vorrang vor dem Krieg geniessen. Der abgedruckte Teil des relativ umfangreichen Dialogs, der mehrere Themen behandelt, enthält meine mit neunzehn Jahren beim Niederschreiben des Gesprächs errungene Grunderkenntnis über die Fatalitäten ontologischer Betrachtungen.

    Im Grunde fasst die Metapher des Angriffs auf das antike Syrakus die Lage, der wir uns heute in Europa insgesamt ausgesetzt sehen, in ein allgemein verständliches Bild. Syrakus steht hier für das herkömmliche, das alte Europa, den «Okzident», verteidigt nur noch durch verzweifelte Populisten mit Bildungsanspruch, wie ihn die Grossväter pflegten. Die Stadt, am Geschehen, wie der historisch Versierte noch weiss, keineswegs unschuldig, verteidigt sich angesichts der Lage gegen einen immer mächtiger werdenden, inneren Gegner - grosse Teile der eigenen Bevölkerung, die sich einem billigen Opportunismus verschrieben haben, um weiter zechen und prassen zu können - und gegen einen äusseren Feind, der wie damals Karthago aus dem «Orient» (im Dialog ist es freilich das aus hellenischer Sicht nicht minder barbarische Rom), halb herbeigerufen, halb angelockt, halb provoziert, halb aus eigenem Antrieb, doch vor allem enorm beutelüstern heranrückt.

    In der Rolle dieses «Scipio» in dem sich hinziehenden, mal näherkommenden, mal entfernteren Kampf der Kulturen habe ich mein bisheriges philosophisches Leben verbracht. Auf der Suche nach der «Wahrheit» und ihrer Einbettung in das Zeitgeschehen schrieb ich über Jahrzehnte Texte, die sich mit Politik, Kultur und Philosophie auseinandersetzen. Das hat mich schliesslich zu den für mich, eingedenk meines Alters, absehbar endgültigen Positionen gebracht, deren Darstellung ich mit diesem Buch abschliessen will.

    Vedersö Klit, 2019, Langendorf, 2020

    DER COLT IN DEN KULISSEN

    Autoren irren, wenn sie meinen, jemand interessiere sich für ihre gesamte, komplexe Argumentation, Wissen gelange überhaupt durch Lesen in die Köpfe, und der Mensch könne mehr wissen, als er gerade jetzt weiss, es seien Ideen und Argumente, welche die Welt lenkten. Was den Menschen von einem anderen Menschen überzeugt, ist sein Geruch, nicht sein Geist, oder besser gesagt, hält er dessen Geruch für seinen Geist. Da Bücher den Geruch des Autors nicht verströmen, ist auch der Geist des Autors in neun von zehn Fällen dem Leser nicht erfahrbar.

    Auf der Welt setzen sich sowieso keine Ideen durch, sondern ausschliesslich Vorteile. Der allgemeinste Vorteil ist das Kapital, sind Gold und Geld, der spezifischste ist Sex. Frauen punkten bis zum heutigen Tag am meisten mit dem spezifischen, Männer mit dem allgemeinen Vorteil.

    Bücher bewirken in der Postmoderne nichts mehr. Diese Erkenntnis muss ein Autor erst gewonnen haben, bevor er mitreden kann. Was etwas bewirkt - falls überhaupt irgendwo eine Wirkung erkennbar wird -, ist das Meme. Wenn ein letzter, verirrter Leser ein Buch ganz gelesen hat, und man fragt ihn, was drinsteht, erzählt er Dinge, die dem Autor völlig fremd sind. Ganzleser sind Perverse, die schreiben, indem sie lesen, was andere schrieben. Kein Autor kann sie wollen. Jedes anständige Buch ist ohnehin nur das Selbstgespräch des Autors über die Sache, die er sich erschreibt.

