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Stark wie ein Nagel
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eBook125 Seiten1 Stunde

Stark wie ein Nagel

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Über dieses E-Book

"Stark wie ein Nagel ist eines jener Bücher, die ich selbst gern geschrieben hätte. Ich bilde mir ein, dass es einmal eine Zeit geben könnte, in der rückblickend auf das 20. Jahrhundert das unbalancierte Verhältnis von Sprache und Realität mit Zitaten von Alexander Widner auf den Punkt gebracht werden kann." (Josef Haslinger)
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum10. Juni 2015
ISBN9783990470336
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    Buchvorschau

    Stark wie ein Nagel - Alexander Widner

    Zwetajewa

    Im Reich Gottes, wir sind ein Teil davon, entsteht alles, ob Glück oder Unglück, aus Liebe. Es war nicht der Geistliche, der diese Worte beim Begräbnis der Frau sagte.

    1938, ein Jahr vor der Ehe, die Frau war neunundzwanzig, schenkte ihr der Mann zum Geburtstag ein Album mit selbstkomponierten Liedern. Einen Komponisten, ja, das wollte sie, sie wollte immer einen Künstler, sie war Finanzbeamtin, wollte aber keinen Beamten.

    Der Mann hatte im Freundes- und Bekanntenkreis den Ruf, ein Genie zu sein. Klasse am Klavier, nach Dirigiererfolgen in Graz erste Auftritte in Wien. Prächtigste Zukunftshoffnungen, sagte man.

    Der Vater der Frau hatte nach Studienabschluß aus Dankbarkeit die Tochter jener Frau, die ihm, dem Habenichts aus Brünn, das Jusstudium finanziert hatte, geheiratet. Am Hochzeitsabend ging er mit Freunden in die Wiener Oper, Troubadour, und auch den nächsten Abend verbrachte er mit Freunden. Tatsächlich, Emmchen, nach drei Monaten Ehe war ich noch immer Jungfrau, sagte die Mutter nach Jahren einmal zu ihrer Tochter. Der Vater ließ bis an sein Lebensende keine einzige Troubadour-Vorstellung der Wiener Oper aus. Wenn er sich rasierte, pfiff er Troubadour-Melodien. Die Sonntage verbrachte er im Bett, trank schwarzen Kaffee aus Bierkrügen, rauchte starke Zigarren und las Die Fackel von Karl Kraus, die er ab Nummer eins abonniert hatte. Er bewahrte alle Fackel-Hefte sorgfältig auf und bündelte sie jahrgangsweise. Nach seinem Tod gab die Mutter der Frau achtundzwanzig komplette Fackel-Jahrgänge zum Altpapierhändler.

    Die Mutter dilettierte in der Schriftstellerei und veröffentlichte ihre Geschichten in diversen Kalendern zwischen Wien und dem Salzkammergut.

    Der Vater der Frau wurde Vizepräsident der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, der letzte von Kaiser Karl ernannte Hofrat, also der letzte k. u. k. Hofrat, sagte die Mutter immer.

    Mein Vater war ein Bild der Korrektheit, erzählte die Frau einmal dem Buben, er hat einen einzigen Du-Freund gehabt in seinem ganzen Leben, der war Chef vom Finanzamt in Krems. Als dein Großvater das inspizieren wollte und seinen Freund beim Heurigen gefunden hat statt im Amt, da hat er ihn strafversetzt ins Burgenland. Wer das Burgenland gekannt hat damals, der weiß, was das geheißen hat. Das war die europäische Mongolei. Ihn, seinen einzigen Du-Freund, hat er dorthin gesteckt, nur weil sich der eine mehr oder weniger kleine Unregelmäßigkeit hat zuschulden kommen lassen. Soviel Korrektheit ist heute unvorstellbar, völlig unvorstellbar. Heute regieren die Freunderlwirtschaft und die Packelei. Mein Vater wäre höchstens eine komische Figur heute mit seiner Korrektheit.

