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Nichts ungeheurer als der Mensch: Texte zu Film und Drama
Nichts ungeheurer als der Mensch: Texte zu Film und Drama
Nichts ungeheurer als der Mensch: Texte zu Film und Drama
eBook326 Seiten4 Stunden

Nichts ungeheurer als der Mensch: Texte zu Film und Drama

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Über dieses E-Book

Ausgewählte Texte zu Film und Drama, in den Achtziger- und Neunzigerjahren entstanden. Essayistische Skizzen zu Themen im Script Writing und zur Filmkritik.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. März 2020
ISBN9783749477586
Nichts ungeheurer als der Mensch: Texte zu Film und Drama
Autor

Adrian W. Fröhlich

Der Autor ist Philosoph, Arzt und Psychiater, geboren 1953. Er geht in diesem Buch seiner eigenen Verwandlung nach. Dabei zeigt es sich, dass seine Geschichte nicht nur eine solche des Lebens, sondern noch entschiedener eine solche des Denkens ist.

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    Buchvorschau

    Nichts ungeheurer als der Mensch - Adrian W. Fröhlich

    Die Publikationsweise brachte es mit sich, dass der Text vom Autor korrigiert wurde. Auch enthält das Buch Helvetismen und verzichtet auf das Doppel-S. Auf die damit verbundenen Mängel des Buches sehe man, soweit zumutbar, nach Möglichkeit hinweg.

    Das Publikum ist jetzt ungeduldig, fiebrig, verbildet.

    Federico Fellini, über die Auswirkungen des Fernsehens, anlässlich der Premiere von Ginger e Fred.

    Mein Herz zu öffnen für etwas, das fast in Vergessenheit geraten ist.

    Federico Fellini, über das, was ihn bei seiner Arbeit zutiefst bewege, motiviere, fasziniere.

    Inhaltsverzeichnis

    «Die Story, der Plot, der Zorn»

    VORBEMERKUNG

    ALLGEMEINES ZU GESCHICHTEN

    WAS IST THEATER? WAS BIN ICH?

    WOODY ALLENS INTERIORS, DIE PERFEKTE GESCHICHTE

    HÖLDERLINS AUFFASSUNG DES DRAMAS

    ZUR ANTIGONE

    GESCHICHTE, ERZÄHLUNG (NARRATION)

    BEISPIELE

    LOGIK VON GESCHICHTE

    WAS MAN VERSCHWEIGT, BLEIBT UNGESAGT

    DER TRICK MIT DER ZERSTÖRUNG

    DER HIMMEL ÜBER BERLIN

    DAS GEHEIMNIS DER WIEDERHOLUNG

    THE BELLY OF AN ARCHITECT

    DIE SCHWARZE SPINNE

    ANSTELLE EINES NACHWORTS

    Zwei Treatments

    EL LIBERTADOR

    ANGIE

    Auf ein Wort noch

    FILME HABEN MICH GRENZENLOS FASZINIERT

    Anhang

    Sitz des Dionysospriesters im grossen Theater von Athen, des Repräsentanten des Grossen Befreiers des Menschen

    Ungeheuer ist viel. Doch nichts

    Ungeheurer als der Mensch.

    Sophokles, Antigone

    Wie alle meine Bücher ist auch dieses hier eines für ganz wenige Leser. Wieso macht der Autor das? Wieso schreibt er Zeug, das keiner liest? Wollen denn nicht alle Autoren Bestseller schreiben? Nein. Wollen nicht alle. Es gibt auch noch andere, so wie es auch Theatermacher und Filmregisseure gibt, die an den Gott ihres unendlich erhabenen und doch so furchtbaren Berufs denken, wenn sie arbeiten, an die Grossen des Fachs, nicht an die Ärsche der Zuschauer, an das heruntergekommene Massenbewusstsein und an den Nervenkitzel für Schwachsinnige. Und es gibt auch Leute, die interessieren sich noch für zerebrale Effekte, nicht nur für solche, für die es einen Supercomputer braucht. Zugegeben, es sind extrem wenige geworden. In ganz Europa hätten die wohl alle im selben Eisenbahnzug Platz. Die Subspezies ist beinahe ausgerottet. Das Schlimmste daran ist, dass die Anzahl derer, die glauben, von der Sache etwas zu verstehen, nicht abgenommen hat. An diese richte ich mich nicht, es wäre Zeitverschwendung. Ich richte mich an die Geist-Träumer und an die letzten Gebildeten, die den Weg noch finden, auch wenn die Dämmerung längst hereingebrochen ist. Doch will ich etwas von ihnen? Nein. Im Grunde interessiert uns der Andere heute nicht mehr. Denn jede Debatte würde uns schmerzlich vor Augen führen, was verloren ging, wie wenige wir geworden sind. Also schweigen wir. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, ist selber schuld. Vermutlich versteht er nichts. Doch könnte es auch einen oder eine darunter haben, die trauern um all das Verlorene. Ihnen ein Gruss!

