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B. K. TRAGELEHN: Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.
B. K. TRAGELEHN: Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.
B. K. TRAGELEHN: Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.
eBook250 Seiten3 Stunden

B. K. TRAGELEHN: Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.

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Über dieses E-Book

In diesem Buch zieht B. K. Tragelehn versonnen und verschmitzt, hellwach für die Finsternisse der Zeit, an seiner Zigarre und erzählt. Wieder. Noch einmal. In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt wandert er durch sein Leben und besteht auf die Stimmung eines Abendspaziergangs. Flankiert werden die Gespräche durch Texte von Josef Bierbichler und Friedrich Dieckmann.

Der 1936 in Dresden geborene Regisseur, Dichter und Übersetzer: Das ist Lust am Widerspruch, Begehren nach dem Paradox, Freude an frivoler Verweigerung: "Wenn alle dafür sind, bin ich auch dagegen." Am Eis der Zeit erhitzt er seine Poesie. Ein Komödiant mit simplizischem Talent. Für den letzten Meisterschüler Brechts und langjährigen Freund von Heiner Müller war das Leben im Osten eine Geschichte der Verbote, das Leben im Westen ebenfalls eine Chronik des Unliebsamen. Im verkoppelten Ostwesten dann die Wiederaufnahme des alten Möbelspiels: "Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischensetzen."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2023
ISBN9783957494801
B. K. TRAGELEHN: Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.

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    Buchvorschau

    B. K. TRAGELEHN - Hans-Dieter Schütt

    ZUVOR

    Immer wieder ist es nicht zu umgehen,

    um irgendwo, wo immer, anzukommen,

    einen Umbogen zu machen.

    So heißt der Umweg im Sächsischen,

    in dem ich aufgewachsen bin.

    B. K. Tragelehn

    Dieses Buch gibt es schon. Wie es alles schon gibt. Tragelehn grinst. Nein, nicht. Aber eines ist wahr: Er ist im Dauererzähldienst, seit eh und je. Er schaufelt Material, um und um. Das Sofa lädt ein, der Schaukelstuhl, der Kaffee, das Tablett mit den Keksen, an der Wand ein Holzstück aus Estland. Schwung, Wind, Bleiche. Mitbringsel von der Insel Saaremaa vor der Rigaer Bucht, wo Tragelehns jahrelang ein schlichtes Häuschen bewohnten. „Die sommerliche Auszeit von Berlin wurde von Jahr zu Jahr länger. Der Sachse in der Verwandlung: zum Fischkopp. Im Sommer 1992 war Estland autonom geworden, russische Juden kamen nach Berlin, sogenannte Kontingentflüchtlinge. Meine Frau half. Die betreffende Familie aus Moskau machte uns, gewissermaßen als Dank, auf das Häuschen aufmerksam, dort hätten sie immer Urlaub gemacht. Mit dem Schiff fuhren wir nach Helsinki, rüber nach Tallinn, dann auf die Insel. Die russischen Atomraketen standen noch, man konnte die Standorte sehen."

    Man sieht in solchen mitgebrachten Dingen, was man nicht mehr ist. Den längsten Atem beim Erzählen, was einem Leben so blüht, haben hier die verschiedenen Trockenblumensträuße, wie Botschafter aus Landschaften, wo das Gras der Schilfzähen wächst. Wo man sieht, dass Biegsamkeit schön aussehen kann. An den Wänden auch Tragelehn selbst, von Malern und Grafikern porträtiert, auch eine Bronze steht da von Karlheinz Schamal, der frühe B. K. Tragelehn und seine Frau, schöne junge Köpfe auf jeweils schmalem meterhohem Holzsockel. Christa Tragelehn: „Ich war gerade schwanger, der bildende, modellierende Künstler hat es sofort gesehen."

    Christa und B. K. Tragelehn bei einer Veranstaltung der FDJ-Lyrikwelle im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität Berlin, 1963

