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Zwei tote Menschen: Ein autobiografischer Roman
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eBook408 Seiten5 Stunden

Zwei tote Menschen: Ein autobiografischer Roman

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Über dieses E-Book

Die Geschichte folgt recht getreu den tatsächlichen Begebenheiten, wenn auch mit einer gewissen dichterischen Freiheit. Es werden Themen behandelt, die zur Zeit sehr aktuell sind und allgemein diskutiert werden, wie etwa die Thematik "sexueller Missbrauch", Pädophilie und Sexualität ganz allgemein. Das bewegte Leben eines Nachkriegsschicksals wird beschrieben, Internatsleben, religiöser Orden, Studium, Psychoanalyse, philosophische Überlegungen im Hinblick auf Lebensbewältigung, Willensfreiheit, Angst vor dem Tod, kirchlich-katholische Religiosität und die Abwendung von letzterer, historische Zusammenhänge, die Arbeit eines Psychotherapeuten und dessen Begegnung mit einem Strafgericht im Rentenalter sowie eine damit zusammenhängende Kritik am "Rechtsstaat" und der Justiz, verbunden mit historischen und rechtsphilosophischen Aspekten.
Es geht um "Resilienz", um "Schwarze Schwäne", um "Antifragilität", um narzisstische Wut, um Traumdeutung sowie um Pädagogik und beiläufig um den Feminismus.
Vor allem die Ereignisse und die Entwicklung im Zusammenhang mit einer Anzeige und einem Strafverfahren wegen "schwerem sexuellem Missbrauch" erzeugen im Verlauf des Geschehens durchgehend eine hohe Spannung, da sich trotz einer zunächst fast aussichtslosen Lage, einer Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe in 1. Instanz ohne Bewährung und einer drohenden Existenzvernichtung, verbunden mit einer ernsten depressiven Erkrankung, letztlich doch noch alles zum Guten wendet und der Protagonist die erlebte Grenzerfahrung zu seinem Vorteil und zu seiner Weiterentwicklung zu nutzen weiß.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Sept. 2014
ISBN9783847613558
Zwei tote Menschen: Ein autobiografischer Roman

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    Buchvorschau

    Zwei tote Menschen - Melvin Earl Storm

    „Vielleicht ist nichts ganz wahr – und auch das nicht." (Multatuli)

    Vorwort 

    Ein Buch war in dieser oder anderer Form schon viel länger geplant, aber wie es so schön heißt: aller Anfang ist schwer. Man war auch lange davon überzeugt, gar keine Zeit für so etwas zu haben. Diese Ausrede konnte jetzt aber nicht mehr gelten, und es ging vielmehr darum, eine ausgeprägte Antriebslosigkeit und Lethargie zu überwinden, Begleiterscheinungen einer heftigen reaktiven und sich hinziehenden Depression. Es bestand auch die berechtigte Hoffnung, dass ein solches Unterfangen hilfreich sein könnte, um aus diesem Zustand ansatzweise wieder herauszukommen und durch Handeln und aktive, kreative Bewältigung dem Ganzen einen Sinn zu geben. Im Rahmen einer sehr wohltuenden stationären Behandlung in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie war dann auch die nötige Ruhe und Besinnlichkeit gegeben, um den Anfang zu wagen, versehen mit vielfältigen Anregungen. 

    Horrorkomödie wäre vielleicht die richtige Bezeichnung für den Genre, wobei dieser Begriff vor allem als Filmgenre gebräuchlich ist. Horror allein trifft es aber nicht. Zwar handelt es sich inhaltlich zumindest teilweise durchaus um Horror, um Grauen oder um mit Sartre zu sprechen um: „La nausée (Ekel, Übelkeit). Gedanken an eine kafkaeske Welt kommen auf, wobei es meist um eine Situation des Ausgeliefertseins geht, um das ohnmächtige Gefühl, gegen übermächtige Autoritäten und Machtstrukturen nicht anzukommen. Laut „Wikipedia handelt es sich speziell beim Horrorgenre um einen Prozess, in dem Menschen versuchen, mit Ängsten vor dem Tod, dem ungewissen Leben nach dem Tod, der Bestrafung, der Dunkelheit, dem Bösen, der Gewalt und der Zerstörung zurechtzukommen. Es werden die Grenzen dessen erkundet, was Menschen zu tun oder zu erleben fähig sind. Die Abgründe der menschlichen Seele werden erforscht, der Grad von Angst, Hysterie und Wahnsinn, den Menschen aushalten könnten, die finstere Seite der Seele wird beleuchtet. Der Leser wird mit seinen Ängsten, insbesondere mit der jedem Menschen innewohnenden Angst vor der Dunkelheit, dem Tod, dem Unbekannten und dem Verlust von Kontrolle konfrontiert. 