    Kein Schriftsteller wird dadurch «besser», dass er gelesen wird. Es ist umgekehrt: Verhärtet er sich durch das, was gefällt, wird er sterblicher. Darum ist die grösste Kunst im Umgang mit Publikum und Ruhm die, so zu tun, als gäbe es beides nicht. Weder Rimbaud noch Rilke, weder Pindar noch Hölderlin schulten sich am Geschmack ihrer Leser und Zuhörer. Sie schulten sich allein am Geschmack anderer Genies und an der Natur selbst, was letztlich dasselbe ist. Wer sich an der Natur, anstatt am Nachbarn orientiert, ist nicht arrogant, sondern klug. Wer das NICHT tut, ist arrogant.

    Auseinandersetzung mit der Kritik ist für die Kunst, was ein Dialog mit dem Klo wäre. Kritik ist, was resultiert, wenn der Unfähige das Genie nachahmt, sich dabei aber nicht auf die Natur stützt, sondern auf die Ausscheidungen der Künstler. Ein Interview ist dasselbe wie ein Toilettengang, und der Kritiker übernimmt dabei die Funktion des Papiers. Er sieht das Werk als eine Ausscheidung - ein Produkt -, das kunstvoll entsorgt, das sogenannt eingeordnet werden muss. Darum sind jene «Kritiker», die das Werk NICHT entsorgen und einordnen - also die Enthusiasten, die Aficionados -, die einzigen Kritiker, die Beachtung verdienen. Zwar sind auch sie unfruchtbar, aber sie geben - wie Hölderlins Götter – Hinweise und Winke.

    Woran reift ein Künstler? An sich selbst, an sich selbst, an sich selbst! Am Leben, am Leben, am Leben! An der Sache, an der Sache, an der Sache! Genie ist in Wahrheit eine spezielle Form des Narzissmus, eine, welche die narzisstische Selbstspiegelung in der SACHE betreibt, während der normale Narzisst sie im ANDEREN vollzieht. Beides ist im Grunde Grenzüberschreitung und Missbrauch. Das Genie überschreitet die Grenze zur NATUR, der Missbrauch erscheint uns als Kunst, die entzückt, der normale Narzisst dagegen überschreitet die Grenze zur PERSON, dieser Missbrauch wirkt als haltlose Behauptung und empört.

    Das erneuerte Theater des Dionysos um 400 v. Chr. Zeichnung des Autors (1980)

    «Die Story, der Plot, der Zorn»

    VORBEMERKUNG

    (Husby Kirkeby, im Frühjahr 2020)

