Die gezählten Tage: Aufzeichnungen
Von Jürg Amann und Corinna Jäger-Trees
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Über dieses E-Book
Jürg Amann entführt ein letztes Mal in eine Welt, die gänzlich ihm gehört.
Reflektiert, kohärent, berührend – so lesen sich die Tagesbuchaufzeichnungen von Jürg Amann, zweifellos einer der bedeutendsten Schweizer Gegenwartsautoren, der zu früh verstorben ist. Sein Gesamtwerk: Prosa, Lyrik, Theater und Erzählungen. Sein literarisches Schaffen: so vielseitig wie der Verfasser selbst. Ein Schriftstellerleben lang begleiteten die Aufzeichnungen sein literarisches Schreiben. Schon früh begann Amann dabei auch eine biografische Spur zu legen in Tagebüchern, die die Gattungsbezeichnung sprengen: Weltanschauliches, Ästhetisches, Philosophisches findet Eingang in die eng beschriebenen 35 Wachstuchhefte, aber auch Briefe, die er, bevor er sie versandte, abgeschrieben hat. Sie markieren das für ihn biografisch Bedeutsame.
"Meine erste Welt ist zerstört. Ob eine zweite mir lebenswert erscheint, muss sich erst weisen."
Werkstattbuch und Lebenskontinuum zugleich: Der Autor gibt Einblick in Persönliches und die Poetik seines Schreibens. Seine Tagebücher sind mit größter Sorgfalt verfasst. Sind ernst, nachdenklich – regen zum Nachdenken an – und charakteristisch für das Werk des Autors, das bis heute weit über die Grenzen der Schweiz wirkt. Die Aufzeichnungen, die 1970 in Winterthur beginnen enden Anfang 2012. Amann erhält seine Krankheitsdiagnose und hört – mit wenigen Ausnahmen – auf zu schreiben. Anna Kurth, seine Lebensgefährtin, setzt auf seine Bitte fort, was vom Autor angelegt war. Sie bearbeitet den größten Teil der Hefte nach den Kriterien, die er vorgegeben hatte. Die Aufzeichnungen erscheinen zum 10. Todestag des Autors.
Mit einem Nachwort von Corinna Jäger-Trees
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Buchvorschau
Die gezählten Tage - Jürg Amann
Vorbemerkung
„Das Tagebuch, über dreissig Bände, denen diese Aufzeichnungen, auszugsweise, aber in sich unverändert, entnommen sind, ist gleichzeitig Werkstattbuch. Gegenüber der Normalschrift in diesem Buch in kleinerer Schriftgrösse gedruckter Text versteht sich demgemäss als Werkteil oder Werkskizze. Kursiv gesetzt sind Ausschnitte aus Briefen, deren Abschriften ins Tagebuch ebenso zum gesamtheitlichen Konzept dieses Lebens- und Werkkontinuums gehören."
Diese „Vorbemerkung" hat Jürg Amann seinem Manuskript vorangestellt, als er begann, Auszüge aus seinen Tagebüchern abzuschreiben. Das war ein paar Jahre vor seinem Tod. In seinen letzten Wochen bat er mich, diese Arbeit zu Ende zu bringen, ohne Eile, irgendwann. Dies habe ich getan. 30 Wachstuchhefte A5, klein beschrieben, waren noch zu bearbeiten. Was Jürg Amann selber begonnen hatte, habe ich versucht weiterzuführen.
Eine (auto)biographische Spur zu legen war allerdings kein leichtes Unterfangen in einem Tagebuch, das nur selten über Tagesgeschehen berichtet und in weit grösserem Umfang weltanschauliche, ästhetische und philosophische Gedanken enthält. Sprechend waren da vor allem die Briefe. Sie wurden von ihm – wenn sie ihm wichtig waren – zumindest in Teilen ins Tagebuch abgeschrieben, bevor er sie versandte. Sie markieren das für ihn biografisch Bedeutsame, geben Einblicke in Persönliches.
Das so genannte Biografische und das Werkstattbuch sind für den Tagebuchschreiber also zusammengehörig und zugleich reflektierte Auswahl. Das zeigt sich auch daran, dass die Tagebücher der Jahre 1969/70 von ihm nicht berücksichtigt wurden, weil sie schon in seinen Roman „Wohin denn wir eingeflossen waren. (Die „Jugendtagebücher
, wie der Autor die früheren nannte, wollte er ohnehin nicht aufnehmen. Sie gehörten für ihn nicht zum darzustellenden „Lebens- und Werkkontinuum").
