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Jazz: Eine Erzählung
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eBook253 Seiten3 Stunden

Jazz: Eine Erzählung

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Über dieses E-Book

Lucius Mitchell ist verwirrt. Wenn er sich nicht gerade über irgend jemand ärgert. Vor allem: dessen unverdienten Ruhm. Und wenn er sich nicht über sein eigenes Schicksal beklagt, sich Sorgen macht, eifersüchtig ist oder einen Angstanfall hat. Dabei ist er nicht der geborene Verlierer. Er hat gute Talente. Aber es liegt ihm nicht, sich in den Vordergrung zu stellen. Er hasst die in der Musikszene typische Angeberei. Erfolg, durch Lügen erzielt, wäre nichts wert. Er hat sich ein Pseudonym zugelegt. Vielleicht war unter Zuhilfenahme eines neuen Namens ein Neuanfang möglich. Noch spielt er die Heldenrolle in der von ihm selbst inszenierten Tragödie. Wohin er auch kommt, was immer auch geschieht: seine Erwartung, dass etwas Schreckliches passieren wird, ist bereits da und wartet wie der Igel auf den Hasen
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Juni 2014
ISBN9783847694601
Jazz: Eine Erzählung

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    Buchvorschau

    Jazz - Wolfgang Dahlke

    INTRO

    Die meiste Zeit ist Lucius Mitchell verwirrt. Wenn er sich nicht gerade über irgend jemand ärgert. Vor allem: dessen unverdienten Ruhm. Oder sein eigenes Schicksal beklagt, sich Sorgen macht, von Eifersucht oder einem Angstanfall geplagt wird. Dabei ist er nicht der geborene Verlierer. Er hat gute Talente. Aber es liegt ihm nicht, sich in den Vordergrund zu stellen. Er hasst Angeberei. Erfolg, durch Lügen erzielt, wäre nichts wert. Er hat sich ein Pseudonym zugelegt. Vielleicht war unter Zuhilfenahme eines neuen Namens ein Neuanfang möglich!

    Er hatte Musik immer geliebt. Bis er professioneller Jazzmusiker wurde. Die Leute rannten nicht nur immer noch (sondern heute mehr denn je) in Scharen in die Konzerte der bei billigem Rock und Pop mental frühergreisten Verweigerer des Erwachsenwerdens, denen sie mit ihrem knappen Geld durch regelmäßige Plattenkäufe und treu-anhängliche Konzertbesuche seit bald fünfzig Jahren rauschende Existenzen finanzierten. Mit prunkvollen Anwesen in exquisiten Wohngegenden an Waldrändern, Traumstränden oder in Penthouses der Metropolen, in Hotel-Nobelsuiten mit Groupies und Unmengen aller erdenklichen Betäubungsmittel. Der erfolgreiche Rockmusiker, der für sie in den Siebziger Jahren eine Rebellion verkörperte, die sie mit gesellschaftlichem Umschwung oder wenigstens Progress verwechselten, lebte längst das Leben des großbürgerlichen Luxus-Spießers, dessen Lebensgefühl aus dem Geist sinnloser Verschwendung erwuchs. Dieselben Fans, gerieten sie aus Versehen in eines seiner Jazzkonzerte, beschwerten sich bereits am Eingang lautstark über 7 EUR 50 Eintritt. Für die Rolling Stones-Karte vorgestern hatten sie gut und gerne das Zehnfache geschmückt. Die Anzahl der gespielten Akkorde, konnte man als Regel festhalten, und die Höhe des gezahlten Eintritts verhielten sich zu einander in reziproker Proportion.

    Lucius führt Tagebuch. Er hat gelernt, dass ein Erlebnis (eine Enttäuschung, Kränkung, ein Schicksalsschlag) besser zu ertragen ist, wenn man sich beim Schreiben seiner Bedeutung versichert. So kommt er selbst zu Wort. Er konzentriert sich dabei auf sich und die anderen, die im Moment für sein Leben eine Bedeutung haben.