    Bei der Geburt war ich klein wie eine Bierflasche, haben mir die Eltern erzählt, sagte die Frau, mein Vater hat mich jahrelang übersehen, ich war ihm zu unscheinbar. Seine Zuneigung habe ich mir erringen müssen, zäh. Und ich habe es geschafft. Durch Leistung und dadurch, daß ich brav war, habe ich ihn gezwungen, mich zu beachten. Mein Gott, ich war ja so brav, blöd schon fast vor lauter Bravheit, alles hab ich getan, damit mein Vater nur ja keinen Anlaß hat, etwas auszusetzen an mir. Ich war ein Muster an Bravheit und Gehorsam, zerspragelt hab ich mich, damit er nur ja zufrieden ist mit mir. Meine Schwester, die hat er mögen, die hat nicht so viel investieren müssen, und meinen Bruder, den hat er sowieso auf Händen getragen, der war ja der erwünschte Sohn. Ich war da nur irgendwie und irgendwo dazwischen, wie zwischen zwei Sesseln. Aber mit der Zeit hat er mich beachtet, ich war die, mit der es nie Schwierigkeiten gegeben hat, die einfach gemacht hat, was man von ihr erwartet hat, das hat ihm irgendwann einmal auffallen müssen. Er hat mich beachten müssen, ob er wollen hat oder nicht. Langsam, ganz langsam erst hat es angefangen, zuletzt hat er mich geliebt, glaube ich.

    Wenn der Vater nicht aus dem Troubadour gesungen hat, hat er manchmal uns Kindern vorgesungen. Sein Lieblingslied war ›Willst du nicht das Lämmlein hüten, Lämmlein ist so zart und fein‹. Hüten hat er nicht sagen können, er hat immer hieten gesungen mit seinem böhmischen Akzent. Den ist er nie ganz losgeworden und er hat sich sein ganzes Leben geniert dafür.

    Die Frau machte eine lange Pause. Dann sagte sie langsam: Vielleicht war das der Grund, daß er nie sehr viel geredet hat mit uns. Mit der Mama am wenigsten. Er hat, glaube ich, darunter gelitten, daß er in der Familie der einzige ist, der nicht Wienerisch kann. Wie gern hätte er so richtig Wienerisch geredet, wer weiß, wie redselig er womöglich gewesen wäre. Aber mit seinem Böhmakeln … 1918, nach dem Umsturz, haben ihn die Roten voll Spott den böhmischen Hofrat genannt. Das hat ihn getroffen. Hätten sie ihn den schwarzen, den katholischen oder den kaisertreuen Hofrat genannt, es hätte ihm nichts ausgemacht, aber daß die ausgerechnet seine Abstammung hergenommen haben, das hat ihn verstört. Von da an hat er die Sozis nicht mögen. Vorher, obwohl er ganz mit seinem Kaiser war, er ist ja als Monarchist gestorben, vorher, er war ja nicht auf ihrer Seite, aber vorher, ich glaub, da hat er sie doch irgendwie verstanden, er hat ihre Ansprüche verstanden, er war ja selbst aus kleinsten Verhältnissen, aber dann, wie sie ihn einen böhmischen Hofrat genannt haben, da war es vorbei damit, aus. Er hat sie nicht mehr riechen können.

    Die ältere Schwester, begabt, streitsüchtig und unzufrieden, beanspruchte die ganze Aufmerksamkeit der Familie. Sie gab nach dem Tod des Vaters in der Familie den Ton an. Sie wurde zur manischen Studentin, sie studierte bis zu ihrem Tod, sammelte Doktorhüte.