    In Michelangelo Antonionis Film Blow up spielt die ständige Vergrösserung einer Fotografie die zentrale Rolle. Der Künstler fotografiert ein Paar in einem Park. Doch beim Entwickeln des Negativs fällt ihm im Hintergrund ein Detail auf, das ihn immer stärker beunruhigt, je mehr er das Bild durch Vergrösserung aufbläht. Schliesslich kommt ein Revolver zum Vorschein, der auf die beiden gerichtet ist. Er ist der buchstäbliche rauchende Colt.

    Der Colt in meinem Leben ist in der Tat meine Geburt, an die ich seltsame Erinnerungen habe. Er taucht dann wieder auf bei der Geburt meines Denkens angesichts der Lektüre des platonischen Parmenides, er bestimmte das Geschehen rund um Hagenbusch 1984 und um Plastware 1991. Immer, wo er in meinem Leben auftaucht, passierte etwas Entscheidendes, entstand ein Werk, ereignete sich ein Durchbruch oder explodierte eine Gewissheit, wie im Januar 1998, dem Tiefpunkt meiner Existenz.

    Doch auch später geistert er noch in den Kulissen herum und bewirkt Entscheidendes. Das Bild vom Colt, von der smoking gun, ist zutreffend, handelt es sich bei diesem Objekt doch um ein Explosionsgerät. Seine Betätigung bewirkt eine Kette von Explosionen, eine erste in ihrem Schloss, eine zweite in der Materie, die vom Projektil getroffen wird, eine dritte im Bewusstsein des Getroffenen, sofern es die zweite überlebt. Wo der Colt auftaucht, da kommt es zu einem Quantensprung, zerreisst das Kontinuum, und es wird neu geknüpft.

    Dieses Buch kreist um Einschüsse, die Erkenntnisse sind, die ohne diese Gewalt nicht zustande gekommen wären. Man kann tiefe Dinge nicht erfahren, wenn man sich nicht dem Beschuss aussetzt. Dieser Beschuss heisst von alters her das Schicksal.

    MEINE GELIEBTE TOCHTER…

    …es tut mir leid, dir eine Welt zu hinterlassen, auf deren Entwicklung ich keinen Einfluss hatte. Ich fürchte, weil ich Zeuge dieser Entwicklung war und weiss, wie der Hase läuft, dass auch du auf sie kaum Einfluss haben wirst. Wie Leibniz kann man sich damit trösten, dass das hier immer noch die beste aller Welten sei. Wenn das so ist, dann verstehen wir ihr Grundgesetz entweder immer noch nicht, oder sie verhält sich nur chaostheoretisch erklärbar. Das Erste ist unwahrscheinlich, das Zweite unappetitlich, aber erstaunlich vernünftig.

    Ich bin Zeuge einer Epoche gewesen, in der alles zerstört wurde, was hoch und edel schien, und in welcher der Geist als eine unabhängige Instanz abdankte. Dagegen ist die Technologie in dieser Zeit geradezu explodiert. Aus einer Welt der Haltung und des Geistes, die zugleich eine sinnliche Welt war, da zwischen den Menschen noch keine Maschinen vermittelten, und alles auf Anhieb sitzen musste, wurde eine Welt narzisstischer Selbstblasen, zwischen denen sich die Welt der Informationstechnologie ausdehnt. Du wirst wohl Zeuge davon werden, wie aus den Smartphones Roboter werden und aus dem Internet kohärente, holografische Welten. Du wirst das Ende der Freiheit des Individuums miterleben und seine Entschädigung durch lebensbegleitende, artifizielle Pornografie, die zur Pornobiotik aufsteigt. Du wirst dabei sein, wenn der Geist ganz verschwindet, und Denk- und Sprachtokens ihn ersetzen. Niemand wird sich in jener Zukunft, die du noch erleben wirst, mehr vorstellen können, selbst zu denken und etwas selbst zu entwickeln, weil das Universum des Verfügbaren so erdrückend sein wird, dass für Selbstgemachtes überhaupt kein Platz mehr ist. Es wird aussehen, als wären die Menschen sehr gescheit geworden, so wie heute jeder Mensch durch sein Auto hochmobil ist und Kräfte dirigiert, welche die seinen um Welten übertreffen. Und doch begreift er nichts an seinem Automobil.