    Er hatte immer Musiker werden wollen; aber die Szene bleibt ihm fremd. Es wird zu viel gelogen, es geht zu viel um Sex, Herrschaft, und zu wenig wirklich um Kunst. Noch spielt er die Heldenrolle in der von ihm selbst inszenierten Tragödie. Wohin er auch kommt, was immer auch geschieht: seine Erwartung, dass etwas Schreckliches passieren wird, ist bereits da und wartet wie der Igel auf den Hasen. Ich, als der, der ihn kennt (weil er ein wenig wie ich ist) und der die Dinge – im Moment des Schreibens – nüchterner von außen betrachten kann als er, ich glaube nicht an Tragödien. Ich halte es mehr mit der Epik: sieh, was passiert und was du tun kannst, damit es sich ändert. Epik ist, wenn alles beständig im Fluss ist. Wenn nichts, kein Schicksal, kein Charakter, keine Bedeutung ein- für allemal feststehen. Der Stoff der Epik ist unbegrenzt. Er ist die unreduzierte Realität ganz intimer, mikroskopisch kleiner und ganz riesiger, unüberschaubar in die Breite gewachsener Lebensräume, die keine traditionelle Erzählkunst mehr durchmisst. Man könnte in den Gesichtern der vorbeihuschenden Massenexistenzen lesen, hielte man sie am Arm fest. Man könnte ihre Geschichten entschlüsseln, näme man sich die Zeit, sie anzuhören. Könnte die gesellschaftliche Totalität einzufangen versuchen, die sie hervorbringt. Doch da sind sie schon wieder in der anonymen Menge untergetaucht. Und ganze gesellschaftliche Systeme haben sich in dem Moment, da man sie beschreibt, schon wieder verändert und weiterentwickelt. Dennoch versucht der Epiker, gegen den Verfall, gegen das Vergessen, die Fremdheit, anzusammeln, was immer er in die Hände kriegt: Geschichen, Biographien, menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, Imaginationen, Träume. Er will nicht glauben, dass die oktroierte schlechte Alltagsexistenz nur noch gesichtslose Masken ausspuckt, ohne Zukunft und Vergangenheit – vor allem: ohne Verantwortung. Für sich selbst und für andere. Es gibt immer wieder Charaktere, die Entscheidungen fällen. Natürlich auch solche, die (wie Lucius Mitchell) glauben wollen, dass sie dazu im Moment keine Möglichkeit haben. Keine Energie oder keine Zeit. Und, natürlich: es gibt auch geschichtliche Situationen, in denen keiner mehr individuell verantwortlich ist, keiner mehr allein schuldig ist. Nachdem er mit all den anderen zusammen die Unterlassungssünde begangen hat, es so weit kommen zu lassen. Dann bewegen sich die Kollektive in irrationalen, subjektlosen Massenornamenten. Überrennen andere Völker. Oder stecken Asylantenheime an. Auch davor hat Lucius Mitchell Angst: dass die Debatten veröden und das, was ihnen zugrunde lag: die Theorien. Weil die Menschen nicht mehr miteinander streiten können, sondern gleich zuschlagen. Dass die Bücher verschwinden, weil die Leute sich nicht mehr konzentrieren können. Dass die Musik stirbt, weil die Menschen keine Lust mehr haben, ein richtiges Instrument zu lernen. Und das Spielen dem Computer überlassen. Sogar das Komponieren.

    In seiner Studienzeit war er ein optimistischer Humanist; und eigentlich vertraut er noch immer darauf, dass sich letztendlich das Gute durchsetzt, besser: die Vernunft. Oder die herausragende gesellschaftliche Leistung. Na gut, sagen wir, er hofft darauf; ganz sicher ist er sich da nicht. Er will kein »Mann ohne Eigenschaften« werden. Allerdings gewinnt er den Eindruck, dass seine Kompliziertheit heute nicht mehr gefragt ist.

    Ich bin nicht wie ihr, widerlich schleimige Opportunisten, die sich mit dem Substanzverlust in der Kultur (Denken, Musik, Kunst, Politik, Verhalten, Partnerschaft) lieber abfinden und daran teilhaben als in Gefahr zu geraten, darunter zu leiden und nicht in Gesellschaft zu bleiben

    Das schrieb er in sein schwarzes Buch. Danach war er deprimiert und sprach tagelang mit keinem: er hatte seine wenigen Freunde gekennzeichnet und fühlte sich nun erstmals völlig allein; ein Don Quijote der Kultur. Immer auf der Suche nach neuen Windmühlen.