Jürg Amanns Tagebucheinträge enden Anfang 2012. Er hat zwischen seiner Krebsdiagnose und seinem Tod kein Tagebuch mehr geführt. Wie er überhaupt, mit wenigen Ausnahmen, aufgehört hat zu schreiben.
Selbstverständlich habe ich mich an die Vorgaben, die er selber für seine Auswahl bestimmt hat, gehalten. Kein Komma wurde hinzugefügt, kein Wort verändert. Meine Arbeit bestand, in Verlängerung seines eigenen Tuns, in der Auswahl seiner „in sich unverändert[en]" Passagen, die Einblicke geben in sein Schriftstellerleben und sein poetisches Denken.
Anna Kurth
Folgende Zeichen wurden vom Autor im Tagebuch so notiert: ... und (...)
Wo ich als Herausgeberin Textstellen innerhalb eines Briefes gekürzt habe, wurde das folgendermassen gekennzeichnet: [...]
1970
Winterthur, 21.12. Seltsam, dass das Fehlen eines Tagebuchs auch gleich das Ausbleiben fruchtbarer Gedanken zur Folge hat. Endlich ein neues gekauft.
Sich ohne Nachsicht ausdrücken, um das Bild der Welt zu geben! Ohne Nachsicht!
24.12. Totale Einsamkeit ist totale Freiheit. Warum tönt der Satz, wenn man ihn umkehrt, obwohl dieselbe Identität ausgedrückt wird, um so viel trauriger? Totale Freiheit ist totale Einsamkeit.
26.12. Ich bin die Momentaufnahme eines unendlichen Stromes.
Die Vergänglichkeit begreife ich immer dann ganz, wenn ich in einem uralten Film die Brüste einer jungen Frau betrachte, die nun bereits alt sein muss, sehr alt. Dann frage ich mich, was mit diesen straffen, schönen Brüsten geschehen, und mein Fleisch lehnt sich gegen die Gewissheit auf.
1971
1.1. Warum ist die Welt dann am schönsten, wenn sie am kältesten ist?
Ich muss mir abgewöhnen, mich durch Krankheiten und Schwächen interessant zu machen, die ich gar nicht habe.
10.1. Ehepartner scheinen mir oft nur die eine Funktion zu haben, sich gegenseitig durch Lob, Aufmunterung und Lüge am Leben zu erhalten.
„Dieses Verlangen nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt wird, findet sich erst in den Ferien zurecht." Kafka, als ob er von mir schriebe.
Ich schreibe wochenlang nichts, aber wenn ich mit anderen Pflichten in Zeitnot gerate, verspüre ich auch plötzlich wieder den Zwang zum Schreiben, als sei es ein Alibi. Vielleicht ist überhaupt alles Alibi, was ich um mich schaffe.
Entwöhnungskur von diesem verdammten Fernseher!
13.1. Im Verhältnis zum Unendlichen ist alles nichts. Im Verhältnis zum Nichts ist alles etwas.
19.1. Es vermehrt das eigene Unglück, andere glücklich zu sehen, obwohl es, wenn die anderen unglücklich wären, auch nicht weiterhelfen würde.
24.1. Ich entkomme meiner Krebsnatur nicht. Immer schaue ich, während ich mich vorwärts bewege, zurück.
27.1. Diese falschen Hoffnungen, die die eigene Natur übersteigen. Überhaupt diese Hoffnungen. Ich muss wieder hoffnungslos werden, damit ich unverletzlich bin.
Du hast Besuch?, fragte er. – Ich habe ihn wieder weggeschickt, sagte sie. – Wie konntest du nur?, sagte er. – Ich wusste doch, dass du kommst, sagte sie.
24.2. Optimismus ist das Opium des Volkes.
Wenn man ohne Kompromiss durchs Leben will, muss man früh genug lernen, allein zu sein.
3.3. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist nicht, wie uns weisgemacht wird, seine Willensfreiheit, sondern das Bewusstsein seiner Willensfreiheit: die Illusion.
5.3. Es gibt kein Ziel. Aber perfiderweise gibt es Wege.
6.3. Der Gesündeste, Sensibelste scheitert in dieser Welt. Nicht weil er, sondern weil die Welt krank ist.
9.3. Hätte ich doch den Mut, alles zu verbrennen, was früher war. Aber mir ist, als würde ich damit den Ast absägen, auf dem ich trotz allem noch sitze. Ohne Vergangenheit hätte ich keine Zukunft.