    Überhaupt: Christa Tragelehn. Ständige erste Beobachterin des Dichters. Sie sitzt dem Regisseur gleichsam im Pelz. Sie sieht heute schon, was er morgen endlich tun sollte. Oder nicht. Oder endlich mal wieder. Es gibt Tätigkeitsfelder, für die in der gesamten Gesellschaft weit mehr Leute benötigt werden, als Talente vorhanden sind. Ärzte gehören dazu, Lehrer, die Sozialarbeiterschaft. Mangel an Einfühlungsvermögen aber produziert vielerorts Sacharbeiter, wo es doch um Menschen geht. Christa Tragelehn, dieser praktische Büchermensch, jahrelang Gefährtin ohne Reisepass, also Ehefrau und Mutter allein im Osten Berlins, besitzt dieses Vermögen, ohne es je mit falscher Romantik zu besetzen. Oder mit wirkungsbewusster Fühligkeit. Sie muss nicht gesehen werden, sie muss nicht auffallen. Sie wird gesehen und fällt sofort auf. Sie hat eine sehr spezielle Auffassungsgabe für Strukturen. Ob die nun geschaffen, bewahrt oder verändert werden müssen. Es hat auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Theater zu tun. Diese Reibungslosigkeit, sich sowohl einzuordnen als auch auszuscheren; dieser Blick für die absolut günstigste Route mitten im Gewühl, so, als schaue jemand von sehr weit oben auf einen Schnittmusterbogen. Auf diese Weise ordnet sie Räume. Eine wahre Dramaturgin. Sie gibt – und fragt nicht zu früh nach dem, was man zurückbekommen könnte, sollte. Das ist die wahre Rücklagenbildung. Alle anderen zaubern mit ihrem Gewerbe. Sie zaubert mit sich selbst und für andere.

    Also: eine Wohnung, in der man sich wie zu Hause fühlt und zudem noch ermuntert wird, sich so zu benehmen. Gelegen in einer dieser großen Berliner Alleen in Prenzlauer Berg, die sich beispielhaft ruhig vom Zentrum entfernen. In dieser Wohnung der Bücher und Zeitschriften, der Berge und Stapel geht vom Halbdunkel ein seltsames Licht aus, es wärmt, ohne einem etwas aufdringlich über die Schultern zu legen. Hier kommen alle sofort überein: Was wir auch tun, wir stören den Kater nicht.

    Zum Gespräch gehören Zigarre, der griffbereite Gehstock, Pantoffeln, baltischer Wodka vom Feinsten, eine feine dünne Tasse mit sehr altem Sprung, der inzwischen offenbar das Kleinod an der Tasse ist – mit den Jahren werden Verluste unser kostbarster Besitz: der Sprung in Schüssel, Tasse und Erinnerung. Das Witzige also, der Fehler im System. Dazu Küchengeräusche, Christa Tragelehn lacht. Ich frage mich, worüber sie draußen lacht, während ihr Mann hier im andern Zimmer erzählt, raunt, brubbelt, feixt.

    Oft fahre ich zu Gesprächen hierher, meist nachmittags. Die Wolken ziehen am Fensterausschnitt vorüber, wir schauen und wissen, sie hätten ganz anderes zu erzählen als das, was wir wieder und konservieren.

    Die Gesprächspartner der Zeiten sitzen gleichsam mit am Tisch. Thomas Irmer, Falk Strehlow, Nikolaus Merck, Irene Bazinger, Holger Teschke, Jakob Hayner, Harald Müller, Janine Ludwig, Stephan Brockmann, auch Jens-Fietje Dwars, Tragelehn besonders zugetan, dieser Jenaer Verleger all der Entlegenen, all der vom Großwirkungskreis Abirrenden. Tragelehn hat sein Werk parat. Er ruft auf, fügt Uraltes zu Altem, mischt neu. Er ist ständig beim Wiedersortieren, Neuredigieren – Gedichtbände jüngster Drucklegung etwa enthalten laufende Korrekturen, das ist ein nicht endendes Verändern, Verwerfen, es wird gefeilt und geputzt; und so sind beim Fragen und Antworten eben stets auch frühere Gespräche und Interviews mit einbezogen. Tragelehn ist fortwährend mit Collagierung seiner selbst beschäftigt, das hält die Werkstatt am Laufen, das hat eine spielerische Ehrlichkeit: Material bleibt Material. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte (auch so ein wichtiges Wort für ihn), und jede Vorgeschichte folgte einer Vorgeschichte, so dreht und wendet sich alles und endigt in weiteren Vorgeschichten, und wer alles von Tragelehn weiß, wird doch nicht genug bekommen. Wenn er nach Worten sucht, sucht er nach Tagen und Jahren. Er mag Wörter. Zum Beispiel: „zusammenschrauben". Mit geschickten Kniffen etwas fugen, das hält. Aber dass etwas halten wird, heißt auch nur: Den Verfall halten wir nicht auf.