    Die in diesem Hauptkapitel zitierten Aufsätze stammen aus den achtziger Jahren und wurden von mir damals unter dem obigen Titel 1988 kompiliert. Das Vorhaben und sein Titel erklären sich so, dass ich damals selbst in der Filmszene als Szenarist und Ideenlieferant aktiv war und auch zu tun hatte mit der Filmkritik. Diese Auseinandersetzung regte mich zwar einerseits an, andererseits aber betrübte sie mich, je mehr ich merkte, wie oberflächlich das Verständnis von Film und Theater in den Kreisen war, mit denen ich zu tun hatte. Die meisten darin verkehrenden Aficionados und selbsternannten Regisseure und Kritiker waren nicht nur bar jeglicher philosophischen und literarischen Bildung, sondern naiv-voluntaristisch eingestellt. Was sie wollten, das sollte werden. Sie alle zeichnete aus, dass sie davon überzeugt waren, dass es Aufgabe des Filmers und des Theatermachers sei, der Wirklichkeit Aufträge zu erteilen, sie zu belehren und zu korrigieren, als wäre sie ein ungezogenes Kind, und als wüssten nur sie, die Regisseure und Kritiker, was eigentlich Sache sei. Dabei verglichen sie sich gerne mit Genies wie Fellini, Artaud, Hitchcock und Tarkowskij, die das ja auch so machen würden. Der diesbezüglich fatal wirkende Marcello aus 8½ von Federico Fellini war ihr uneingestandener Heros, ein Dirigent im Chaos der Empfindungen und Wirklichkeiten, dem sich alle und alles zu fügen hat, wie sie glaubten, dessen Problem nicht nur die Suche nach Trüffeln sei, sondern ebenso sehr die Kujonierung der am Set Beteiligten, und dass Genialität darin bestehe, genau das zu tun, was kein Schwein voraussehen kann. Will ihnen jemand etwas erklären, so deuten sie - anstelle eines Verständnisses dessen, was sie hören - die Tatsache, dass er seine Hand beim Reden in der Hosentasche behält. Das bleibt natürlich beliebig und macht jeden genial, der diese intuitive Form der Dekonstruktion beherrscht. Dafür muss man nur impertinent und sehr von sich selbst überzeugt sein. Fellinis Marcello ist das ja auch, doch ist er viel mehr als das. Das ist er jedoch nicht als Marcello, sondern als Fellini, und genau diese Doppelgeborenheit des Ich begriffen diese Leute nicht, also den eigentlichen Trick dabei – die Kunst der Aussage -, das entging ihnen. Man kann nicht Marcello sein, ohne dass man Fellini ist. Und es ist nicht Marcello, der den Fellini herbeiholt, sondern umgekehrt. Wer den Marcello mimt, ist einfach nur ein Schnösel. Für mich war rasch klar, dass die herkömmliche Filmerszene und erst recht die Kritikerszene, die unbeschreiblich dumm ist, keine Ahnung davon haben, was sie eigentlich tun. Es ist eine narzisstische Szene voll mit Wichtigtuern, Möchtegernschauspielern und Set-Nutten, die von nichts eine Ahnung haben, aber Millionen verbraten. Allein die Tatsache, dass sie Filme machen, lässt sie glauben, dass sie Experten seien.

    Das erste Hindernis war und ist also, dass man lernt zu verstehen, was Doppelgeborenheit oder ein Dithyrambus ist. Man muss die Urbewegung aller wahren Philosophie mitmachen, die Teilung des Einen zum Zweck seiner Konstitution als das Eine. Man muss begreifen, dass sich die Welt nicht beliebig zusammensetzt und zusammensetzen lässt, sondern dass sie einem «kalkulablen Gesetz» folgt, wie Hölderlin ihm sagte. Dieses ist tragisch, widerläufig, dialektisch, dithyrambisch, und es stellt uns vor die Tatsache, dass nicht wir es sind, welche die Story machen, dass der Plot nichts ist, was man zusammenschustert, sondern umgekehrt, dass der Plot uns zusammenschustert als die Story seines Begreifens. Es ist halt auch hier wie überall: Dummheit allein reicht nicht, um etwas zu verstehen, man muss auch noch gescheit sein. Bildungsferne ist kein Garant für echte Geschichten, man muss auch noch jener komplexe Apparat sein, der echte Geschichten überhaupt empfangen kann. Das heisst, man muss als Apparat überaus gebildet sein, auch wenn man nichts weiss. Doch wenn man das ist, saugt sich die Bildung in uns von selbst fest.

    Damals überwältigte mich der Zorn über die Szene und ihren Voluntarismus, ihre Arroganz und ihre unglaubliche Rohheit an Bildung und an Empfänglichkeit. Er liess mich die in diesem Buch versammelten Aufsätze schreiben. Noch heute kann ich keine Filmkritik lesen. Ich lese nichts Dummes, Verblödetes, denn wollte ich mich mit solchem abgeben, wäre das Lesen eines Eisenbahnfahrplans bereits eine Steigerung des Niveaus. Ich weiss nicht, was der Kritiker wahrnimmt, wenn er ins Theater oder ins Kino geht, auf keinen Fall jedoch das, was sich dort tatsächlich abspielt. Das Gleiche liesse sich natürlich auch über Musikkritik oder Literaturkritik sagen, doch die lese ich sowieso nie. Wieso sollte man sie lesen? Der Informationsgehalt von Kaffeesatz ist grösser.