    Dennoch wird versucht, das Ganze auch mit einem schelmischen Blick zu beschreiben, mit trockenem Humor, Ironie und ein wenig Sarkasmus. Deshalb das Wort „Komödie. Man könnte dabei an „Die göttliche Komödie von Dante denken oder an „Die menschliche Komödie von Balsac. Um die Hölle zu finden, braucht man gar nicht lange zu suchen: es gibt sie sowohl auf Erden als auch in uns selbst! Sartre meinte dazu: „l`enfer c`est les autres („Die Hölle sind die andern). Man könnte das Ganze als „Psychothriller bezeichnen, wobei dieser Genre wiederum eher Filme betrifft und die humorige Komponente nicht berücksichtigt wäre. Nicht zuletzt könnte man auch an den Genre philosophischer Roman denken, obwohl der Autor kein „ausgelernter Philosoph ist. Das Philosophieren war ihm aber schon immer geläufig und eine liebgewonnene Beschäftigung. Als „Essay könnte man es ebenfalls bezeichnen, zwar nicht im strengeren Sinn, aber als literarischen „Versuch sozusagen, denn alles, was wir so erdichten und beschreiben, ist nicht mehr als ein Versuch, Aspekte des Lebens und der Welt, des Menschen, der eigenen Person, zu beleuchten und zu hinterfragen. Ein erotischer Roman ist es nicht, obwohl es auch um Erotik, um Liebe und Sexualität und entsprechende Erlebnisse geht, aber all dies ordnet sich ein in das Drama des Lebens, in dem es schöne und weniger schöne, auch hässliche Dinge gibt. Letztendlich wäre noch die Bezeichnung „Utopischer Roman geeignet, denn es werden Veränderungen der Gesellschaft und der Menschen angedacht, die zumindest teilweise nur als utopisch anzusehen sind, aber schon Hegel sprach bekanntlich vom „Sehnen nach besseren Zeiten". Schlussendlich kann man es zumindest teilweise als Sachbuch ansehen, was viele wahrscheinlich verwirren und ein wenig anstrengen wird, aber es geschah mit Absicht, da es auch mal erfrischend sein kann, von den üblichen Genres abzuweichen und eben so zu schreiben, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Die eher philosophischen, psychologischen, psychoanalytischen, historischen und soziologischen Ausführungen wurden kursiv gesetzt, um ein evt. Überspringen zu erleichtern, was aber nicht empfohlen wird! 

    Das Verbinden des Prosaischen mit dem Sachlichen hat vielleicht mit einem inneren Konflikt zwischen der Neigung zur Imagination und der zum Intellektuellen zu tun, um nicht zu sagen zum „Intellektualisieren".

    Mit Recht wäre anzumerken, dass der Autor zu einer besonderen Art von Exhibitionismus neigt, falls man davon ausgeht, es handle sich um autobiographische Erzählungen. In diesem Fall wäre es tatsächlich so, aber ein wenig davon zeichnet wohl jeden Schriftsteller aus, denn er verbindet sein Unbewusstes mit dem der Leser und stellt einiges von sich zur Schau, selbst wenn es sich um „erfundene Geschichten handelt. Mit dem Psychoanalytiker Theodor Reik könnte man vom „Geständniszwang reden, der sich im künstlerischen Schaffen äußert. Man „verrät demnach ungewollt etwas über sich, über das eigene Unbewusste. Gleichzeitig fließt aber immer das kollektive Unbewusste mit ein, und so „verkündet der Dichter auch das, was alle schon „wissen, selbst wenn es noch nicht ins kollektive Bewusstsein vorgedrungen ist. Je tiefer seine Gedanken sind, um so stärker wird der Widerstand von außen sein, obwohl das Gedachte längst „gelebt wird! Federico Fellini vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass alle Kunst in gewissem Sinne autobiografisch sei, dass wir immer irgendwie über uns selbst berichten. Und in dem Fall ist die schreibende Kunst keine „Creatio ex nihilo, wie Rüdiger Safranski zur Kunst ganz allgemein anmerkt, sondern ein Ausdruck von gelebtem Sein, das sich zwar ebenfalls von der Nichtigkeit bedroht sieht, das aber zumindest etwas dagegensetzt und für die anderen eine Wegmarke darzustellen vermag. Sicherlich rumort in der Kunst ein Geheimnis, das sie selbst gefährdet, denn sie kann auch das Böse darstellen und ins Nichts, in die Leere führen, aber sie kann auch die Würde der Welt und des Menschen bewahren helfen. Eine „Creatio ex nihilo ist die Kunst insofern, als sie das Gelebte nicht nur widerspiegelt, sondern auch etwas noch nicht Dagewesenes schafft und damit von der Mimesis zur Poiesis wird. Es handelt sich um die Erschaffung einer neuen Welt, die verborgen in der alten ruht. Die drohende Nichtigkeit wird überwunden, wenn das Geschaffene seine Wirkung entfaltet und sich verselbstständigt. Durch die Kraft der Imagination wird es möglich, eine innere Wirklichkeit und Selbstsicherheit zu erzeugen, gegen alle äußeren Widrigkeiten. Auch der Protagonist dieser Geschichte, nennen wir ihn Marvin, ist von der Vernichtung bedroht, lässt sich aber nicht unterkriegen und entzieht sich dadurch dem Nichts, so dass im Verlauf des Geschehens eine Entwicklung stattfindet, die vom Rande des Abgrunds und der Finsternis hinauf in stärker abgesicherte Gefilde und ins Helle führt. Die dichterische Verarbeitung erinnert an den „dionysischen Lebensentwurf von Nietzsche: „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, ... Für ihn bedeutete Lebenskunst die Lust am Diesseits und den Mut, sich in den Abgrund eines letztlich sinnentleerten Daseins zu stürzen. Das Rauschhafte, die entfesselten Triebkräfte, die Aufhebung der Individualität sind das Charakteristikum des „Dionysischen. Die höchste Stufe der „Trunkenheit kommt etwa in Schillers Ode „An die Freude zum Ausdruck. Im „Apollinischen hingegen geht es um die innere Fantasiewelt, die Bilder des Traumhaften und ihren „schönen Schein, um „Begrenzung und Beherrschung alles Wilden und Ungebändigten. Die „delphische Versöhnung" verweist allerdings auf einen darunter liegenden starken Zwiespalt und eine entsprechende Erlösungssehnsucht, wobei zu berücksichtigen ist, dass es für die Griechen dabei um eine religiöse und numinose Angelegenheit ging. Nietzsche selbst, der sich übrigens erst in seiner späten Lebensphase dem Dionysischen zuwandte, schaffte leider nicht den Spagat und wurde letztlich das Opfer einer Inflation des Unbewussten, die rein denkerisch nicht zu bewältigen war. 

