Der Vater der Mutter und Der Vater des Vaters: Zwei Erzählungen mit Klecksographien von Urs Amann
Von Jürg Amann
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Über dieses E-Book
Der Vater der Mutter, der sie, das uneheliche Kind, verleugnet. Und der Vater des Vaters, der Familienmensch, der dem Enkel das Gefühl von Heimat und Vertrautheit gibt.
In gewohnt poetischer Sprache vermittelt Jürg Amann Zuflucht und Geborgenheit, Verlorenheit und Einsamkeit ebenso abgeklärt wie emotional.
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Buchvorschau
Der Vater der Mutter und Der Vater des Vaters - Jürg Amann
Eltern
DER VATER DER MUTTER
Als im Herbst 1956 der jährlich zu dieser Jahreszeit von uns mit der Post erwartete Jutesack mit den Kastanien nicht kam, war es noch eine Vermutung, als zwei Monate später auch das gewohnte Weihnachtspaket mit den Torrone-Stengeln, den Amaretti und dem Panettone ausblieb, galt es in der Familie als ausgemacht, daß der Tessiner Großvater gestorben war. Als der Vater, wieder ein paar Monate später, nachdem er endlich eine Telefonnummer hatte ausfindig machen können, auf langwierigen Umwegen, für seine Frau, meine Mutter, die das unehelich geborene Kind des für uns schon immer und nun offenbar auch wirklich von der Erdoberfläche Verschwundenen war, unter einem Vorwand, in vorher auswendig gelernten italienischen Worten, dort nach ihm fragte, kam die Bestätigung: Il signore Galli è morto.
Wir hatten über seinen Wohnort ja nie etwas Genaueres wissen dürfen. Jeder Verkehr mit ihm, das Bestellen von Grüßen, eine Einladung zu einem Besuch, das Sich-Bedanken für die Geschenke, mußte sich über seinen Arbeitgeber, eine Firma Züblin, Hoch- und Tiefbau, in Zürich abwickeln. (Er war Eisenbahningenieur und Bauführer an der Gotthardstrecke gewesen.) Meine Mutter hatte das respektiert, solange er lebte, jetzt, da er tot war, fühlte sie sich an dieses ungeschriebene Gesetz, seine Spur nicht aufzunehmen, nicht mehr gebunden. Schließlich hatte er ihr immer versprochen, für sie zu sorgen, sie zu bedenken, ihr nach seinem Tod alles, was er besaß, Land, Haus und Geld, zu vermachen, wenn sie ihm nur zu seinen Lebzeiten dabei behilflich sein würde, im Dorf seiner Herkunft, in dem er, wenn ihn nicht sein Beruf anderswohin versetzte, zusammen mit seiner Schwester, die dort Lehrerin war, noch immer gewohnt hatte, seinen Ehrennamen, den sie darum nicht tragen durfte, zu wahren. Hinter dem Namen des Mannes führte sie, nach ihrer Mutter, den Mädchennamen Noseda. Ihr Vater war ein Feigling gewesen, aber er war doch ihr Vater, und darum hatte sie ihm geholfen, auch gegen sich selbst.
Ihre Mutter, die er vielleicht auch geliebt, auf jeden Fall aber geschwängert hatte, weit weg von zu Hause, von seinem Dorf, auf einer seiner Süd-Nord-Passagen, hatte er mit der Versprechung hingehalten, sie später, wann immer das sein sollte, zu heiraten und also alles in Ordnung zu bringen, was jetzt in Unordnung war, wenn nur erst der Streckenbau an sein Ende und damit sein Leben in ruhige Bahnen käme. Daß es sich bei diesem Streckenbau in Wirklichkeit um Revisionsarbeiten, sei es am Trassee, sei es an Brücken, handelte, die natürlich nie an ein Ende kamen, sondern, wenn sie auf der einen Seite des Gotthards für den Moment erledigt waren, gleich auf der anderen Seite wieder beginnen konnten, hatte er nicht erwähnt, wahrscheinlich einfach zu erwähnen vergessen.
Inzwischen war meine Mutter geboren worden und gleich zu einer Ziehmutter in einer kleinen Ortschaft am Rhein gekommen und die ersten vier Lebensjahre auch dort geblieben, weil ihre Mutter sonst ihretwegen und wegen der ledigen Mutterschaft von ihrer Mutter, die ihrerseits geschieden und zum zweiten Mal verheiratet war, mit einem sehr viel jüngeren Mann, der wiederum auch ihrer Tochter, also der Mutter meiner Mutter, meiner Großmutter, seiner Stieftochter, in deren Alter er war, nachstieg, aus dem Familienverband ausgestoßen worden wäre. Als den Nohl aus den Erzählungen der Mutter kannte ich diesen Ort ihrer ersten Kindheit. Im Nohl sei sie aufgewachsen, sagte sie immer. Nohl erinnerte mich immer an Nordpol. Es hätte ein Wort aus einer Kindergeheimsprache sein können. In Wirklichkeit war es ein Dorf, fast eher ein Weiler, direkt am Rhein, an einer Böschung, unmittelbar unterhalb des berühmten Rheinfalls, wo das Wasser schon wieder ruhiger wurde. Trotzdem hatte meine Mutter nie schwimmen gelernt und ihre Furcht vor dem Wasser immer behalten. Wenn ich, auf einem Ausflug, zwischen den Eltern, auf einem Felsen