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Unser Sonderberichterstatter
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eBook242 Seiten3 Stunden

Unser Sonderberichterstatter

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Über dieses E-Book

Unser Sonderberichterstatter" ist ein Fresko Rumäniens nach der Wende, in dem die Polit- und Medienszene mit satirischen Elementen gezeichnet wird. Beim Begräbnis eines bekannten Journalisten ist der Besuch des rumänischen Staatspräsidenten angekündigt. Der Sonderberichterstatter Antonie lauert ihm auf, um ein Statement zu erhaschen, der arabische Terrorist Mohammed, um ihn in die Luft zu jagen; doch die Trauerfeier wird in letzter Minute an einen anderen Ort verlegt. Als Antonie bei einer Pressekonferenz doch noch auf den Präsidenten trifft, wird er von dessen Leibwächtern mit einem Schlag ins Gesicht niedergestreckt. Er verliert das Bewusstsein und fällt in einen orangefarbenen Tunnel, in dem sein ganzes bisheriges Leben Revue passiert. Spannung, Humor und Gesellschaftsanalyse gehen in diesem Roman eine produktive Verbindung ein. "Unser Sonderberichterstatter" wurde auch ins Französische, Italienische, Spanische, Ungarische, Slowenische, Kroatische und Bulgarische übersetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum5. Nov. 2014
ISBN9783990470046
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    Buchvorschau

    Unser Sonderberichterstatter - Florin Lăzărescu

    Sonderberichterstatter

    1

    »Sombrerooo!«, brach ein Schrei aus, von irgendwoher, aus dem Fenster eines Wohnblocks im schlafenden Viertel.

    2

    »Nenn mich Antonie. Nur Antonie. Ich weiß vieles und ich werde dir schließlich alles erzählen. Du wirst staunen, wie es angefangen hat.

    Stell dir so ’nen beschissenen Tunnel vor, so ein oranges Ding, durch das man vom Leben in den Tod geht. Ich sag dir, wie es vor sich geht: Du kommst ganz benommen aus deinem Körper heraus, als ob du aus einer Wanne voller Wasser herauskommst, du fühlst, dass du hinaufsteigst und ruderst dabei mit deinen astralen Armen und Beinen, um dein Gleichgewicht zu halten. Irgendwie ist es so, als ob du der erste Astronaut auf dem Mond wärst. Die Schwerkraft ist anders! Du versuchst einen ersten Schritt und fällst dabei fast auf die Schnauze. Außerdem gehst du ja nicht geradeaus, sondern steigst hinauf, was noch blöder ist.

    Du siehst die Leute, die weiterhin der Schwerkraft unterworfen und um deinen Körper stehengeblieben sind, ohne zu ahnen, dass du bereits unterwegs zum Mond, zum Himmel, zur Sonne, wohin auch immer, auf jeden Fall hinauf bist. Jemand schleppt deinen Körper weg von der Menge, gibt dir auch noch eine links und rechts, und ruft dann mit seinem Mobiltelefon die Rettung an.

    Die Rettung stand sowieso bereit – so ist es eben, die Leibwächter sind nicht die Einzigen, die dem Präsidenten folgen. Was ist, wenn ihn ein Terrorist erschießt? Was, wenn er einen Herzinfarkt kriegt? Das wird wohl auch der Grund gewesen sein, warum die von der Rettung gesagt haben: ›Zum Kuckuck mit ihm, dem fehlt nichts! So leicht stirbt man nicht. Wir können auf keinen Fall hier weg, bevor der Chef nicht gegangen ist. Wir holen schon jemanden her, wenn er bis dahin nicht zu sich gekommen ist.‹

    Das ist das Einzige, woran ich mich erinnere: Sie haben mich auf eine Tragbahre gelegt, um mich herum ist alles dunkel geworden, und dann fühlte ich mich von einem blendenden Licht angezogen, das von irgendwo oben herkam. Jetzt bin ich dran, dachte ich, und stieg, zum Geier, hinauf, Richtung Jenseits.

    Ich wachte ganz verblödet auf, am Eingang zu einem Tunnel. Total erstaunt, wie ein Ochse. Oder wie ein Fohlen.

    Das mit dem Fohlen muss ich dir erzählen, damit du mich verstehst. Eines Tages spielte ich im Hof der Festung und plötzlich hörte ich, wie mein Vater brüllt:

    ›Komm schnell, die Stute kriegt ihr Fohlen!‹

    ›Und was, wenn sie es kriegt? Soll sie ruhig, was soll ich dabei?!‹

    ›Du sollst sie bei Gott nicht melken, sondern sie bei den Ohren halten, natürlich!‹

    Scherzen konnte man mit ihm nicht. Er war zwar mein Vater, aber vor allem war er der König. Ich ging also hin und hielt die Stute bei den Ohren, brüllte aber dabei, dass sie schneller fohlen soll, ansonsten soll gefälligst der Ochse von ihrem Mann sie bei den Ohren halten.