    Der nachdenkliche Leser wird sich zudem fragen, ob Marvin zum Masochismus neige, und diese Frage wird man ehrlicherweise bejahen müssen. Paradoxerweise geht es ja dabei um einen Lustgewinn durch Leiden und Demütigung, Zustände, die von den meisten Menschen zumindest bewusst unbedingt gemieden werden. Auch die von ihrem Partner immer wieder misshandelte Frau wird versuchen, sich dagegen zu wehren und beklagt sich später bitterlich über den Täter. Unbewusst aber provoziert sie möglicherweise den andern so lange, bis er wieder zuschlägt, aufgrund von bei ihr unterschwellig vorhandenen masochistischen Tendenzen, die aber als konflikthaft erlebt werden. Es kann sich hierbei um Bestrafungswünsche handeln, aufgrund von Schuldgefühlen, oder auch um eine frühe Koppelung von Schmerz und Lust. Beim Täter wiederum müssen sadistische Neigungen vorhanden sein, die bei ihm Lustgefühle auslösen, wenn er den andern leiden sieht und gedemütigt, ihm unterworfen. Hier geht es um den Wunsch nach absoluter Macht und Kontrolle sowie der totalen Inbesitznahme des Selbstobjekts. Das eine kann wiederum eine Reaktionsbildung gegen das andere sein. Also der Masochismus eine Abwehr von sadistischen Impulsen und umgekehrt. 

    Und noch ein paar Worte zum „Narzissmus. Meist denkt man dabei an eine Art Selbstverliebtheit, die Neigung zur Selbstbespiegelung und Eitelkeit. Psychoanalytisch gesehen sind wir aber hier schon im Bereich des gestörten Narzissmus oder des Sekundärnarzissmus. Der sogenannte Primärnarzissmus hingegen ist in seiner gesunden Ausprägung eine notwendige Grundlage des Selbst, das narzisstische Selbst, um sich und andere lieben und annehmen zu können so wie sie sind und um Mitgefühl zu empfinden. Es wird in diesem Buch von narzisstischen Kränkungen und narzisstischen Störungen die Rede sein und von deren möglichen fatalen Auswirkungen. Die gelungene Integration des narzisstischen Anteils zeigt sich, gemäß den Forschungen von Heinz Kohut, insbesondere in schöpferischer Begabung und Aktivität, in Einfühlungsvermögen, in der Fähigkeit, die Begrenztheit des eigenen Lebens ins Auge zu fassen, wobei auch die Vergänglichkeit von Objektbesetzungen und Trennungserlebnisse miteinbezogen werden und keine Resignation und Hoffnungslosigkeit aufkommen wird, sondern eine ruhige Gewissheit und Annahme der Endlichkeit, verbunden mit einem inneren Gefühl des Triumphes, bei gleichzeitiger unverleugneter Traurigkeit, im Sinn für Humor, der eine nur dem Menschen zur Verfügung stehende Möglichkeit ist, sogar das eigene Ende zu relativieren, etwa im Galgenhumor, und in der Weisheit, die insbesondere darin besteht, dass man die Grenzen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten anerkennt, und die alle zuvor genannten Einstellungen und Eigenschaften der gereiften Persönlichkeit mitbeinhaltet. Die Resilienz, von der später noch die Rede sein wird, hat auch mit diesen Dingen zu tun, also die Kraft, mit schweren Lebenskrisen umgehen zu können und sogar in scheinbar aussichtslosen Situationen nicht den Mut zu verlieren. Um ein Buch zu schreiben, bedarf es nicht nur einer schöpferischen, sondern auch einer gewissen „narzisstischen Energie, durchaus im positiven Sinn gemeint. Denn auch wenn nur wenige ein Buch lesen, bringt es doch eine gewisse Selbstbestätigung und das gute Gefühl, etwas Kreatives geleistet zu haben. Es hilft vielleicht auch, wie weiter oben schon angedeutet, bei der Bewältigung von schwierigen Lebensphasen. Sollte es dann doch dazu kommen, dass viele es lesen, möglichst noch zu Lebzeiten des Autors, dann bringt es eine zusätzliche Fremdbestätigung, aber es besteht natürlich auch die Gefahr von vernichtender Kritik und „Verriss"! Beides lässt dann entsprechende Rückschlüsse auf die Leser zu, die sich diesbezüglich äußern! 