    Doch es kann auch anders kommen. Es kann eine Zeit des Ressourcentransfers in eine neue, islamistische Religiosität anbrechen, welche der Technikentwicklung Hemmschuhe anzieht.

    Wahrscheinlich wird beides zugleich passieren.

    Du wirst erleben, dass Schauspielhäuser und Opernpaläste geschlossen werden, dass die grossen Bibliotheken verschwinden, dass die Festivals der klassischen Musik mangels Interesses und Finanzen der Vergangenheit angehören. Du wirst erleben, dass die meisten der Kirchen schliessen und umgenutzt werden. Du wirst erleben, dass ein neues Kollektivzeitalter unsere jetzige Epoche aussehen lässt wie ein fernes, goldenes Zeitalter individueller Freiheit, deren Realität man im Nachhinein bestreiten wird.

    Du wirst erfahren, dass - bis hinein in die kommende Tyrannis - alles und jedes «Demokratie» und «Entwicklung der Demokratie» genannt werden wird. Jede Reduktion der Demokratie wird als ein Entwicklungsschritt der Demokratie empfunden werden. Eine kommende Gottesherrschaft schliesslich wird man als den Inbegriff der Demokratie feiern und die Unterwerfung des Menschen als den Inbegriff seiner Befreiung. Individualität wird man als Asozialität brandmarken, echte Asozialität dagegen wird sich als eine Schergenkultur etablieren, die einer höheren Weihe unterworfen ist. Die ganze Welt wird auf den Kopf gestellt, auch im Biologischen. Die künftigen Eliten werden hauptsächlich aus Orientalen und aus Afrikanern bestehen.

    Du wirst dabei sein, wenn man dereinst Russland wie seinerzeit Deutschland mit Krieg überzieht, aufteilt und aussaugt. Du wirst erleben, dass Hundert Millionen Afrikaner in Russland einziehen, und dass das russische Volk, wie wir es heute kennen, ebenso verschwinden wird wie weit vorher das deutsche oder das schweizerische. Du wirst erleben, dass künftig an allem stets das Opfer schuld sein wird, nie der Täter. Und du wirst unermesslich reiche Verbrecher erleben, die als Midasse und Krösusse über die ganze Erde herrschen, tausendfach abgesichert, wie einst die chinesischen Kaiser in der verbotenen Stadt. Und man wird dir sagen, das seien die demokratischen Führer, welche die Menschheit immer gesucht habe, und jetzt endlich seien sie gekommen, wie die alten Pharaonen zu den Fellachen am Nil, und du wirst zu den Fellachen gehören, wie alle anderen auch.

    Vorausgesetzt, du wirst alt genug. Ich denke, du könntest bis gegen das Ende des Jahrhunderts leben. Wenn du dereinst auf deinen Vater zurückblickst, wird er dir naiv und unerfahren vorkommen, weil so vieles erst nach seinem Tod geschah. Doch der Schein trügt auch hier. Der Unterschied zwischen uns wird in Wahrheit gering sein. Und so war es auch zwischen mir und meinem Vater. Und zwischen ihm und seinem. Durch die Fülle meiner Aufzeichnungen wirst du aber ungleich viel besser vergleichen können, als ich es in Bezug auf meinen Vater vermochte, und in Bezug auf den Grossvater leider gar nicht. Halte auch du so viel wie möglich fest, falls du Kinder hast oder den Menschen in Erinnerung bleiben willst. Doch ist das nicht nötig. Nötig ist nur, wirklich gelebt zu haben.