    Ich habe in meinem Leben immer wieder bestätigt gefunden, dass man sich nur mit den Genies abgeben darf, in jeder Sparte, jedem Bildungsbereich. Alles andere ist zwecklos und Zeitverschwendung. Das Genie ist das einzige Wesen, das etwas ganz beschreiben oder erschaffen kann, so wie es sonst nur die Natur kann oder Gott selbst, falls man so gnädig ist, an ihn zu glauben, denn erst das erschafft ihn. Jedes Meisterwerk enthält immer alles, es ist das Ganze, selbst wenn es nur einen Bleistift zeigt. Das heisst, es stammt aus einem Geist, der die Widersprüche aushält, die sich in den Weg stellen, wenn es zum Ganzen kommt, der in ihnen die Bruchlinien des Unüberwindlichen erkennt, der sie nicht wegmachen will, was unmöglich ist, sondern miteinbezieht, und zwar so, dass am Ende das Werk sein Schöpfer ist, und der Schöpfer sein Werk. Es war wiederum Fellini, dem manche vorgeworfen haben, er drehe immer denselben Film. Ja, das tat er. Doch war es eben nicht derselbe Film, sobald es derselbe war. Dies hinzukriegen und auszuhalten und nicht übertreffen zu wollen, das kann nur das Genie. Man kann auch der Natur vorwerfen, sie erschaffe stets und überall dasselbe. Man kann es Gott vorwerfen. Und hier nun schliesst sich der Bogen zum Dummen, der auch immer denselben Film dreht, wenn er lebt, und nur darin ist er genial und liebenswert. Sobald er jedoch anfängt, Dinge zu erschaffen – zum Beispiel Filme -, wird er unerträglich. Dummheit ist geil, solange sie bloss gelebt wird. Wird sie schöpferisch tätig, sollten wir davonlaufen. Hier liegt der tiefe Grund zutage, weshalb Genies sehr oft dumme Partnerinnen haben. Denn diese sind ebenso perfekt wie sie, aber nur als Untätige, als das, was lebt. Auch das hat Fellini in 8½ treffsicher inszeniert, indem er Marcello ein geiles Flittchen zuteilte, das diesen, sehr zum Erstaunen des tumben Publikums, tatsächlich erregt und fasziniert, wo er doch viele angeblich gescheite Frauen hätte haben können. Doch waren diese ebenso dumm, aber leider mit kreativen Ansprüchen, was sie nicht nur für Marcello, sondern überhaupt entwertete. Mit anderen Worten ist das männliche Genie ein Macho und Sexist, und zwar zwangsläufig, geradezu notwendigerweise. Will man das ändern, verschwinden die Genies aus den Regalen der Epoche und sie zerfällt, degradiert, was aber erst viel später hervortritt. Bei weiblichen Genies ist es freilich ganz ähnlich, der Unterschied ist nicht sehr gross. Man betrachte nur Katharina die Grosse. Der wirklich grosse Geist duldet an seiner Seite keinen wirklich grossen Geist, sondern einen wirklich saftigen Leib. Nur so kann er schaffen. Das ist wiederum tragisch, ist wiederum eine Form des Dithyrambus, der Doppelgeborenheit des Einen.

    Heute gehe ich kaum noch ins Kino, und ins Theater überhaupt nicht mehr. Nicht, weil sie schlechter geworden wären, sondern im subtilen Bewusstsein, dass ich damit kongruent zum Schicksal dieser Medien bin. Im Kino gibt es nur noch Dosenwürstchen, wie Rossellini einmal gesagt hat, und deren Produktion ist uferlos und technisch perfekt. Im Theater gibt es nichts Neues mehr, seit das wahre Theater im Internet stattfindet und in Millionen von One-Person-Shows endlich bei sich selbst angelangt ist. Die Informationstechnologie hat das Theater vernichtet, zugleich aber auch verallgegenwärtigt.