    Noch ein Hinweis: Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit lebenden oder nicht mehr lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig, könnten aber möglicherweise sogar beabsichtigt sein.  

    „Sagt es niemand, nur den Weisen,

    Weil die Menge gleich verhöhnet." (J. Wolfgang v. Goethe)

    1. Kapitel: Der Anfang

    Wie fange ich an, oder wo fange ich an? Der erste Satz eines Buches ist ja immer besonders wichtig, irgendwie programmatisch, in medias res führend möglicherweise, ähnlich wie der Titel, der eher an die letzten Dinge, an das Ende rührt. Mir kommt dann in den Sinn, wie alles angefangen hat. Keine Angst: bei Adam und Eva will ich nicht ansetzen oder gar beim Urknall, der wahrscheinlich auch nicht unbedingt der absolute Beginn war, aber ich denke an die Anfänge des Lebens. Bereits vor der Geburt ist ja bei Marvin ganz Wichtiges, Entscheidendes passiert. Bei ihm ging es da schon mal um Leben und Tod! Wenn Zwillinge unterwegs sind und keiner etwas davon ahnt, dann ist eine Fehlgeburt für alle Beteiligten eher erleichternd, wenn kein Kind erwünscht war und völlig ungelegen kam. Es war ja sogar vom Vater des Kindes der Wunsch nach Abtreibung geäußert worden, aber das war dann nicht mehr nötig. Er machte sich sowieso aus dem Staube, heim in die USA, wo Frau und Kinder auf ihn warteten und seine weitere berufliche Karriere als Jurist. Die junge Deutsche, auch noch eine Vertriebene, war für ihn nur eine schöne Abwechslung während der Besatzungszeit. Immerhin hinterließ er ihr eine Stange Zigaretten, für alle Fälle. Was da genau im Mutterleib passierte, bleibt im Dunkeln, aber es könnte dramatisch gewesen sein! Konnte nur einer überleben? Ging es darum, wer der Stärkere war und sich letztlich durchsetzte, getreu nach Darwin? Auf jeden Fall kam einer durch, ob erwünscht oder nicht, gelegen oder ungelegen, und musste sich nun von Anfang an mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit er überhaupt ein Recht dazu besaß, in der Welt zu sein, als Zumutung für alle Beteiligten sozusagen. Er entpuppte sich dann aber als ein recht hübsches Kind und entwickelte auch einigen Charme, so dass sich doch etliche Anverwandte fanden, die sich seiner annahmen, insbesondere die Stiefgroßmutter, die keine eigenen Kinder und Enkelkinder hatte. Dass man dem Jungen irgendwann den Spitznamen „Biber gab, hatte wohl damit zu tun, dass er schon frühzeitig einen ordentlichen Schwanz vorzuweisen hatte, der an ebendieses Tier erinnerte. Man denke zudem an das „Bibergeil! Sehr wahrscheinlich beschäftigte er sich auch schon damals des Öfteren mit „dem Ding an sich", wobei hier noch keine philosophisch-erkenntnistheoretischen Überlegungen gemeint sind! Entsprechend zeigte er auch ein reges Interesse an Doktorspielen und Ähnlichem und an der damit verbundenen Erforschung von nackten Tatsachen. Kinder in der Nachbarschaft gab es zur Genüge, und so kam es auch irgendwann zu einer Art Tanzparty, bei der alle im Ringelreihen und freudig erregt, ohne etwas anzuhaben, im Kreis herumsprangen. Die Freude wurde dann allerdings jäh unterbrochen, als eine Tante unerwartet den Raum betrat. Sie zeigte sich bestürzt, ging aber gleich wieder raus, wie um zu zeigen, dass es so schlimm ja nicht sei und sie nicht stören wollte beim lustvollen Spiel.  Erst kürzlich entdeckte ich ein Bild von Lucas Cranach dem Älteren mit dem Titel „Das Goldene Zeitalter, um 1530 entstanden, auf dem eine ähnliche Szene zu sehen ist, allerdings mit erwachsenen Teilnehmern. Es handelt sich um eine mythologische Thematik, denn schon bei den alten Griechen und in anderen Kulturen hatte man angenommen, dass es in der Menschheitsgeschichte eine solche paradiesische Zeit gegeben habe, die irgendwann zu Ende ging, bei den Griechen mit der Verbannung des Kronos ins Elysion, auf die „Insel der Seligen. Symbolisch bedeutet sie das in jedem Leben erfahrene „verlorene Paradies, das in unserem Fall tatsächlich in ähnlicher Weise dargestellt wurde wie beim Meister der frühen Neuzeit. Natürlich ist ebenfalls an eine dionysische Inszenierung zu denken, und bezüglich der „Circumambulatio könnte es sich in Anlehnung an C. G. Jung sogar um die symbolische Konzentration auf die Mitte der Persönlichkeit handeln. Der Kreis bildet einen magischen Schutzraum, den Temenos, der den unkontrollierten Einbruch des Unbewussten verhindern soll. In den „Johannesakten („Acta Joannis), einer bedeutenden apokryphen Schrift, ist die Rede von einem mystischen Reigen, den Christus mit seinen Jüngern vor der Kreuzigung veranstaltete, wobei  jene in einem Kreis um ihn herum tanzten, während er das „Preislied sang. C. G. Jung deutet diesen Vorgang als ein Mandala und somit als Symbol der Ganzheit des Selbst. Mythologisch hat der Tanz eine große Bedeutung und war etwa Bestandteil des  eleusinischen Kultes. Passend hierzu das Gemälde „Pan im Kinderreigen  von Arnold Böcklin aus dem Jahr 1898, das auch als „Kinderbacchanal" bezeichnet wird. Zu sehen ist die mächtige, dunkle Gestalt des Hirtengottes Pan, mit menschlichem Oberkörper und Bocksbeinen, der sitzend auf einer Querflöte bläst, während um ihn herum im Reigen nackte kleine Kinder tanzen, die sich an den Händen angefasst halten. Zwischen den hellen Körpern der Kinder und dem dunkelfarbigen Pan (nur die Bocksbeine sind weiß) besteht ein starker farblicher Kontrast, der den Hirtengott fast bedrohlich erscheinen lässt. Wird hier zusätzlich die dunkle Seite der Sexualität angedeutet? Ein besonderes Erlebnis blieb zudem im Gedächtnis, auch weil es mit besonders intensiven und angenehmen Gefühlen verbunden war. Marvin durfte bei der Nachbarin schlafen, neben deren Tochter, einem gleichaltrigen Mädchen, das ihm als überaus hübsch und anziehend in Erinnerung blieb. Es passierte nicht sehr viel, aber es stellte sich sogleich ein sehr wohliges Gefühl ein, verbunden mit einer aufkommenden Erregung, die vermutlich nach dem Einschlafen zu sehr schönen Träumen Anlass gab.