    Genies muß man studieren lassen, hat die Mama gesagt, sagte die Frau, ob ich vielleicht auch studieren will, ist gar nicht erst überlegt worden. Alles hatte bereit zu sein für meine Schwester. Sie hat ihre Wünsche rücksichtslos zuhaus durchgesetzt. Alle haben geglaubt, sie ist was Besonderes, und sie hat es immer verstanden, das andere glauben zu machen. Eine laute und fordernde Person, das war sie, eine, die über Leichen geht. Und dabei total unglücklich, eine vollkommen unglückliche Natur war sie. Hat studiert und studiert, von einem zum nächsten, immer auf der Suche, restlos unzufrieden mit sich und der Welt. Medizin erst, sie war eine hervorragende Ärztin, besonders als Diagnostikerin, da war sie fast berühmt, sie war respektiert von der Kollegenschaft, besonders eben als fast unfehlbare Diagnostikerin, sie hätte ihren Weg gemacht, kein Zweifel, da läßt sie sich ein mit Morphium, wird schwer süchtig, schwerstens, sogar ihre Oberschenkel waren voll von Nadelstichen, in die Arme hat sie sich schon gar nicht mehr stechen können, die haben schon ausgeschaut wie ein Sieb, nur mehr Löcher, und natürlich hat sie sich das Morphium bald auch illegal beschaffen müssen, selbst als Ärztin, sie hat Zugang gehabt zu Rauschgiften, aber sie hat bald riesige Mengen gebraucht, sie war immer gleich exzessiv, in allem, was sie getan hat, gleich war sie im Unmäßigen, natürlich hat man sie dann einmal erwischt, das war abzusehen, sie ist verurteilt worden und man hat ihr die Praxis weggenommen. Aber mit ihrer Zähigkeit, das war ja immer ihre Stärke, zäh war sie, mit ihrer Zähigkeit hat sie sich durch eine Entwöhnung gepeitscht, sie ist nie wieder rückfällig geworden, nie wieder, sie war ja stark, und hat das nächste Studium angefangen. Gezahlt hat natürlich wieder die Mama, und wieder Schwierigkeiten und Unzufriedenheit und wieder studieren und immer so fort. Ich weiß nicht, wie ich weiterleben will, und ob überhaupt, hat sie einmal zu mir gesagt. Mir hat sie sich hin und wieder anvertraut, mich hat sie mögen, in ihrer Art halt, ich war ja keine Konkurrenz für sie, ich hab ihr nichts wegnehmen können, mich hat sie mögen, als einzigen Menschen vielleicht. Eine arme Person eigentlich, arm und allein. Dann hat sie geheiratet, ein Kind hat sie plötzlich haben müssen, das hat sie sich eingebildet, weil sie geglaubt hat, das ist es, was sie braucht. Sie hat es nicht gebraucht. Mann, Kind, alles war ihr bald nur eine Last. Sie hat sich scheiden lassen und wieder studiert und studiert, Französisch, Jus, was weiß ich alles. Und sie hat alles fertiggemacht, alles, was sie angefangen hat, hat sie auch fertiggemacht. Sie hat sich plagen können, hat studiert Tag und Nacht, wenn es hat sein müssen. Das genaue Gegenteil von deinem Vater, mein Gott, wenn sich der nur halb so hätte plagen können, nur halb soviel, das wäre genug gewesen, aber plagen, das war immer ein Fremdwort für ihn. Den Fleiß von meiner Schwester, den hätte er gebraucht, da wären wir weiter heute.

    Dem jüngeren Bruder war die Frau sehr zugetan, wenngleich sie nicht viel sprach von ihm. Tat sie es aber, dann in sehr herzlichen und warmen Worten. Lachend erzählte sie, daß sie, knapp nachdem sie zu verdienen begann, das Familiensilber, das der Bruder für Vergnügungen im Wiener Dorotheum verpfändet hatte, auslösen mußte, ehe jemand davon erfuhr. Gleich und wie zur Entschuldigung, daß sie das gesagt hatte, fügte sie hinzu, daß ihr der Bruder in späteren Ehejahren, als die Finanzsituation immer bedrückender wurde, mit einem größeren Geldbetrag geholfen hätte, ohne je ein Wort darüber zu verlieren.

    Er war ein sympathischer Filou. 1938 war er gleich bei den Nazis, national wie er war. Böhmischer Name, leicht jüdisches Aussehen, also Nazi. Das jüdische Aussehen kommt vom Herrn Grün, der irgendwann einmal in der Familie war und von dem niemand gern geredet hat. Das muß ein Schock gewesen sein für meinen Bruder, als sie ihn einmal bei einem Amtsschalter mit der Aufschrift Nur für Arier abgewiesen haben. Der Beamte hat ihn nur kurz angeschaut und gesagt, daß er sich wohl im Schalter geirrt hat. Im Krieg war er dann in Rußland. Von dort hat er mir verzweifelte Briefe

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