    In der Freitagspredigt in der Moschee spielt sich eine ganz neue, sich wiedergebärende Form des Theaters heute ab, und es ist wieder jenes Einmannstück, mit dem die Dionysien begannen, und es erzählt wieder vom Gott und seinen tragischen Begebenheiten. In der Aufräucherung, in der Anathymiasis im Geist der Gläubigen, die in Reih und Glied vor dem Imam sitzen, entsteht der neue Dithyrambus, die Wiedergeburt (und Widergeburt!) des Einen. So und nicht anders begann das Theater in Athen, als ein Gottesdienst, der Trunkene, Begeisterte hervorbrachte, von sich selbst Trunkene und von sich selbst Ergriffene. Hier liegt die Zukunft, denn es liebt der Gott die Wandlung in so grossen Sprüngen, dass der Mensch ihnen nicht folgen kann, sondern überrumpelt wird. Der überrumpelte Mensch ist die Zukunft.

    Die Aufsätze in diesem Büchlein beanspruchen keine thematische Vollständigkeit oder gar Exemplarität. Die brauchen wir nicht. Denn das Unvollständige ist das Vollständige, sobald es einen ergreift.

    ALLGEMEINES ZU GESCHICHTEN

    Liest man Brechts Betrachtungen zum nicht-aristotelischen Drama, so ergeben sich aus jener Position zwei dramatische Darstellungsformen des menschlichen Elends: die eigentlich dramatische (emotionale, aristotelische) und die epische (erzählende, nicht-aristotelische) des (damals) neuen Theaters Erwin Piscators und Bert Brechts.

    Das dramatische Theater war darauf aus, die das Elend des Menschen bestimmenden Gesetze als ewige und endgültige zu erklären und zu feiern. Schuld als prinzipielle und endgültige Schuld, Untergang ihr zufolge als das Grundmuster allen Seins, als Schicksal. Innerhalb dieses Grundmusters vollzog sich der individuelle Aufstieg zu Glanz, Ruhm und Liebe und führte doch über die Klippe der Klimax in den Abgrund, in den klaffenden Widerspruch von Sein und Schein, Sein und Sollen, Wollen und Können, in die Katastrophe. Dieses Theater war grundphilosophisch.

    Und seine Entwicklung folgte seinem eigenen Prinzip. Von Anfang an zum Untergang durch den in ihm anwesenden Widerspruch verdammt, den Weg alles Lebendigen, welches es ja so meisterhaft beschrieb, zu Ende zu gehen, verstieg es sich zum Leben selbst und zerfiel zu Staub. Und was Christus lebte und starb, kann man nur als die Apotheose des dramatischen Theaters bezeichnen, das zum Lebens- und Welttheater wird.

    Davon nichts zu erzählen, war die Devise des epischen Theaters. Der Schicksalsablauf sollte nicht nur als ein von Menschen gemachter Prozess herausgestellt werden, sondern als nicht selbstverständlich, als nicht normal, als auffällig. Zu diesem Zweck liess man das Alltägliche und Selbstverständliche in fremdartiger Gestalt auftreten. Die berühmten Vorgänge hinter den Vorgängen sollten dabei als das eigentliche Reale, jene einfachen Vorgänge auf der Bühne aber als das Fremde und Falsche imponieren. Hier kam es zur Umkehrung der Wirklichkeit in ihr Gegenteil: Das Alltägliche wird absurd, das zunächst Absurde wird alltäglich. Das war und ist natürlich ein dramaturgischer Trick. Nur mit ihm konnte man die Schläfrigkeit des Zuschauers durchbrechen. Nur so konnte die jedes Mass sprengende Thematik der ZEIT in Form gefasst werden.