16.3. Wenn schon ich die Welt nicht ändern kann, so will ich wenigstens anders sein als sie.
20.3. Ich halte es nicht mehr aus, dieses kleinbürgerliche Ehedrama zu Hause länger täglich mitanzusehen. Es ist zu jämmerlich. Zu lächerlich und zu traurig zugleich.
26.3. Seltsam, dass man annimmt, man selber sei immer vorhanden gewesen, nur die anderen hätten zeitweise gefehlt.
18.4. Lieber P., eben habe ich ziemlich viel Staub aufgewirbelt, indem ich eine Wespe aus meinem Zimmer vertrieb, die mich daran hindern wollte, Dir zu schreiben. Ich verstehe ja, dass Du Berlin durch eine neue Brille siehst. Aber ich verstehe nicht, dass Du der Stadt die Schuld für Deine Brille in die Schuhe schiebst. Berlin hat sich nämlich nicht verändert. Nur hat es uns und haben wir es nicht mehr nötig. Diese Erfahrung habe ich ja auch machen müssen. Berlin ist jetzt eben eine Stadt wie (nicht ganz) jede andere …
25.4. Ich bin plötzlich schon in ein Alter gekommen, in dem ich meine, ich müsse bestellte Grüsse auch ausrichten.
20.5. Hat meine Egozentrik ihre stärksten Zeiten hinter sich?
27.5. Mythen sind nach rückwärts gewendete Utopien.
8.6. Wie konnte ich vergessen, dass ich immerhin im Tanz meine Hände um M.s seidenumspielte Hüften legte, dass sie umgekehrt etliche Sekunden lang ihren Kopf an meinen drückte – um dann leider zu erwachen und sich verwirrt zurückzuziehen.
19.6. Heute gegen Morgen wieder von M. geträumt. Immer diese helle, selbstverständliche Erscheinung. Wie Seide zu nehmen.
Wir sind von Gott. Aber Gott ist vom Teufel. Und der ist von uns.
25.7. Ob meine krankhafte Ehrlichkeit auf einen Mangel oder auf einen Überschuss an Phantasie zurückgeht?
13.8. Diese Sehnsucht nach Musik, sie befriedigt sich nicht zwischen weiblichen Schenkeln.
Cervia, 16.9. Ich sei manchmal von einer geradezu gemeingefährlichen Höflichkeit, sagte P.F.
Locarno, 23.9. In der Nacht vom 11. auf den 12., in Venedig! C.
Lieber P., … Auch als wir uns liebten, liebte sie durch mich hindurch Vergangenes, Fernes. Ihr verschollener Freund spielte mit. Ich wusste es und leckte doch ihre Tränen fort …
Winterthur, 7.10. Weil ich meine Zukunft immer offen halte, habe ich keine.
5.11. Die einzig gültige Philosophie ist der Relativismus: weil er sich selber aufhebt.
7.11. An K.M.s Hochzeit, mit ihr, der Braut, dem ersten Mädchen meines Lebens (sie hat mich als Kind im Wagen spazieren geführt) getanzt. Etwas wie Liebe, Liebe zu diesem Weissen, Hoffnungsvollen, Blühenden, Traurigen, das die Enttäuschung schon ahnt und doch tanzt. Beim Abschied sagt sie zu mir: Als du klein warst, wolltest du mich immer heiraten: daraus wird jetzt auch nichts mehr.
11.11. Was geschieht eigentlich mit den Menschen, die in meinen Träumen vorkommen, und zwar gerade dann, wenn sie in ihnen vorkommen?
21.11. Liebe C., … Ich glaubte, das sei klar, ich habe es wiederholt deutlich zu machen versucht, dass es sinnlos ist, wo zwei Welten unvereinbar aufeinanderprallen, nach Schuld zu suchen. Wenn Du einen Fehler gemacht hast, dann höchstens in der Nacht in Venedig, in der Du mich missbrauchtest, indem Du mich nicht als den nahmst, der ich bin, sondern als greifbaren Ersatz für das Dir damals ungreifbar Ferne. Deine Tränen haben Dich verraten …
8.12. Wenn ein geliebtes Wesen plötzlich fernbleibt, möchte man immer zuerst glauben, es sei tot, denn Trauer fällt leichter als Liebe.
28.12. Es zeugt von einem falschen Menschenbild, zu sagen: Wenn ich gewollt hätte … Es gehört untrennbar zu meiner Person, dass ich nichts wollen kann, ausser was ich auch wirklich tue. Dieses innere Beharren auf Einsamkeit.