    Es ist nicht so, dass wir etwa «zu kurz» leben. Nein, die Kürze unserer Lebensspanne ist ein Segen! Du wirst erfahren, dass das Sterben der Sinn von allem ist, und dass deine Erinnerung mit deinem Tod ewig wird, gerade weil niemand sie kennt! Ein Mysterium, ich weiss, auch du wirst es erfahren. Das gelebte Leben ist die Ewigkeit und nicht das, was nach dem Tod folgt, denn es folgt nichts. Die beschränkte Ewigkeit ist der Sinn von allem. Was wir uns mitteilen, ist weniger wichtig und fast immer eitel. Im Moment, wo ich im Tod meine Augen schliesse, hat alles stattgefunden, wurde es erst ganz, aber nur für mich und das Universum, nicht für die, die weiterleben.

    Trauere also nicht um mich, sondern um diese Welt! Denn sie wird bestimmt sein durch das Chaos, weil der Mensch unfähig ist, sie zu bewahren. Er versagt ununterbrochen und nennt es Entwicklung und Regierung. Nicht mein Tod ist traurig, denn er ist schön, wohl aber dein Weiterleben ist es, bis auch dein Tod die Schönheit zu dir zurückbringt.

    Denke in fünfzig Jahren an Viggo und an Malu zurück! Und weine, nicht um die beiden, sondern um die Schönheit ihres Lebens, um die Güte die darin liegt, gestorben zu sein, heute nicht mehr sein zu müssen, sondern in der Erinnerung versunken und im Vergessen zu existieren. Denke an deinen Vater zurück, denke daran, wie sehr er um Sinn und Erkenntnis rang, und dass er mit dem hoch zufrieden war, was er fand! Er fand es ganz allein. Er war einer derjenigen, die alles ganz allein tun. Wie vieles er fand, weisst du nur ansatzweise, und auch das Studium seiner Werke wird es dir nicht wirklich erschliessen. Das ist gut so. So ist es eben.

    Du wirst darüber lächeln, wie dein Vater die Zukunft sah, denn sie wird anders sein, wird unendlich langsam kriechen, und doch wiederum heranrasen, und sie wird noch vieles enthalten, von dem dein Vater annahm, es entfalle künftig. Darum wirst du als ihre Zeugin unentbehrlich sein. Dein Vater konnte deine Zukunft nicht vorwegnehmen, dazu braucht es dich selbst. Wie schön! Du wirst weiser sein als dein Vater, und doch nicht, wirst mehr wissen, und doch nicht. So wie das auch bei mir und bei meinem Vater war.

    Da wir, du und ich, beide ein Problem mit unseren Müttern hatten und haben, wird uns deren Verschwinden wenig ausmachen, dennoch aber vor das Rätsel stellen, wieso Mütter ihre Kinder nicht sein lassen können? Die Verhaftung durch die Mütter teilt uns mit, dass da noch eine andere Welt existiert, in der es den Tod nicht gibt, die Welt der Geburt, und dass die Herrin über sie nichts von der Freiheit weiss. Freiheit gibt es nur angesichts des Todes. Nur da bedeutet sie etwas.

    Ich weiss nicht, wieso das alte Europa, dieser gewaltige Kunstkosmos, dieser Wissenspalast, diese unendlich schönen Länder untergehen mussten, aber sie taten es, Zug um Zug. Die offiziellen Erklärungen dafür sind wertlos, sind eitle Ausreden. Es steckt Verantwortungslosigkeit dahinter. Der Untergang jener alten, intakten, auf Natur und Kunst und Mass gegründeten Welt habe ich noch miterlebt. Ich erlebte mit, wie sich der gewöhnliche Mensch ins Prinzipienlose verabschiedete und zum Parasiten an der ganzen Welt wurde, und wie die Intellektuellen versandeten und zu Ideologen und Adakadabristen wurden, wie sie entseelten und erloschen. Es hat mir unendlichen Schmerz bereitet, dieses Ende der alten Welt! Im Aufbruch der Sechziger lag eine puerile Auflehnung dagegen, die sehr rasch den Marxisten zum Opfer fiel. Ich kann nur hoffen, dass der Marxismus dereinst überwunden wird, aber ich glaube nicht daran. Er ist ein perfides, noetisches Gift. Er schmeichelt dem Durchschnittsgeist und dem eitlen Narren, dem Vaganten und Verbrecher, die er allesamt in den Adelsstand erhebt.