    Das Theater hat ja immer die Aufgabe, uns das, was IN DER ZEIT ist, die Grundsituation unserer Aktualität als Menschen vorzuführen, jedoch - im Unterschied zur Literatur - so, dass der die Aktualität Wahrnehmende dadurch unter Vollzugszwang gerät. Eine erzählte Geschichte in einem Buch müssen wir uns erst vorstellen. Eine Geschichte im Theater hingegen beraubt uns der Vorstellung und ist selbst Vorstellung. Das hat den Vorteil, dass wir im Theater nur noch zu erkennen brauchen, was uns vorgestellt wird. Der Nachteil ist aber, dass der Zwang, der hier auf uns ausgeübt wird, auch und gerade ein zeitlicher ist. Wir sind entweder vorbereitet ins Theater gekommen und erkennen mit der geforderten Geschwindigkeit, oder wir müssen auf die Erkenntnis des Ganzen verzichten und schlittern mehr oder weniger ungelenkt durch die Hölle der Phänomene. Was heisst aber: Vorbereitet ins Theater kommen? Das könnte heissen, das Stück bereits gelesen zu haben, als Literatur, die eigene Vorstellung schon erlebt zu haben. Und im Film? Wer kommt ins Kino und hätte das Drehbuch gelesen? Vorbereitet sein heisst auch: Das Theater im eigenen Leben bereits begriffen zu haben. In diesem Sinne vorbereitet am Tatort aufzutauchen, würde bedeuten, zu wissen, dass man selbst ein Stück schreibt, in ihm eine Rolle spielt, diese gut zu spielen vermag und, dass man selbst sein eigener Zuschauer - und sein einziger! - ist. Zwar reden alle von der Rolle, die sie in ihrem Leben spielen, aber diese Rolle ist nicht gemeint. Gemeint ist die Rolle hinter dieser Rolle, die Rolle der Rolle überhaupt. Um also vorbereitet ins Theater oder ins Kino zu kommen, wird man entweder das Stück schon gelesen haben müssen (gelesen und NICHT gesehen), oder man ist gezwungen als Akteur zu erscheinen, als Zuschauer, als Regisseur, als Dichter - und als das Stück selbst.

    Darum werde ich auch im Folgenden daran festhalten: Auf die Bühne, auf die Leinwand glotzen bedeutet, auf sich selbst glotzen. Ob ein Schwank von Nestroy oder ein Drama Shakespeares angesagt ist, ob man vor Denver oder Fellinis Casanova sitzt, macht hier keinen Unterschied: Man ist sich selbst angesagt und sitzt vor sich selbst. Das Problem scheint nun darin zu liegen, dass wir mehr als nur die Relevanz der Geschichte, die man uns erzählt, zu erkennen haben, dass wir zu erkennen haben, wer wir sind, und wo wir sind, und wie wir sind, und warum wir sind, wenn DAS IST, WAS GEZEIGT WIRD. Aber das ist auch schon alles.

    Die Frage aller Fragen lautet: Wie funktioniert der Mensch? Jede Wissenschaft stellt diese Frage auf ihre eigene Weise. Wie ist sie im Theater, wie im Film zu stellen? Und wie geht diese Frage mit der Tatsache zusammen, dass Theater und Film vielleicht nichts anderes tun, als was jede Grossmutter tut: Geschichten erzählen? Konkrete Geschichten. Unphilosophische Geschichten. Triviale Geschichten. Kleine Begebenheiten, nicht DES Lebens, sondern wohl eher AUS dem Leben. Teilmengen von Teilmengen von Teilmengen. Und, falls die Frage aufkäme, wie der Mensch funktioniert, so auch die Fragen: wozu, worin, woher, und wann? Meine vorläufige Antwort ist diese: Der Mensch funktioniert, wenn seine Geschichte funktioniert. Und wir müssen herausfinden, was denn überhaupt eine Geschichte ist. Und das können wir herausfinden.

    Normalerweise gehen wir so vor, dass wir unseren Werkzeugkasten der dramaturgischen Instrumente und Kriterien aufklappen, dass wir vor die Geschichte, die man uns erzählt hat, niederknien und sie planmässig demontieren, um sie später wiederum planmässig zusammenzubauen. Dabei gehen wir davon aus, dass das, was wir zerlegen und zusammensetzen, das ist, woran wir wirklich interessiert sind. So etwa, wie wenn jemand seine Kaffeemaschine auseinandernimmt, um herauszufinden, wie sie funktioniert, und dabei glaubt, dass das, was er dabei erfährt, wirklich jenes Wissen ausmache, das ihn instand setzen würde, selbst eine Kaffeemaschine zu bauen. Doch, wie Sie sehen, täuscht er sich. Denn versetzte man diesen Menschen auf die berühmte, einsame Insel, und brächte er nur jenes Wissen mit, so müsste er resignieren, falls es ihm in dem Sinne kommen sollte, tatsächlich eine Kaffeemaschine zu konstruieren. Er könnte nicht einmal das Material beschaffen. Er könnte es weder bearbeiten, noch würde ihm auch nur ein ganz kleiner Teil jenes Expertenwissens zur Verfügung stehen, das den Ingenieur auszeichnet, und ohne welches es keine funktionierenden Maschinen gibt.