29.12. Das Nichts ist nur denkbar als eigene Abwesenheit. Raum war immer. Zeit gibt es nicht.
1972
Winterthur, 6.2. Lieber U., wie Du oben siehst, verbringe ich die Olympia-Woche vor dem elterlichen Fernseher. Zuerst eine Meldung von unseren Frauen. Nicht von Marie-Theres Nadig, sondern von den Frauen in Zürich: Die Emanzipation ist ausgebrochen! – Bin ich da am Freitag an einem Universitäts-Fest, Jubel, Trubel, Tubel und so, schaue mir die Sache überlegen lächelnd aus gewohnter Distanz an und nehme plötzlich in meinem rechten Ohr, durch die Haare hindurch, ein süsses Flöten wahr. Wie ich mit dem Zeigefinger zum Ohr fahre, um etwas sauberzumachen, merke ich, dass da ein Mädchen dran hängt, das genau weiss, was es will und die ganze Nacht nicht mehr von meiner Seite weichen und mir nicht nur in den Ohren liegen wird. – Überhaupt stehen die Zeichen gut, wir haben allen Grund zum Lachen. Mehr noch: Am Dienstag mischt sich ein rührendes Geschöpf, das noch kaputt zu machen wäre, mit seinem Lächeln in mein Gespräch, am Donnerstag kommt ein blondes Blauäugiges nicht mehr von meinem Anblick los und wird rot, wie ich es frage, was es habe. Aber am Mittwoch gar, an einem Meditations-Abend, rührt mich durch seine blosse Erscheinung ein Wesen an, das stumm bleibt und absolut nicht davon abzubringen ist, dass wir uns in einem anderen Leben schon begegnet seien …
Wahrlich, die Sterne meinen es gut, alles drängt sich um mich, höchste Zeit, dass ich mir wieder einmal ein paar Fallen stelle, damit ich nicht gefangen werde.
Soviel dazu. Den Traum, der an dieser Stelle hätte stehen sollen, werde ich Dir nächstes Mal erzählen.
26.2. Ganz früher, wie ich mich erinnere, als ich zu schreiben begann, waren es Abschiede, vor denen ich mich fürchtete, damals gab es im Dasein offenbar einen Sinn. Heute jagen mir Wiederkehren den grössten Schrecken ein, während ich den Abschieden als längst Abgeschiedener aus weiter Ferne zuschaue.
21.3. Deshalb kann ich so absolute Briefe schreiben, so absolut an andere Menschen herantreten. Weil ich nicht liebe und deshalb nichts verliere, wenn ich Menschen verliere. Weil es mir recht ist, wenn Fremdes fremd ist und Fernes wieder fern von mir geht. Ja, wenn ich einmal wieder nur geringfügig liebte, ich würde in mich zusammenbrechen wie in ein schwarzes Loch …
18.5. Meine Schreibweise ist der Fressweise einer jener Kröten zu vergleichen, die den ganzen Tag mit geschlossenen Glasaugen dumpf und unbewegt auf ihrer Stelle liegen, plötzlich aber, wenn etwas Fliegendes, zur Nahrungsaufnahme sich dem Grunde nähernd und so in ihr Gesichtsfeld kommend, auch erst mit den Beinchen die Erde berührt, gierig ihre Zunge ausschnellen und es sich einverleiben, dann, nach zweimaligem leerem Schlucken und Augeneinwärtsdrehen wieder zu Stein erstarren und warten.
1.6. Es ist schandbar verlockend, der Versuchung nachzugeben und glücklich zu sein.
30.6. Es ist klar, warum ich gerade E. zu lieben beginne. Weil ich weiss, dass sie gar nicht geliebt sein will und also mir nie zur Gefahr wird. Unmögliche Liebe.
Ein für die Liebe verlorenes Mädchen zu lieben, gleicht mir wirklich.
Die Frage ist nur, könnte auch sie mich gefahrlos lieben? Oder böte ich ihr eine Hand?
30.7. Erinnerung an einen klaren Bergbach, als ich noch ein Kind war, und das Gefühl, dass so etwas so nie zurückkehrt. Fast vielleicht auf nächtlichen Fahrten über den See, wenn der Morgenstern schon sichtbar wird.