    So verbrachte Marvin eine recht unbeschwerte Zeit, in einer von mächtigen und sagenumwobenen Bergen, Schluchten und Seen geprägten Natur, wo er auch frühzeitig das Deuten von Zufallsformen ausprobieren konnte. Da gab es insbesondere eine ganze Familie, mit Watzmann und Watzfrau und den Kindern. Passend dazu gibt es die Legende vom grausamen König Watzmann. Dieser soll mit seiner Jagdmeute eine Hirtenfamilie getötet haben. Gott versteinerte den Schreckensherrscher, seine Frau und seine sieben Kinder darauf hin zum Bergmassiv des Watzmanns. Ihr Blut floss in die Becken zweier Seen am Fuß des Berges. Weiter weg war eine liegende Frau zu erkennen, genannt „die schlafende Hexe". Die Sage erzählt von einer Kräuterhexe, die erst vielen Menschen half. Da sie sehr hässlich war und in einer seltsamen Umgebung hauste, wurde sie aber verachtet. Das machte sie mit der Zeit sehr böse. Als der heilige Martinus sie besänftigen wollte, versuchte die Hexe, ihn zu töten. Zur Strafe verwandelte er sie in Stein. So muss sie nun warten bis zum Jüngsten Gericht! 

    Durch die märchenhafte Umgebung und entsprechende Geschichten wurde demnach frühzeitig die Fantasie angeregt, auch was liebe und böse Mütter, Frauen, sowie grausame Väter, Männer anbelangte, sowie andere schreckliche Dinge, was man bei der besagten Idylle nicht vergessen darf. So kam es auch schon damals zu atemberaubenden und haarsträubenden Zwischenfällen. Nur im letzten Moment konnte die in größter Sorge herbeieilende Großmutter verhindern, dass der Junge sich mit einem aufgespannten Schirm in einen Abgrund hinunterstürzte. Andere Kinder hatten sie gerufen, nachdem sie von dem Vorhaben erfuhren. Es handelte sich offenbar um eine Verwechslung zwischen Fallschirm und Regenschirm! War alles nur eine dramaturgische Inszenierung, um auf eine vorhandene Not aufmerksam zu machen? Oder war es schon ein Versuch, vorzeitig dem Anfang ein Ende folgen zu lassen? Einige schöne aber auch viele weniger schöne Dinge wären ihm entgangen bzw. erspart geblieben! 