    Der Stoff und die Charaktere dieser Geschichte sind Realerfindungen. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen und Geschehnissen sind einerseits weder beabsichtigt wie andererseits letztlich vermeidlich. Wer vermeint, sich wiederzuerkennen, behielte es am besten für sich. Vermutlich hat es außer ihm ohnedies niemand bemerkt. Wer indes aus der schützenden Maske seines Pseudonyms herauskrakeelt: »Der meint doch mich!« täte dies womöglich aus Eitelkeit. Dummheit will ich nicht unterstellen – so dumm war nicht einmal ein Parteisekretär des längst obsoleten Neuen Deutschland (»Herr Heym, geben Sie's zu: der König David, das bin doch ich, oder?!«). Fiktion ist frei. Ich kann lügen oder die Wahrheit sagen. Erst Richtigstellungen machten der Verdacht zur Gewissheit. Außerdem ist es in Literatur völlig unerheblich, ob etwas stimmt. Solange es wahr ist.

    Obgleich Lucius, jedenfalls, so lange er noch Musiker ist, keine Literatur zu schreiben beabsichtigt, macht er sich selbst hin und wieder Notizen über die Künstlichkeit der Konstruktion einer Wirklichkeit, die wir offenbar nur, wenn wir sie extrem bearbeiten, deformieren also, wenn wir sie einschrumpfen und ihrer nicht einpassbaren Ecken und Kanten berauben, zu verstehen in der Lage sind:

    Die Wirklichkeit genannte Realinszenierung menschlichen Verhaltens hat, wie jedes andere Theaterstück auch, gewisse Typen. Man nimmt die anderen wahr als abstrakte, verallgemeinerbare Form aus einer Unsumme von Eigenschaften, die gegen die komplizierte Eigentlichkeit ihres Charakters auf das Erkenn- und Verstehbare reduzierte werden: So willst du ihn haben – du kannst ihn so besser begreifen; und vielleicht bist du das, was du an ihm sehen kannst, worauf du ihn eingeschrumpft hast, was dir immer wieder aufstößt, am Ende du selbst!

    Eigentlich ist der Stoff der Epik, wie gesagt, unendlich. Nimmt man sich nur einige Charaktere heraus oder konstruiert Figuren, die man für typisch genug hält, Gesellschaft zu vertreten, begeht man also (folgen wir Lucius' Aperçu) bereits eine an sich unzulässige Verkürzung. Aber Literatur, als praktische Philosophie, schielt immer in der Abstraktion zugleich auf das Konkrete, meint im Ausschnitt meist auch das Ganze. Und ein Roman allein kann das versuchsweise Bohren an einer Stelle, unter Vernachlässigung Googol-endlich vieler anderer, ohnehin niemals überwinden. So begnügt man sich mit einigen wenigen Typen, deren Geschichte man eine Zeit lang verfolgt; und ein Roman endet zum Beispiel auf Seite dreihundertundfünfzig – zumal man es sich heute nicht mehr erlauben kann, wie Homer, Cervantes, Fielding, Hugo, Joyce oder Döblin, das ungeduldige Schnelllesepublikum, das lieber auf die Verfilmung wartet, mit ausufernden Plots zu langweilen. Eine Erzählung musste schon immer zwischen zwei Buchdeckel passen, die heutzutage nicht mehr allzu weit voneinander entfernt sein dürfen. Es wird sonst womöglich zu teuer; und die Bindung ist auch nicht mehr das, was sie noch nie war. Literarische Texte widersetzen sich zwar dem Verfall, jedoch sind ihm Bücher seit jeher hilflos ausgeliefert. Sonst rechtfertigt nichts derlei Verkürzungen.

    A-PART (THEMA)

    Er wollte nie so sein wie die anderen. In der Schule war er nicht besonders, dafür war er außerhalb der von vorne herein verdorbenen Zeit, nachmittags und nachts, vielseitig künstlerisch aktiv. Er zeichnete und malte, wenn seine Mutter nicht zu Hause war, spielte ganz leidlich Klavier, was er durfte, und nahm heimlich am Konservatorium Schlagzeugstunden. Dafür musste er in einer primitiven Tanzcombo zweimal die Woche Geld verdienen. Seine Mitmusiker dort waren allesamt verheiratet. Sie brauchten die Kapelle, um ihrem Alkoholismus zu frönen und ihren geheimen erotischen Sehnsüchten nachzugehen. Sie bändelten mit betrunkenen Frauen aus dem Publikum an, machten zotige Witze, ließen die ganze besoffene Festhalle in albernen Reihen herumtoben und dumme Befehl ausführen: Die Männer fassen jetzt den Frauen an den Arsch! Oder: die Damen sehen jetzt mal nach, ob die Herren was in der Hose haben!