5.8. Liebe ist paradox. Die Welt ist ihr zu klein, aber die Zeit ist ihr zu lang.
9.8. Lieber P., ich verstehe Deinen Brief, als ob ich ihn selber geschrieben hätte. Deine überraschende kopernikanische Glückswendung gefällt mir. Ich wäre also einer (oder gar der einzige), der es ist und der es aber, wie die andern, die es nicht sind, auch nicht weiss. Ich glaube, zu gewissen Zeiten, ich weiss es sogar. Ich bin, wie ich sein muss und will. Postulieren wir also ruhig einmal, ich sei glücklich, und versuchen wir den Galgen zu vergessen, unter dem jedes Glück wächst. Du hast recht, meine Einsamkeit ist kein eigentliches Unglück. Im Rahmen meiner Einsamkeit ist die Zweisamkeit ein Leiden, mindestens ein artfremdes Unding. (Deine Überlegungen werden mir, wie Du siehst, im Kern gerecht.) Mein Glück liegt, wenn es überhaupt liegt, in dieser unendlichen Trauer, zu der ich fähig bin, um die Liebe, zu der ich nicht fähig bin. (Und wer hat ein Recht, die Trauer geringer zu schätzen?) Und doch: wenn ich am Ende wie der Taugenichts sagen kann: „Und es war alles, alles gut", dann werde ich es selber glauben, früher nicht.
10.8. Es lag in der Luft. Ich habe einen Sommer lang die Luft geatmet, in der es lag. Es war ein guter Sommer.
19.8. Der erhoffte Sommersturm ist zwar gekommen. Er war auch stark genug, aus den Tiefen alles nach oben zu kehren. Aber er war nicht stark genug, mich mitzureissen. So treibe ich nun, allein mit meiner Berührung, irgendwo hin. Es war ein stiller Sturm. Ein sanfter, grausamer Sturm.
11.9. Zwei Menschen sollen nicht zu einem Wesen verschmelzen. Es genügt, sich bei der Hand zu halten und zu wissen, dass man zusammengehört, wenn jeder seinen Weg geht.
23.9. Selbstschutz vor dem Leben, um zu schreiben – Sehnsucht nach dem Leben, ebenfalls um schreiben zu können: zwei Seiten des Paradoxons Kafka.
10.10. Wie um das Schlankbleiben zu kämpfen mitten im Überfluss, ist es heute auch unabdinglich, arm zu bleiben, wenn man dem Leben nicht zum Opfer fallen will.
Zürich, 29.11. Liebe D., wenn ich mir selbst beim rauschhaften Niederschreiben des letzten Briefes über alles „im klaren" gewesen wäre, dann hätte ich ihn ja wohl gar nicht geschrieben. Eigentlich ist es ja doch verrückt, aus nichts als einer Erinnerung, einem – zu dem noch ungehörigen – Traum und etwas zu viel Alkohol eine Beziehung aufbauen zu wollen. Aber gerade das Verrückte daran reizt mich so unwiderstehlich. Und vor allem der Gedanke an eine Vergangenheit, die noch nicht stattgefunden hat und die deshalb eines Tages Anlass zur Reue geben könnte, wenn man nur noch von Vergangenem leben und sich aus allem Versäumten mühsam ein Leben zurecht flicken wird.
Konkrete Vorstellungen habe ich allerdings nicht, es ist ja – nicht nur so zu sagen – im Traum über mich gekommen. Im Allgemeinen bringen mich Träume zwar ums Leben, warum sollte aber nicht einer einmal ins Leben führen. Vielleicht zum letzten Mal. Jedenfalls kommen mir jetzt schon die Tränen der Rührung bei der Vorstellung, mit Dir ekstatisch den Lebensabend meiner Jugend etwas zu verlängern. Bald stülpen sie mir ja den Doktorhut über den Kopf, und von da bis zu dem berühmten Brett vor demselben ist es nicht mehr weit.
1973
13.1. Der Mut, den es braucht, einen ersten Satz zu setzen, auf ihn einen zweiten, dritten und schliesslich darauf eine Welt zu errichten.
21.3. Es haben alle Dinge ihren Platz zueinander. Zwischen E. und mir wird sich immer Ferne und Nähe gerade die Waage halten. Da wir nicht nach dem Gesetz der Schwerkraft zusammenfallen, ist unser Verhältnis auch nur insofern vergänglich, als wir selbst vergänglich sind. Wenn einer von uns einschläft ...
24.3. Plötzliche Anwandlung von Glück und Lebensmut spät in der Nacht eben beim Anschauen im Spiegel. Jungenhaftes Lachen übers ganze Gesicht. Schon wieder vorüber.