    Wo ein respektabler Geist deutscher Theatergeschichte nicht mehr zum Kanon einer von Effekt und Erneuerung bestimmten Gegenwart gehört, nenn’s Generationenwechsel, nenn’s Innovationsschub, nenn’s kaltes Abgleiten in die Theaterhistorie – dort jedenfalls möge auf Inseln der Besinnung nach den alten Erzählungen und Erfahrungen gefragt werden. So kommt es zu diesem Buch. Rundender Draufblick. Es liegt Erlebtes vor, was wer damit anfängt, bleibt Vermutung.

    Kurz vor dem Mauerbau hatte der 1936 in Dresden geborene B. K. Tragelehn Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande mit Studenten der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst inszeniert. Kollektivierung und Klassenkampf; das Dorf als Welt - die mehr ist als das, was eine diktatorische Partei darunter verstehen will. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch, sie wird verboten. Das ist Tragelehns erste Erfahrung mit Leuten, die auseinanderschrauben müssen, um sich als Aufklärer zu fühlen. Die in kategorisierbare Einzelteile zerlegen müssen, was sich für eine Idee zusammentut. Regal statt Welt. Tragelehn passt nicht in die Schubladen der sozialistischen Horch-und Guckkastenbühne.

    Im Westen dann (Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin) übersetzt er maßstabsetzend elisabethanisches Theater, avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, und seine Übertragungen etwa von Auden, Shakespeare-Liedern und chinesischen Gedichten folgen der einzig wünschenswerten Freiheit: Es geht um die schöne Bodenlosigkeit der Vorstellungskräfte. Über dreißig Jahre Regie. Er hat in den Rissen der ostwestlichen Gesellschaft jene Zeit blendender Illusion überdauert, die sich bei Linken eine Weile lang, in großer Langeweile, Hoffnung nannten - bis das Eis der Globalisierung über die wundpolierten Weltbilder schrammte und einmal mehr und unwiderruflich den Kern aller Zeit offenlegte: Kampf. Der Mensch treibt, was ihn treibt: Die Lust ist der Nachbar des Todes. Und „Sozialismus"? Von dem wird bleiben, was B. K. Tragelehn früh an die Nieren ging. Sein Theater gehörte dazu, gehörte zu ihm, seinem Schmerz aus besagter Lust an der Welt. Vor allem ihrer Veränderung. Weshalb dieses Theater eben lange nur im Westen stattfinden durfte. Wo die Verhältnisse freier, nicht besser waren.

    Und nach 1989? Erneut nur Westen, die Welt hatte sich einmal gedreht. Entfesselung war angesagt, weniger freilich Entfaltung. Erde: bleibender Ort des gierigen, aber entleerten Menschen.

    Er ist ein Regisseur, der immer auch schrieb. Bei Theaterproben entstehen Gedichte, gewidmet etwa Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Josef Bierbichler, Peter Brombacher. Tragelehn, der Poet: die Bosheit so freundlich; die Skepsis so kreuzfidel; der Ausbruch so sanft. Was rauschhaft werden will, durchknetet er mit Nüchternheit. Alle Texte, will man sie denn auf einen Nenner zwingen, hinterlassen seltsamverwirrende Benommenheit. Poesie hat unterm Lärm ihre Höhlen. Das Dunkel dort: ein Gegenlicht.

    Der Regisseur und Dichter, auf einem frühen Foto neben Lehrer Brecht sitzend: ein Wesen zwischen aufsaugender Strebsamkeit und listigem Versteck hinter Ingredienzen der Ordentlichkeit - biedere Frisur und Hornbrille. Am Ende, also ziemlich rasch, ist dann doch der wahre Tragelehn draus geworden: eine mit fülligem Witz gepanzerte, sehr originäre Brecht-Kopie, Zigarre und Schwejk in den Mundwinkeln, der Bart unordentlich, das Denken in kurze, geradezu kristalline verdichtete Verse getrieben. „Der Sohn beschreibt wie der Vater/ Stalins Bild aufhängt und abhängt/ Anschreit im Spiegel den Fremden/ Ich will allein sein Die Enkel/ Jeder für sich was sehen wer sieht sie/ Zerbrechen Bilder und Spiegel/ Die Scherben krönen die Mauern/ Oder öffnen Adern".