    Ich habe die alte Welt mit ihren Dörfern, Handwerkern und schmalen Strassen und den alten Kreuzungen und die unasphaltierten Alpenpässe noch erlebt, das Blau stiller Sommertage voller Heuduft, tief verschneite Winternächte voller Sterne in einem pechschwarzen Himmel. Ich habe es noch erlebt, als die Parlamente voll ernster, reifer Männer waren, und die Regierungsvertreter waren unnahbare, disziplinierte Herren von überragender Ausbildung, makellosem Lebenslauf und höchstem Treuebewusstsein. Du dagegen erlebst jetzt Kindergartenparlamente und unreife Politikerinnen in höchsten Ämtern, einen Zirkus voller Eitelkeit und Unbildung, eine unablässige Behaupterei ohne Hintergrund, und das Fehlen persönlicher Integrität und Treue. Das war und ist wieder das Zeitalter des späten Tiberius, des Caligula, des Claudius und des Nero, ein Zeitalter des Unernsten und der ewigen Party, der Verkommenheit und des falschen, des schmierig Satirischen. Dieses Zeitalter wird weggewischt werden, denn Geschichte erträgt keine Kinder und keine Unreife. Du wirst Zeuge von all dem sein. Ich umarme dich durch die Zeiten hindurch.

    MIT HAGENBUSCH DENKEN

    Im Carlton

    In gewisser Weise sind meine Bücher also wertlos, sofern man die Ansicht vertritt, dass ohne Wert sei, was keiner versteht. Freilich wäre das eine hypermoderne Sicht auf die Welt. Denn bis anhin galt alles, was zu schwierig war, noch als Schatz. Sein Wert war umso grösser, je weniger Leute ihn verstanden. Doch in der Epoche, in der wir seit einigen Jahrzehnten leben, ist alles anders geworden. Hier bemisst man den Wert einer Sache daran, wie viele Leute sie kaufen, zumindest kaufen würden, empfänden sie auch nur das geringste Verlangen danach, was sie natürlich nur in den allerseltensten Fällen tun. Niemand kauft heute ein schwieriges Buch, ausser er müsse an einer höheren Lehranstalt eine Prüfung ablegen, wozu das Buch Voraussetzung ist. Doch auch da wird er sich einer der auf dem Netz verfügbaren Zusammenfassungen bedienen, die der Einfachheit seines Verstandes entgegenkommen und ihm das Gefühl geben, er sei gescheit.

    Nun, gescheite Menschen im eigentlichen Sinn gibt es kaum noch. Gescheit sein bedeutet nicht automatisch auch intelligent sein. Viele Leute sind intelligent bis sehr intelligent, sind aber keinesfalls so etwas wie «gescheit». Zur Gescheitheit gehört mehr als die blosse, die messbare Intelligenz. Nicht nur gehört eine umfassende Lebens- und Selbsterfahrung zu seinen Prämissen, sondern auch ein kluger Körper. Doch was ist das, ein kluger Körper? Der kluge Körper ist der durch den Geist vollständig und hochgradig kongruent bewohnte Körper, eine Rarität unter modernen Menschen, die sich in aller Regel – weil fundamental nur noch Konsumenten - gehen lassen.

    Und was wäre denn Geist? Der Geist ist keine Entität, er ist ein Hilfskonstrukt der Sprache. Der Geist ist die intelligible Welt, eine Definition, die ihn bereits enthält. Er hat diesbezüglich nicht von ungefähr eine gewisse Ähnlichkeit mit «Gott». Beide existieren im trivialen Sinn nicht. «Gott» lässt sich nur in einer Psychose erfahren, der Geist aber nur ohne eine solche. Ich möchte sagen: «Gott» ist der psychotische Geist, «Geist» ist der gesunde Gott. Und beides sind wir selbst.