    Er hörte meist nicht auf die Liedtexte. Nur bei: »Dich erkenn’ ich mit verbund’nen Augen, ohne Licht und in der Dunkelheit«, das der Sänger mit der originalen scharfen jugoslavischen Ach-Lautung sang, fragte er sich, worin der sprachphilosophische Kern des hervorgehobenen Unterschieds zwischen »ohne Licht« und »in der Dunkelheit« stecken mochte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie gerade Leute, die ohne Unterlass vom »Ficken« redeten, fremdgingen, sich Pornos ansahen, plötzlich zu Liedern mitsangen, in denen es hieß: »Manchmal möchte ich schon mit dir diesen unerlaubten Weg zu Ende gehen«. Oder dass Frauen bei der Textzeile mit einstimmten: »Das, was ich will, bist du!« An die wenigen Originaltexte, die er mal gekannt hatte, konnte er sich bald nicht mehr erinnern. Er hatte sie leise und leicht verändert mitgesungen: Bella, bella, bella Marie, häng dich auf ich häng dich ab morgen früh! Als er einmal in sein Mikrophon, das man ihm für die zweite Stimme hingestellt hatte, lauthals sang: Wir bumsen durch bis morgen früh und haben Durchfallera, musste er sich eine neue Combo suchen.

    Damals war er noch nicht arrogant und nur mittelmäßig verzweifelt. Er glaubte, dass noch alles möglich sei. Er begann, sich mit seiner Schüchternheit abzufinden und erklärte sich seine Andersartigkeit damit, dass seine Mutter das immer gewollt hatte. Zu Fasching hatte sie ihm ein Rotkäppchen-Kostüm übergestreift. Er hatte sich erbärmlich geschämt, genauso wie in den Äppelklauer-Büchsen (so hatte sein Vater sie genannt, seine Freunde sagten: Schnellficker-Hosen dazu, wegen des mit zwei Reißverschlüssen zu öffnenden Latzes), weite karierte Kniebundhosen, die sie ihm genäht hatte. Wehrte er sich, fing sie an zu weinen und redete tagelang nicht mit ihm. Also versuchte er lieber, die Idee, die hinter ihren Wünschen stand, als seine ureigenste Andersartigkeit anzuerkennen und sie gegen die anderen zu verteidigen. Er begann zu vergessen, dass er lieber wie alle als Old Shatterhand gegangen wäre oder wie Mick Jagger aussehen wollte. Sein Vater hingegen hatte es gern, wenn er in allem so war wie die anderen, nur besser: mutiger, selbstsicherer, stärker, ehrgeiziger. Er fing an, sich abfällig über Schwächlinge zu äußern, die ihre schlechten Schulnoten nicht ertrugen und sich umbrachten, oder die überhaupt miese Zensuren hatten, obwohl sie aus reichen und gebildeten Elternhäusern stammten.

    Genauso wie sein Vater konnte er nicht verstehen, wie erwachsene Männer an Schicksalsschlägen zugrunde gingen und dem Alkoholismus anheimfielen, nur weil ein Kind gestorben oder ihre Frau untreu war. Seine Schwierigkeiten mit der Normalität der anderen, ihrer Durchschnittlichkeit, erklärte er sich damit, dass er zu etwas Großartigem bestimmt war. Ab irgend einem Zeitpunkt würde er, selbst wenn er gewollt hätte, keinen Zugang mehr gefunden haben zu den ganz normalen Lebensäußerungen der Mitschüler, Freunde oder Mitmusiker.