    Eine wichtige Rolle spielte in den frühen Jahren der „Thron. Eine gewisse Machtausübung und Beherrschung war von diesem „Sitzplatz aus schon gewährleistet. Unvergessen blieb der erhabene Augenblick, als bei der Kinderärztin etliche Erwachsene erwartungsvoll auf den in ihrer Mitte thronenden Jungen blickten und vergeblich hofften, ein sich von hinten abzeichnendes Ergebnis in Augenschein nehmen zu können. Viel später erst konnten diese Dinge in Anlehnung an Sigmund Freud als analer Protest, anales Zurückhalten und der Versuch, irgendwie die Kontrolle zu behalten, eingeordnet werden. Besser wurde es erst, als in einer Kinderklinik der Arzt mit einem Plastikhandschuh bewehrt und vorherigem Eincremen die Ursache des Übels zu ergründen versuchte. Es wurde dies übrigens in keinster Weise als Vergewaltigung erlebt, sondern erstaunlicherweise als eine wohlige Erfahrung! Auf einen Einlauf wurde zum Glück verzichtet und der innere Besitz somit eben nicht mit Gewalt herausgeholt. Eine Spieltherapie trug dann im übrigen dazu bei, dass sich die Verspannung löste. Als dann alles wieder im Fluss war, kam es zu einer Episode, die zum Ausdruck brachte, dass nun nicht mehr Zurückhaltung angezeigt war, sondern vielmehr Freigiebigkeit. 

    Der Junge hatte einen Lieblingsplatz unter einem Schreibtisch, wo er sich mit dem „Thron in einer Art Versteck sicher fühlte und wo er zudem von hinten zugreifend in einer Schublade kramen konnte, die vorne verschlossen war. Es traten da regelrechte Schätze zutage: Gold, Silber und Juwelen. Erst sah er sich nur alles an, spielte damit und tat es wieder zurück an seinen Platz. Irgendwann kam er aber auf die Idee, einiges mit in den Kindergarten zu nehmen und die Preziosen seinen Freunden zu zeigen und an sie zu verteilen. Das Erstaunen der jeweiligen Eltern zu Hause war groß, und bald kamen die ersten Anrufe, ob da denn alles mit rechten Dingen zugehe. Die Großeltern versuchten, die Schmuckstücke wiederzubekommen, was zumindest teilweise auch gelang. Der Junge erhielt natürlich eine gehörige Strafpredigt, schon aus erzieherischen Gründen. Denn es ging ja darum, zwischen Mein und Dein unterscheiden zu lernen, wobei es hier natürlich nicht bereits um die kantianische Philosophie („Metaphysik der Sitten) ging, sondern um einfachste ethisch-moralische Grundregeln. Ein Traum im reiferen Erwachsenenalter verwies auf die tiefere Bedeutung des Schatzes. Im Zuge der Beschäftigung mit C. G. Jungs Archetypen und der Alchemie träumte Marvin von einem Familienerbe und einem Schreibtisch mit einer Schublade, in der Schmuck enthalten war. Eine Perlenkette wurde verschenkt an den anwesenden Helfer, und später war zu erfahren, dass auch noch sehr wertvolle Diamanten in dieser Schublade waren, die möglicherweise von jemandem entwendet wurden. Der Bezug zur Kindheitsepisode und zum Lapis philosophorum, dem Stein der Weisen, ist offensichtlich. Symbolisch geht es um das Selbst und dessen Zentrum, sowie um die zu erstrebende Ganzheit und Individuation. Die „schwer erreichbare Kostbarkeit" symbolisiert das Unbewusste. Die Uhren verwiesen frühzeitig auf die verrinnende Zeit, und der Urgroßvater hatte schon vorher mit seiner goldenen Taschenuhr das Interesse geweckt, nicht nur für das Gold, sondern auch für das „Ticktack, mit dem der Klang am Ohr und damit auch die Uhr bezeichnet wurden. Die „Rigorosa-Uhr ging als Familienerbstück später in den Besitz von Marvin über. Da sie nicht mehr tickte, legte er großen Wert darauf, sie reparieren zu lassen und scheute diesbezüglich keine Kosten.  

    Beinahe hätte sich der gesamte weitere Ablauf der Ereignisse auf grundlegende Weise verändert. Schon vor der Einschulung war fest geplant, dass Mutter und Sohn in die USA auswandern. Mutter hatte eine Stelle als Au-pair-Mädchen gefunden in einer Familie, mit der bereits vorab ein reger Briefverkehr stattfand. Leider (oder glücklicherweise?) wurde dieser Plan aber durch eine plötzliche Veränderung der Ausreisebestimmungen vereitelt. 