    Wie immer, wenn ich mich verständlicher ausdrücken möchte, als es mein Brauch ist, führe ich Gespräche. Aber keine mit Menschen, die «Meinungen» vertreten. Wer eine Meinung vertritt, taugt nicht als Debattant! Das hat nicht nur, wie jedermann weiss, Sokrates klargestellt, es gilt noch viel grundsätzlicher, als Sokrates es herausstellte. Doch gibt es eben auch Ausnahmen von der Regel, und zwar von allerhöchster Qualität, und also waren und sind sie äusserst selten. Die letzte solche Debatte, in der alle Beteiligten «Meinungen» vertraten, führten Einstein, Bohr, Pauli, Dirac, Heisenberg, Planck, Schrödinger und Sommerfeld. Geht man noch weiter zurück, landet man ohne nennenswerte Zwischenhalte in Platons Zeitalter, im Athen des späten Peloponnesischen Krieges und kurz danach.

    Was kennzeichnet nun den idealen Debattanten? Wie wir ahnen, ist es nicht seine «Meinung». Sokrates hat darauf hingewiesen, was in all diesen Dingen unabdingbar ist: Mäeutik. Der Debattant muss das Handwerk der geistigen Hebamme beherrschen. Er muss weder selbst im Geiste Kinder zeugen, noch muss er die geistigen Kinder seines Gegenübers mit Hilfe von Argumenten liquidieren, wie das die Sophisten tun, um seiner Rolle als Debattant gerecht zu werden. Er muss sie gewissermassen erst noch zur Welt bringen, obschon sie ja bereits da sind, in den mit ihnen schwangeren Köpfen. Sie sind durch einen Affekt bedeckt, im Falschen verborgen, in Gerede eingewickelt. Der ideale Debattant erspürt den Gedanken in den Klauen dieser Kalamitäten, empfindet seine genaue Lage im Kontext der Irrtümer, und er hilft, ihn in Worte zu fassen, indem er dem Anderen, der mit ihm schwanger geht, seelenruhig zuredet, bis die Dinge in diesem drin von selbst in Fluss gelangen und sich das Erz von der Schlacke trennt. Dann formuliert er mit dem Gebärenden mit, bis das Kind im Licht liegt und schreit. Es geht ihm nur darum, womit sein Gegenüber schwanger ist, nie um Eigenes! Eigenes bringt er nur so ein, als dass er zusieht, dass sein Gegenüber die ihm angebotene Hilfe als Teil des Prozesses annimmt, der ihn zur Klarheit führt. Zwar kann, darf und soll er zwischendurch auch einmal smalltalken, dies aber nicht als Teil des Geburtsvorgangs missverstehen, sondern im Sinne einer Entspannungstechnik einsetzen, um dann an einem gewissen Punkt wieder Tritt zu fassen.

    Doch wieso soll genau das eine Debatte sein? Nun, ja, weil es keine andere gibt. Alles andere erweist sich als Geschwätz, oder es ist Gedankenmord. Eine Debatte ist also die Geburt eines lebenstauglichen, gedanklichen Kindes eines Einzelnen unter Zuhilfenahme der Künste Anderer, und nicht jener Salat, den «Meinungsträger» anrichten, wie in den medialen Talkshows. Zu debattieren bedeutet nicht, dass jeder seine «Meinung» äussert, so dass am Ende alle ausgesagt haben, was sie angeblich denken und vertreten. Was so entsteht, ist ein kognitiver Salat und kein Kochgericht.