17.4. Einmal ging es in der Kunst um die objektive Welt, später um das subjektive Erlebnis dieser Welt durch den Künstler. Jetzt geht es um diesen Künstler selbst. Kunst wird zur sich selbst reflektierenden Lebensform. Denn der Künstler ist, wie in keiner Zeit zuvor, der Prototyp der zeitgenössischen Menschen, des Isolierten, Einsamen, auf sich selbst Zurückgeworfenen: eben des Individuums. Er war es schon immer. Heute ist es auch der „normale" Mensch. Daher die einmalige Bedeutung des heutigen Künstlers: als Vorbild. Als willentlich und wissentlich Vollstreckender einer Lebensform, die die andern noch erleiden.
26.4. Das Schöne ist meine einzige Gottheit. Dass sie sterblich ist, stachelt mich auf zur Unsterblichkeit.
27.4. Leben ist ein einziger gesteigerter Abschied.
30.4. Sinn und Leben schliessen sich aus. Wer also leben will, muss auf den Sinn verzichten. Wer aber sinnvoll sein will, darf nicht leben.
22.5. E. sieht das Alleinsein, nicht gefühlsmässig und gedanklich, aber existenziell, noch immer – im Gegensatz zu mir – vorwiegend negativ, d.h. sie erleidet es. Muss es denn ein Verlies sein? Spürst du nicht den Wind, der in deine Kleider weht, in dein Haar greift? Den Raum um dich? Die Freiheit?
Winterthur, 2.6. Liebe E., ich spüre Trauer in Sehnsucht umschlagen, das Leben damit wieder eintreten in den Kreislauf, aus dem ich seit letztem Sommer für immer ausgetreten zu sein glaubte. Seine Versuchung wächst. Aber auch seine Gefahr, von der ich bisher geschrieben habe. Wirklich: ich sehe dem ängstlich entgegen, was seit Deinem letzten Brief nicht mehr nur in der Luft zwischen uns hängt, von dem ich nicht weiss, ob es mein Leben sein kann. Dass aber Du von ihm träumst, hätte ich nie zu träumen gewagt. – Dennoch: ich beuge schliesslich meine Stirn vor deinem rückhaltlosen Vertrauen und ergreife zögernd die ins Ungewisse entgegengehaltene Hand. Zögernd, weil ich noch immer nicht weiss, ob unsere Freundschaft von der Art ist, die gelebt werden kann, und ob sie, falls sie es nicht ist, dann je wieder das sein wird, was sie jetzt ist, wenn sie einmal missbraucht war. – Zusammenfliessen? Ich weiss nicht, ob ich das kann, ohne mich selbst zu verlieren. Und Selbstverlust? Ich weiss nicht, ob ich das will.
12.6. Die Schöpfung der Welt ist die Todsünde Gottes. Dass es Gott nicht gibt, macht die Welt nicht besser, aber es befreit sie von der Sünde, deren Name „Gut und Böse" ist.
14.6. Grosse Verlorenheit heute nach dem mühsamen Versuch, mich bei den Behörden abzumelden. Wie werde ich mich trennen können von allem was ist und war? Was soll nun kommen? Gehört nicht jede Klinke in der eigenen Hand zu einer Türe, die, wenn man sie hinter sich schliesst, sich vor dem Leben schliesst?
Mit jedem neuen Tagebuch legt man im alten mehr gezählte Tage zu den Akten. Aber das ewige Buchzeichen tröstet, und schliesslich sind es nur die gezählten Tage, die zählen.
Winterthur, 14.6. Liebe E., mit jedem Brief, den wir uns schrei-ben, wird ein Wiedersehen schwerer, das wird mir immer klarer. Die Plätze, die wir uns zugedacht haben, werden, wie Du gesagt hast, besetzt sein von den Papieren, die wir gewechselt haben, von Worten, die über Lippen kamen, welche sich vielleicht nur gefunden hätten, wenn sie stumm geblieben wären. – Lass uns, wenn ich Dich um etwas bitten darf, dennoch nicht aufhören, uns Briefe zu schreiben. Vielleicht sind sie das einzige, was wir von uns haben werden. Und zudem: ich brauche sie. Gerade auch jetzt, in einer Phase persönlicher Schwäche. Wieder einmal bin ich soweit, an meinem Mut zur Einsamkeit zu zweifeln, umzufallen, die Fassung zu verlieren und mich ganz und gar dem Gefühl des Verlorenseins zu überlassen. Und das nur, weil ich heute meine Abmeldung von der Schweiz in die Wege geleitet habe. Was soll denn nun werden? Ich ertrage Abschiede sehr schlecht, weil sie mit jener Zeit zu tun haben,