    Schon frühzeitig wurde das Interesse an Büchern geweckt, und einige davon hinterließen einen prägenden Einfluss, wie etwa die Bildergeschichten von Wilhelm Busch. Vor allem „Fipps der Affe regte nachhaltig die Fantasie an und führte dazu, dass ein Stoffaffe den Namen Fipps erhielt und fortan das Lieblingsstofftier war, das überall hin mitgenommen wurde. Der Affe in den Geschichten zeigt sich nicht gerade zimperlich und sogar recht grausam gegenüber seinen „Opfern. Anfangs ist aber er selbst das Opfer, soll sogar vom „schwarzen Mann gefressen werden und handelt sozusagen aus Notwehr, lernt sich zu wehren. Später zeigt er sich ganz fürsorglich beim Wiegen von Elise und rettet dieser sogar heldenhaft das Leben bei einem Hausbrand. Dennoch bleibt er umtriebig und immer zu Streichen aufgelegt, erfährt später auch noch die Rache derer, denen er übel mitgespielt hatte und wird erschossen. Tiefenpsychologisch gesehen eröffnet sich hier natürlich ein weites Feld, und man kann darüber spekulieren, warum gerade diese Geschichte eine derartige Faszination ausübte. In gewissem Sinn wird ja hier die Entwicklung eines Jungen dargestellt, mit den Gefahren, die einem von Erwachsenen drohen. Es gibt orale Themen, Kastrationssymbole, Triebhaftigkeit und das Ausleben von aggressiven und sadistischen Impulsen, aber auch Reifungsprozesse. Der Affe ist uns Menschen ja sehr ähnlich. Im indischen Kulturkreis hat der Affe symbolisch mit Sexualität zu tun. Die Mischung macht’s! Es handelt sich wohl auf tieferer Ebene um eine Schattenfigur, ähnlich dem „Trickster, der auch anfangs zu grausamen Streichen aufgelegt ist und später anfängt, Nützliches und Sinnvolles zu tun und gar zu einem „Heilbringer wird.  Von Wilhelm Busch stammt bekanntlich auch die Geschichte „Max und Moritz, von der später noch die Rede sein wird. 

    Ein Erinnerungsfoto vom 1. Schultag mit großer Tüte vermittelte später den Eindruck, dass hier durch reichlich süßes Beiwerk und Zuwendung ein recht angenehmer Start in den Ernst des Lebens und der Leistungsgesellschaft gelang. Der vom Namen her leicht zu merkende Oberlehrer Schul erwies sich als eine wohltuend väterliche Person, und es hieß später, er habe den Jungen in sein Herz geschlossen, was umgekehrt wohl ebenso war. Jedenfalls begann das Lernen und Üben dadurch einigermaßen erfreulich, auch wenn es zu Hause bei den Schularbeiten des Öfteren kleine Dramen gab, bei denen der Kochlöffel zum Einsatz kam. Es wurde gar damit gedroht, dass der Großvater mit „dem Eisernen käme, wobei nie ganz klar wurde, was genau damit gemeint war. Immerhin regte es die Fantasie an, hinterließ aber wohl keine nennenswerten traumatischen Spuren, da im Großen und Ganzen das Verhältnis mit den Großeltern herzlich war. Natürlich war zunächst Mutter „die Liebe und Großmutter „die Böse", aber erstere kam ja nur selten vorbei und nahm dann die wechselseitigen Beschwerden entgegen. Diese Oma besetzte schon die Rolle einer Art Ersatzmutter, und sie war viel herzlicher und gefühlvoller, was grollende Ausbrüche von Ärger und einen tanzenden Kochlöffel nicht ausschloss. Sie war gläubig und lehrte Marvin abends zu beten, was sicher ein schützendes Ritual darstellte, wie auch die Vorstellung von einem besonderen Schutzengel, als ständigem unsichtbaren Begleiter, als Seelenführer und Aufpasser. Der Junge war empfänglich für Religiöses, und so erwies sich das Kommen des Nikolauses, in Begleitung eines Krampusses, als äußerst beeindruckend. Auf einem damals gemachten Foto sieht man die in naiver Ehrfurcht und Frömmigkeit gefalteten Hände, aber auch einen angstvollen, nach oben blickenden Gesichtsausdruck.    

    Es war schon von väterlichen Personen die Rede, welche aber nur bedingt den eigentlichen Vater ersetzen konnten. Fragte man den Jungen nach seinem Vater, dann erklärte er, dieser sei im Krieg gefallen, was problemlos durchging, da viele Kinder damals in dieser Lage waren. Der Vater hatte ja tatsächlich mit dem Krieg zu tun, wenn auch nicht auf diese Weise. Der Junge dachte öfters voller Angst an den Krieg und dass er später vielleicht als Soldat in einen solchen ziehen müsste und dabei umkommen könnte. Dass es auch Kriege anderer Art im Leben geben kann, unblutige aber dennoch nicht weniger grausame, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ahnte es aber vielleicht. 

    Etwa im Alter von 8 Jahren ging dann die vergleichsweise paradiesische Zeit im Schutz der Großeltern und der majestätischen Berge zu Ende, und ein erster Bruch erschütterte nachhaltig das Leben unseres Helden. Es sollte nicht der letzte sein! 

    2. Kapitel: Aber wehe, wehe, wehe... 

    Chronologisch vorzugehen wäre langweilig, und deshalb machen wir jetzt einen Sprung in die Gegenwart. Inzwischen ist aus dem Jungen ein älterer Herr mit grau melierten Haaren geworden, der sogar schon im Rentenalter ist, aber nicht gewillt, schon zum alten Eisen zu gehören oder gar bereits von der Bühne abzutreten. 