    Normalerweise beurteilen wir Geschichten nach Verfahren, wie sie die bisherige Theaterkritik ausgearbeitet hat. Wir gehen hierbei (unbewusst) davon aus, dass es Grundbestandteile, Grundstoffe und Grundmaterialien und Grundteilgeschichten gibt, die wir dann nur noch nach den zu lernenden Gesetzen der Theorie zusammenzubauen hätten. Ein solches Gesetz wäre etwa die Einheit der Handlung. Und die notwendigen Materialien sind, so glauben wir immer, einfach Sinneinheiten unserer Erfahrung, Mikrogeschichten, zum Beispiel das Öffnen einer Tür, das erstaunte Gesicht, die Ohrfeige, der sexuelle Akt. Wir nehmen den Sinn dieser Materialien gleichzeitig mit der Form wahr, in der sie auftauchen. Doch nun sind wir auf der einsamen Insel, im kosmischen Exil, und nun wollen wir eine Ohrfeige in den Kontext einer imaginierten Geschichte mit den Mitteln des Theaters oder des Films einbauen. Bitte!

    Carl Spitteler hat einmal gesagt: Bringen Sie nur erst einmal Achilles durch eine Tür! Und, so fügen wir hier an, wenn Ihnen das gelungen ist, dann werden Sie uns bitte auch sagen, wie man eine Ohrfeige in einen Zusammenhang einbaut. Und Sie werden uns das nicht nur sagen, sondern eben zeigen, auf der Bühne, oder auf der Leinwand.

    Sie werden dabei vermutlich rasch einsehen, dass es die Sinneinheit Ohrfeige so nicht gibt, wie Sie gemeint haben, Sie werden etwas als Problem wiederfinden, das für Sie bis anhin trivial war. Die Ohrfeige ist nämlich selbst schon die Inszenierung eines Kontexts. Die Ohrfeige ist eine Welt. Achilles, der durch die Tür schreitet, ist eine Welt, die einen welthistorischen Akt enthält. In Ihrer Geschichte, in der eine Ohrfeige vorkommen soll, gibt es plötzlich eine ebenso grosse Geschichte, nämlich die Ohrfeige selbst. Werden Sie also ein bisschen bescheidener, lösen Sie erst die Geschichte der Ohrfeige und suchen Sie nach den Sinneinheiten, mit der man sie erzählt!

    Plötzlich sind Sie bei Dingen angelangt wie: Wo steht A, wenn sie gegen B die Hand hebt? Von wo sehe ich, wie sich was bewegt? Höre ich dazu Musik? Was hört man eigentlich, während jemand zu einer Ohrfeige ansetzt? Wie schnell spielt sich das Unternehmen Ohrfeige wirklich ab? Die Nachhaltigkeit einer Ohrfeige - ist sie eine Art Zeitdehnung oder was? Mit anderen Worten: Um herauszufinden, was Ihre Ohrfeige IST, müssen Sie wissen, wie man sie MACHT, und wie man sie ERLEBT.

    Das erscheint Ihnen vielleicht immer noch trivial. Aber bedenken Sie Folgendes: Wenn Sie erst wissen müssen, wie etwas gemacht und erlebt wird, bevor Sie oder irgendwer sonst weiss, um was es sich dabei handelt, dann müssen Sie von einer liebgewordenen und immer wieder gehörten Idee Abschied nehmen, nämlich der Idee, dass man zuerst die Geschichte habe und danach ihre Inszenierung, dass man zuerst wissen müsse, um was es auf der Bühne und auf der Leinwand gehe, vielleicht, wie Theater- und Drehbuchautoren immer wieder empfehlen, dass man das Ende der Story vorauskennen soll, bevor man an die Form herangehen dürfe. Klar, Sie werden immer eine Art Geschichte vorauswissen müssen. Das soll und kann nicht bestritten werden.

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