    Sein späteres politisches Engagement für die Diktatur des Kollektivs der Mittelmäßigen war zeitgemäß gewesen. Er hatte aber nie wirklich geglaubt, dass alle Menschen ihre Geschicke fortan selbst bestimmten, sondern sich in Tagträumen vorgestellt, dass er, eine redegewandte und erotisch ausstrahlende Mischung aus Daniel Cohn-Bendit und Jim Morrison, von einer Tribüne zu ihnen sprach und sie aufrief, ihre entwürdigende Fließbandarbeit aufzugeben oder in der Straßenbahn nicht mehr zu bezahlen. Da er aber die Erfahrung machen musste, dass er, wenn er aufgeregt war, leicht stotterte oder ganz den Faden verlor, nahm er sich später vor, die Massen mit guter, echter, ehrlicher Musik zu begeistern und in Bewegung zu setzen. Mit Jazz also. Für das Gro der Bevölkerung bewegte sich, fand er, die Musik, ganz gleich, ob sie Schlager hörten, billigen Rock oder Pop, hauptsächlich im Warentakt. Er wusste irgendwann nicht mehr, ab wann ihn das stumpfe Immergleiche nicht nur langweilte, sondern in ihm Übelkeit hervorrief, ab welchem Punkt seiner persönlichen Entwicklung er ein schwer zu beschriebendes Gesetz des tendenziellen Falls der Rate kulturindustriell erzeugten Lustgewinns zu ahnen begann.

    Als er studierte und nicht mehr zu Hause wohnte, schrieb er seinem Vater einen Brief, in dem er dessen Neigung zu spießigen Vorurteilen kritisierte, seine verlogene Stehaufmännchen-Mentalität nach der tausendjährigen Barbarei, die zum Glück nach zwölf Jahren beendet war. Er hatte seinen Daddy, der immer noch missbilligend auf seine zerrissenen Jeans sah, wenn er heimkam, daran erinnert, dass er mittlerweile, bitteschön, an die dreißig sei, so alt wie ein germanischer Stammesfürst, ein Universitätsprofessor des 19. Jahrhunderts oder der statistisch durchschnittliche gefallene Soldat 1944. Wem aber erlaubt ist, tot zu sein und dem ästhetischen Empfinden der anderen seinen verfaulenden Körper zuzumuten, der darf wohl auch darüber befinden, wie er als Lebender aussehen möchte! Wem erlaubt ist, sein Leben sinnlos hinzugeben, der darf auch entscheiden, mit welchen Menschen er verkehrt, welche Partei er wählt, beziehungsweise ob überhaupt! Deine faschistischen und kriegerischen Tiraden klingen mir noch in den Ohren. Nur dass du heute zufällig Mitglied einer demokratischen Partei bist, weil deine alte verboten ist, und dass du jetzt als Ratsmitglied Freunde in Istanbul besuchst. Ehemalige Gastarbeiter, die ihr hergeholt habt, um sie auszubeuten und das deutsche Proletariat mit billiger Arbeitskraft zu erpressen. Ich hasse euer Philistertum, eure Verlogenheit und finde es beschämend für ein angeblich gereinigtes demokratisches System, dass es euch wieder hat hochkommen lassen!

    Seine Mutter kritisierte er nie, nicht von Angesicht zu Angesicht und auch nicht in Briefen. Er hatte Angst, sie zu verletzen und fürchtete ihre Migräne sowie ihren Scharfsinn, ihre eisig analytische Art, die Dinge aus einer unlebendigen Distanz zu betrachten, wo sie all ihren Glamour verloren. Seinen Vater, der gelegentlich die etwas aufgebauschten Leistungen des Kronensohns, wie sie ihn dann nannte, bewunderte, ihn manchmal überschwänglich lobte, konnte er bluffen; seine Mutter durchschaute ihn, als einzige übrigens – und sie tadelte sein eitles Gehabe, seine kleinen Lügen, nicht in Worten als vielleicht »affig«, sondern kanzelte ihn durch Unbeteiligtheit ab, sagte so unüberhörbar nichts, dass sich das Wort ihm direkt aufdrängte als ihre Sprache gewordene Geste. Sie war, wie Sartre über seine Mutter sagt, eine feine Realistin in einer Familie plumper Spiritualisten.

    Gelegentlich denkt Lucius, dass er vielleicht nicht hartnäckig genug kämpft, dann wieder, dass er oft schon zu viel und zu unerbittlich gefightet hat, zu weit gegangen ist, um sich noch unbeschadet zurückziehen zu können, dass er zu wütend geworden ist oder aus Angst, wütend zu werden und sich zu blamieren, nichts gesagt hat, dass er sich entblößt hat bis zur Lächerlichkeit und dann trotzdem oder gerade deswegen verloren hat, oder dass er aus Angst zu verlieren frühzeitig aufgab und dadurch nicht gewinnen konnte. Nie wieder soll ihn jemand erniedrigen, vor allem aber will er sich nicht durch unkontrollierte Überreaktion selbst lächerlich machen!