    Wenn wir nun betrachten, was denn jene beiden historischen Ausnahmen ausgezeichnet hat, erkennen wir zwei Sachverhalte: Erstens waren alle Beteiligten Genies. Und zweitens hielten sie sich alle ausschliesslich im Bereich der Sache auf, nie in jenem der Person. Das ist von entscheidender Bedeutung für den geistigen Fortschritt. Wer das Sachliche mit dem Personalen vermischt, ist nicht debattentauglich. In diesem Sinne gab und gibt es ganze Kulturen, in der es nie auch nur eine einzige Debatte gab, respektive gibt. Die Teilnehmer an den grossen Ausnahmedebatten unserer eigenen Kulturen bearbeiteten stets den gemeinsamen Nenner, nie die Zähler. In den alltäglichen «Salatgesprächen» hingegen geht es fast ausschliesslich um die Zähler und nur dann um einen gemeinsamen Nenner, wenn er verneint, bzw. entwertet werden soll. Nicht das Gemeinsame gilt hier als das Ergebnis des Kommunizierens, sondern die Vielfalt des Unvereinbaren, das Unausgegorene, Behauptete, Subjektive und rein Zufällige. Und es setzt sich immer durch, wessen Beziehungsmacht sich durchsetzt, was fast immer damit verbunden ist, dass emotionale Gewalt – erpresserisch, manipulativ - eingesetzt wird. Diese ist der rauchende Colt des ad personam Redens, der Tod der Sachlichkeit.

    Immer dann, wenn ich selbst debattieren möchte, um gewisse Dinge klarer zu fassen, lasse ich mich sozusagen «interviewen». Das Interview ist zwar eine eminent sophistische Allzweckwaffe, doch gibt es auch hier Könner. Das beste Interview nach Sokrates führte meines Erachtens Fellini in seinem gleichnamigen Film, ein Interview mit sich selbst, die höchste aller Debattenformen überhaupt.

    Zu diesem Zweck verlasse ich jeweils mein Heim und begebe mich sehr weit weg, tausend oder mehr Kilometer, um es hinter mir zu lassen. Ich nehme nur die Sache mit auf den Weg, und ich lasse alles Alltägliche zurück. Ich bin mit mir allein, wenn ich mich zu einem Interview begebe. Tiefe Denker und Denkerinnen sind autistisch veranlagt, manchmal weniger, manchmal mehr, und wie in Diracs Fall, sogar sehr. Man kann die Welt nicht «gemeinsam» entdecken, man entdeckt sie immer nur für sich selbst, und das geht dann am einfachsten, wenn man wirklich ganz allein ist. Es existiert keine kollektive Erkenntnis, die mehr wäre als geistiger Unrat. Kommen Hochgescheite zusammen, bilden sie nie ein «Team», obschon auch sie davon sprechen, Teil eines «Teams» zu sein. Die Solvay-Konferenzen waren keine Teambildungsprozesse. Wer ein Team bilden will, hat «nichts zu sagen». Es geht ihm um Beziehungsintelligenz, nicht um die Sache selbst. Selbst wo Wissenschaftler, wie etwa im CERN, zusammenarbeiten, passieren alle wichtigen Schritte abseits des «Teams», so wie der Jäger nicht in der Höhle jagt, wo alle beisammensitzen, sondern draussen in der Leere der Wildnis. Er kann dort zwar mit anderen unterwegs sein. Geht es aber um die Wurst, operiert nicht ein «Team» mit einer Teamintelligenz, sondern eine Handvoll hochtrainierter, talentierter Einzelner, jeder seine Legende, jeder allein. Nur so hat das vermeintliche «Team» eine Chance auf den Durchbruch.

    Das Bewusstsein für diesen basalen Zusammenhang ist in unserer Zeit abhandengekommen. Durch die Inflation an Teams und Teambildungsprozessen wurde Zusammenarbeit dermassen entseelt und trivialisiert, dass die Beziehungsintelligenz die Sachintelligenz beim Umgang mit dem Problem weitgehend eliminiert hat. Deshalb sind die meisten heutigen Teams, die sich wirklich als solche verstehen, eine Mogelpackung, sobald sie erfolgreich arbeiten. Schaut man

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