    Was der Regisseur in den Jahren arbeitete, ist zu verschiedenen bildlichen, akustischen, textlichen Dokumenten erstarrt. Das Schicksal allen Theaters. Werden und Vergehen als Gleichzeitigkeit, „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze". Nachwelt, das ist schon die Sekunde, die der jetzigen folgt. Die Gedichte aber, die er schrieb, sie fragen weiter. Den Dichter Tragelehn lesen heißt: Verse erfahren über unsere Stimme, wenn wir sprachlos sind. Variationen der Distanz zu Zeit und Geschehen. Nachsicht und Unnachgiebigkeit im richtigen Verhältnis. Verteidigungsreden für jede Narrheit, die das Leben ist - wenn es denn gehörig ungeschützt gelebt wird. Poesie als weitgeöffnete Tür zu einem Zimmer, das keinen Boden hat. Reiseführer zu den Zwischenräumen von Gegensatz zu Gegensatz. Jeder blühende, windwogende Baum ist bekanntlich die wahre Feier der Dichter. Aber dann kommt dieses Dichters Frage: Was wissen wir von der Unterseite der Blätter? Es gibt, von dieser Frage ausgehend, eine große Treue zu Bäumen, die nicht in den Himmel wachsen.

    Elegien sind ihm ein bevorzugtes Genre. Elegien und Oden. Das Euphorische begegnet den Gefühlen von Abgesang und Nachklang; alle Wehmut hat ein Zwinkern. Als Brechts letzter Meisterschüler hat er das gelernt, was ihn wohl auch Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert, das kichernd daherkommt. Als unverhohlene, dann wieder dezente sächsische Breitguschigkeit. Eine Wortspielernatur ist er. Er macht gern kräftige Sätze - direkt auf den Widerspruch zu, der ihm willkommen im Wege steht. „Jäte ich das Unkraut, verletze ich die Blumen./ Gieße ich die Blumen, pflege ich das Unkraut."

    Er weiß: Mit jedem Wort erschweren wir den Zugang zur Wahrheit. Tragelehn arbeitet dagegen an, alles in Floskeln zu pressen, alles Große rasant kleinzureden, nur um Sprachlosigkeit zu überbrücken und darüber hinwegzutäuschen, dass das Meiste tief in uns zeugenlos bleibt, alle Zeit. Er ging stets, Theater und Dichtung betreibend, beharrlich auf das zu, was sterblich hält. Er musste sich weltwärts erfahren, also in Verwitterung - der aber doch Schönheit abgewonnen werden kann. An Tragelehn perlt somit jene Selbstübertreibungstechnik ab, die das Individuum zu einer so glänzenden, so elenden europäischen Kopistennatur gemacht hat. Am Eis der Zeit erhitzt er seine Poesie. Die ist spiritueller Glanz überm Grau. Ist geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Er schreibt über Kämpfe. Im Bett und auf Bühnen. Gegen Weiber und Welten. Für Weiber und eine bessere Welt. Ein Komödiant also. Fähigkeit ist ihm nicht alles, denn: Unfähigkeit kann die größere Gabe sein. Etwa das Unvermögen, einer Lage oder einer Sache just dann beizuwohnen, wenn die Mehrheit dafür stimmt. Oder Minderheiten ihre ganz eigene Empörungstyrannei versuchen. Es ist das simplizische Talent. „Zwei Stühle kaufen/ Und sich dazwischen setzen."

    Ein Transit-Empfinden stellt sich beim Lesen ein. Denken als Durchgangsstadium. Ein Transit, das du selber bist; wir haben alles hinter uns, nur uns selbst nicht. Und die Übersetzungen, die er schuf, geben nichts auf von der Kraft der Quellen. Tragelehns verdichtungspräzise Feinfühlung, vor allem hinein ins elisabethanische Zeitalter, lässt an Karl Kraus denken, Tragelehn zitiert ihn wohlbedacht: dass nämlich „kein Wort anders aussieht, als sein Inhalt klingt und dass jedes so schmeckt, wie es riecht. Er sagt: „Das Besondere ist das Lebendige, das Allgemeine ist das Tödliche. So redet er über das einzelne Wort, das einzelne Gedicht, den einzelnen Menschen, das einzelne Leben, alles Einzelne, was die Welt trägt. Wenn wir in einer Epoche der Faktensucht leben, des Katechismus der Information, des Vertrauens in eine Wahrheit, deren Verbreitung mediale Wucht voraussetzt – dann ist dieser Tragelehn ein Vertrackter, dem es nicht um diese Art Wahrheit geht, sondern um die listigste poetischste Weise, beschriebener Auffassung vom Wahren nicht gerecht werden zu müssen.