    Manchmal glaubt er, dass er sich niemandem anpassen kann, mit keinem auskommt, dann wieder, dass immer er sich nur den anderen anpasst. Niemand spricht unaufgefordert mit ihm über seine Musik, stattdessen redet er mit ihnen über ihre, die er tödlich doof findet. Was sind die Rolling Stones gegen Phil Woods oder Sonny Rollins! Oder er lässt sich beispielsweise – als philosophischer Materialist – auf die blöden Glaubenssysteme von Esoterikern ein, die nicht einmal in der Lage sind, ihre als Wissenschaft daherstolzierenden haltlosen Behauptungen in einer systematischen Methode zu entfalten.

    Er hat sich oft Gedanken darüber gemacht, wie es kommt, dass die Mehrheit den musikalischen und technischen Wert seiner Musik, des Jazz, nicht wahrnimmt oder zumindest nicht anerkennt. Er hatte überlegt, ob er vielleicht so tun sollte, als sei er wie sie, um nicht allein dazustehen oder einer Minderheit anzugehören. Aber die Disco-, Rock- und Popmusik deprimiert ihn, sie besitzt nicht den Reiz der komplexen Form, der relativen Freiheit der Improvisation im Rahmen eines sehr viel ausgeklügelteren Harmoniegerüsts. Er liebt den lockeren, flüssigen Beat des Swing. Die anderen, glaubt er erkannt zu haben, halten nur aus Angst zwanghaft an ihrer einfach gebauten Musik fest, weil sie merken, dass sie nicht mithalten können. Aber auch innerhalb des Jazz gibt es ungezählte Abgrenzungsgefechte. Da sind die erfolgreichen und gut bezahlten Vertreter des Bier- oder Rumpel-Jazz, wie sie den Dixieland nennen, alte Herren, Vertreter und Medizinalräte, die amateurhaft über lächerlich simple Stücke wirr durcheinanderspielen. Es gibt Boogie-Woogie-Pianisten, die als überbezahlte Alleinunterhalter bei Talkshows auftreten und es schaffen, dass sich ein Stück wie das andere anhört. Oder es gibt den Rock- beziehungsweise Fusion-Jazz, in dem sich die statischen Grooves der Popularmusik durchgesetzt haben.

    Wenn er seinen Stil beschreiben soll, sucht er nach Beispielen, allerdings nicht ohne auf seine mittlerweile gewonnene geschmackliche Eigenständigkeit hinzuweisen. Er spiele so ähnlich, versucht er zu erläutern, als wären Jack DeJohnette oder Jon Christensen in die Gruppen Coltranes oder des frühen Miles Davis geraten, offener, moderner also als die Trommler der fünfziger Jahre. Bebop mit Modern Jazz vermischt. Wenn Steve Gadd Jazz spielt, den vor allem die Elektrobassisten, mit denen er gelegentlich zu tun hatte, seiner Präzision und Tempogenauigkeit wegen lobten, verlaufe die Dynamik kreisförmig, hat Lucius analysiert. Ostinate Abläufe in den Thementeilen kehren immer mit haargenau derselben Intensität wieder. Die Spielweise von DeJohnette und Christensen gleicht hingegen einer Spirale, die sich endlos vorwärts schraubt. Immer geschieht etwas Neues, nie wiederholt sich Bekanntes, ein ewiges Neu-Erfinden, das beim Spielen in einen rauschhaften Zustand versetzt, beim Zuhören gelegentlich Unruhe auslöst. Die Spirale hat keinen Anfang und endet nirgends, wie eine epische Erzählung, die mitten im Leben eines Protagonisten beginnt und eigentlich ohne Schluss bleibt. Solche Stücke werden am besten durch Ausblenden beendet, dadurch bleibt die Idee der Unbegrenztheit gewahrt. Zugleich, musste Lucius eingestehen, besitzen sie aber den Makel der ewigen Unvollendetheit, der Unabgeschlossenheit und ewigen Unfertigkeit. Unendlichkeit aber macht ihm Angst.

    *

    Er setzt sich nach der Konzertreise auf dem Weg von England über Holland gleich hinter der niederländischen Grenze von der Gruppe ab. Nicht, weil sie

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