    Er ist ein bisher erfolgreicher niedergelassener Psychotherapeut, der schon vielen jungen aber auch älteren Menschen geholfen hat und der auch in seinem Privatleben immer bemüht war, anderen zu helfen und mit anderen zu teilen, ohne deshalb gleich in eine Art Helfersyndrom abzudriften und nur noch an die andern zu denken. Nach dem Motto „Geben ist seliger als Nehmen" kann man aber ganz gut leben, wobei Geben auch bedeuten kann, dass man sich selbst etwas gönnt. Die Gefahr beim Helfen und Geben bestand natürlich, gelegentlich auch ein wenig ausgenutzt zu werden, aber es war ihm fremd, Buchhaltung zu führen diesbezüglich, wie ihm Buchhaltung auch in finanziellen Dingen zwar nicht fremd aber doch eher lästig war, was dazu führte, dass chronisch rote Zahlen auf den Kontoauszügen auftauchten und ein deutlicheres Plus sogar zu einem leichten Erschrecken und zu Handlungsbedarf führte. Das lag aber auch daran, dass er mit Geld gerne spekulierte und dabei nicht nur risikoarme Varianten wählte, was wiederum nicht immer nur Gewinne brachte, zu seinem Leidwesen. 

    Um Missverständnisse zu vermeiden: es geht nicht darum, Marvin als Unschuldsengel oder Heiligen darzustellen, obwohl er in früheren Zeiten sich bemüht hatte, diese Ziele zu erreichen, worauf noch Bezug genommen werden soll. Man kann ihn aber als echten „Humanisten bezeichnen, was bedeutet, dass Glück und Wohlergehen des Menschen als sehr wichtige Ziele angesehen werden, und dass die Würde des Menschen, seine Persönlichkeit und sein Leben zu respektieren sind. Die schöpferischen Kräfte des Menschen sollen sich entfalten können, und die Gesellschaft soll die Würde und Freiheit des Einzelnen gewährleisten. Dazu gehören auch Güte, Freundlichkeit und Mitgefühl für die Schwächen der Mitmenschen, Toleranz, Gewaltfreiheit, Selbstbestimmung und Gewissensfreiheit. Deshalb weigerte er sich auch seit langem, von Moralaposteln oder von Konklaven gewählten Päpsten aufgestellte Vorschriften und Verbote zu befolgen, was aber, wie schon erwähnt, nicht immer so gewesen war. Humanismus ist hier durchaus in einem kritischen Sinn zu verstehen, etwa im Hinblick auf in unserer Gesellschaft trotz Demokratie und Rechtsstaat immer noch in mannigfacher Weise vorhandene Unterwerfungs- und Disziplinierungsmechanismen, die auch von sog. Humanisten oft nicht weiter hinterfragt werden. Michel Foucault hat gezeigt, dass man Humanität auch als Diskurs, als eine strategische Installation und ein gigantisches Ablenkungsmanöver ansehen kann. Etwa indem man die käufliche Liebe als etwas Verwerfliches bezeichnet, die allgemeine Käuflichkeit in unserem Gesellschaftssystem aber nicht (Volkmar Sigusch, „Sexualitäten 2013). Es soll auch keine humanistische Selbstüberschätzung, sondern eher eine skeptische Einstellung zur Geltung kommen. Stark geprägt von der Psychoanalyse war es Marvin immer ein besonderes Anliegen, die unbewussten Prozesse zu würdigen und zu erforschen, nicht nur bei den anderen, sondern insbesondere bei ihm selbst. Dies im Sinne einer Weiterentwicklung hin zur Ganzheit des Selbst und zum Erkennen der eigenen Schattenseiten. Der „säkulare Humanismus kann in Anlehnung an Ronald Dworkin („Religion ohne Gott, 2014) als eine Spielart der Religion angesehen werden. Es geht um die Beachtung von unveräußerlichen Werten, ohne die keine Gesellschaft lebensfähig wäre, etwa der Würde des Menschen, und es geht um dessen geistige Dimension, die ihn aus der Natur heraushebt. Von Unsterblichkeit kann seiner Meinung nach nur insofern die Rede sein, als wir uns bemühen sollen, ein im moralischen Sinn „gutes" Leben zu führen. Mit dem Theologen Friedrich Schleyermacher kann man schließlich sagen, dass eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andere mit Gott. Vielleicht reicht es aus, zu hoffen und zu lieben, ohne zu glauben!? 

    Seit knapp zwei Jahren ist Marvin nun ganz offiziell Vater geworden eines allerdings inzwischen schon 29 Jahre alten Sohnes namens Christian. Diese Besonderheit erklärt sich so, dass es sich nicht um einen leiblichen Sohn handelt, sondern um einen Ziehsohn, den er nun adoptiert hat, nach sorgfältiger amtlicher  Prüfung seines Leumunds, seines Gesundheitszustandes und seiner Geschäftsfähigkeit. Beteiligt waren, neben den Hauptpersonen, ein Notar, das Betreuungsgericht (vormals Vormundschaftsgericht) und der Amtsarzt, von dem später noch die Rede sein wird. 

    Schon zuvor war Christian, nach Beendigung seiner Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation, als Praxishelfer die rechte Hand seines Ziehvaters geworden, und es hatte sich für beide eine sehr erfreuliche, angenehme und nützliche Zusammenarbeit ergeben. Die bereits länger bestehende sehr gute und herzliche Beziehung zwischen den beiden vertiefte sich dadurch und bekam eine ganz neue Qualität und Intensität. Es gab die berechtigte Hoffnung, dass dieser recht

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