    Die Editionen von Tragelehns poetischem wie theaterdenkendem Werk über die Jahre hin sind insbesondere auch das Einfühlungsprodukt von Herausgeber Gerhard Ahrens. Ein Dramaturg der belesenen Zuneigung. Ein präziser Anmerker und Aufbereiter. Bei Geleitworten, Kommentierungen, Textdramaturgien, in seiner berührend sachlichen Empfindungsart ist er dem Dichter sehr nah, rege und sorgfältige Notizen zu den Anlässen seiner Gedichte dokumentieren eine große Lust, sich zu Welt- und Literaturgeschichte jeweils das Eigene zu denken, aber das Werden der eigenen Verse nicht unabhängig von Tag und Zeitgeschehen zu betrachten. Tragelehns gesamtes Lyrikwerk erschien 2021 in einer dreibändigen Edition im Berliner Verlag Vorwerk 8. Früher publizierte er im Verlag Stroemfeld/Roter Stern, der 2019 in Konkurs ging. Ein Ende, paradoxerweise oder gar zynisch begleitet vom Lebenswerk-Preis an den Verleger K. D. Wolff im gleichen Jahr! „Eine Konstellation, die auf den Grund deutscher Kulturpolitik sehen lässt" (Ahrens).

    Heiner Müller, der wiederkehrende Name: Tragelehn empfand ihn wie einen großen Bruder, der des jungen Regisseurs Leichtsinn und Jähzorn zügelte. Gerade bei der Arbeit an der „Umsiedlerin. Ein Grundlagenstudium fürs Leben als Außenseiter. Wegen einer Hoffnung, die im Gesinnungschor gesungen werden kann, hat Müller nie das einsame Einverständnis mit der Verzweiflung verraten. Seine Poesie zog - schwer und genau gelotet - stets hinunter zu jenen wahren Gründen, die das Nichts erhellen, erzählen, erwärmen. Und doch waren da Farben einer Utopie konserviert. Die „wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht, das Gesicht der Freiheit. Mit diesem Müller-Gedanken im Gefühl hat Tragelehn stets Theater betrieben. Kunst wie eine „wütende Liebe zur Alternative, die überkommt dich „wild wie die Umarmung einer totgeglaubten/ Herzkönigin am Jüngsten Tag (Müller).

    Im Herbst 1989 kehrt der in den Westen gedrängte Tragelehn in die DDR zurück, nun selber ein Umsiedler, der am Umbau teilnehmen möchte. Als sich die Einheit auf uns stürzt, überstürzt, entdeckt der Dramatiker zufällig ein Stückmanuskript, das er vor Jahrzehnten für die Schublade geschrieben hatte. Nun, zur endlichen Drucklegung, setzt Tragelehn ein Motto davor, aus einem Geschichtsbuch von 1874: „Wussten sie am Ende noch, dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe? Die Spur im Gedächtnis war zugeschüttet. Sie hatten sich eingemauert. Sie wurden belagert. So lebten sie hin, die Belagerung dauerte, es schien das Normale zu sein. Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie zusammen mit den Siegern im Freien. Vor der Aufgabe."

    Aufgabe? Der Doppelsinn. Eine Aufgabe angehen, aber das Aufgeben mittrainieren. Das ist der Adel des Waffenlosen.

    Heiner Müller. 1995. Vorletzter Tag des Jahres. Da geht einer, geht für immer. „Über den mit Schnee bedeckten Berg / Ich sehe ihn um den Felsen verschwinden / Ich sehe seine Spur / Verschwinden im fallenden Schnee // Die Spur seiner schreibenden Hand / Vor meinem Auge / Schwarz auf weiß Krieg ohne Schlacht / Dauernd. Ein Gedicht Tragelehns zum Tod Müllers, „Der Abschied. Wahrer Abschied geschieht nur in jenem Verlust, der dem Überlebenden an den eigenen Leib geht. An Leib und Seele. An den Körper, diesen Seelensitz - der zwangsläufig ein verletzlicher, unsicherer Ort bleibt, wenn die Seele es denn durchhält, ein Wachorgan zu sein. Kalt gegen Verheißungen, heiß auf Verhängnisse. Im Elend der Realität verbrennen dich die Verheißungen, die Verhängnisse lassen dich gefrieren - also muss befreiendes Spiel her, wo der Unmut über die unterdrückende Welt und die Anmut, sie zu überschreiten, ein Paar bilden. Theaterspiel.

    Und so erzählt Tragelehn, und die Galerie ist von guten Leuten belebt, und ich empfinde Glück, Freunde des Regisseurs ins Boot zu locken. Freundschaft ist auch Kopfarbeit, die sich mitteilen möchte. Wo und mit wem man auf Tragelehn zu sprechen kommt, ich habe es ausprobiert, hellen sich die Mienen auf. Es ist plötzlich Gelegenheit da, auf gute Weise miteinander zu reden. Erlösung wird ein naheliegendes Wort. Und

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