    Der Vater-König rollte die Ärmel bis zum Ellbogen hinauf, griff (iiiik!) in die Stute und zog das Fohlen bei den Ohren heraus. Als ich ein Platschen hörte, obsiegte meine Neugier und ich schaute zum Hintern der Stute hin. Und was war da? Ein Haufen blutiges Fleisch. Iiiiik! Verwunderlich war, dass der Haufen Fleisch plötzlich die Augen aufmachte und mich hilflos und blöde ansah. Was sollte ich schon zu ihm sagen?

    ›Ich bin Antonie. Das, was du rundherum siehst ist die Welt. Lebe! Von nun an ist das deine einzige Sorge.‹

    Ich schwieg aber. Einem Fohlen kann man nicht so schnell erklären, was es damit auf sich hat.

    So ungefähr fühlte ich mich nun auch, soeben geboren, am Eingang dieses Tunnels.

    Es ist gar nicht leicht, geboren zu werden. Niemand hat es mir gesagt, aber ich erinnere mich, weil ich davon geträumt habe. Als ich zur Welt kam, gab es ein richtiges Durcheinander. Ich war das erste Kind, und meine Mutter hatte unheimliche Schmerzen. Von dem Augenblick an, als sie in die Klinik kam, ging sie einige Male pro Tag in das Bereitschaftszimmer und schrie: ›Es kooooommt! Hilfe! Es kooooommt!‹

    Die Schwestern hatten bald genug. Deshalb schickten sie eines Nachts meine Mutter ins Zimmer einer alten Hebamme, die sich sträubte, in Pension zu gehen: ›Geh ihr auch mal auf den Keks‹, sagten sie.

    Es war wie ein Witz. Die alte Hebamme war kahl. Sie trug eine Perücke. Sie war in irgendeinem zufällig freien Bett eingeschlafen. Vom Geschrei meiner Mutter wachte sie auf und hob plötzlich ihren glänzenden Kopf. Die Perücke hatte sich an einem Knopf des Kopfkissens verfangen und war liegen geblieben. Bei diesem Anblick gab meine Mutter einen neuerlichen Schrei von sich und gebar mich augenblicklich, gleich dort auf dem Boden. Wie ich geschaut habe, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte mit Sicherheit sofort kapiert, dass es nicht leicht ist, geboren zu werden. Umso weniger, zu leben.

    Jetzt war ich also ein zweites Mal geboren worden, hier am Eingang eines Tunnels mit dunklen Wänden, einer Höhle, aus der Dschungelechos zu hören waren, in der seltsame Lichter zuckten, gleich den Funken, die bei der Berührung zweier elektrischer Kabel entstehen. Ich kauerte dort bewegungslos. Weit und breit konnte ich niemanden sehen, der mich bei den Ohren gepackt hätte, um mich ins Licht zu ziehen. Ich dachte, es wäre angebracht, dass einer kommt, die Ärmel hochkrempelt und mich dort hinauszieht. Gott oder Jesus. Egal wer. Gott würde sich wegen so einer Lappalie nicht die Hände schmutzig machen. Wenn du raus willst, musst du das schon selbst machen.

    Ich hätte zurückgehen können, aber meine Neugier auf das, was noch kommt, war zu groß. Meine Reporternatur hatte obsiegt. Man konnte nicht wissen, was für ein Bericht dabei möglicherweise herauskommen würde. Ich brauchte nur auf die relevanten Details zu achten. Ich konnte förmlich das Gesicht meines Chefredakteurs sehen:

    ›Hej, du, ich hab dich ins Jenseits geschickt und du kommst mir mit halbwüchsigen Nichtigkeiten zurück. Ich brauche Nachrichten, verstehst du?! Sachen, die die Zeitung verkaufen, und keine Dichtung!‹

    Das Erste, was ich verwundert bemerkte, war eine Tafel mit der Aufschrift EINBAHN, die seitlich an einem Mast baumelte und wie ins Leere quietschte. Wegen des Luftzugs im Tunnel hätte ich nicht sagen können, in welche Richtung der Wegweiser ursprünglich gezeigt hatte, nahm aber an, dass es geradeaus gewesen sein muss. Es gab sowieso nur zwei Richtungen. Die Einbahn galt wohl für beide.

    Während ich mich der quietschenden Tafel näherte, sah ich weiter hinten, mehr im Hintergrund, die Überreste eines Werbeplakats, das in der Mitte zerrissen war – genau dort, wo der Bikini einer, wie ich dachte, wunderschönen Frau gewesen war. Mein Blick glitt an den nackten Beinen entlang bis ganz unten, wo ich Folgendes lesen konnte:

    RAUCHEN SCHADET IHRER GESUNDHEIT

    Wie aus dem Nichts tauchte hinter dem Werbeplakat ein weiblicher Teufel Marke Gauloises Blondes auf.

    ›Sind Sie Raucher?‹

    Ich hüstelte bedeutungsvoll, wie bei einer Lungenuntersuchung.

    ›Welche Marke bevorzugen Sie?‹

    Ich überraschte sie mit einer Gegenfrage:

    ›Gauloises Blondes?‹

    Ich kam nicht einmal mehr dazu, Gauloises Blondes so richtig, nach allen Regeln der Kunst auszusprechen, weil das Weib gleich anfing, herunterzurattern:

    ›Als Dank dafür, dass Sie diese Marke gewählt haben, schenkt Ihnen unsere Firma beim Kauf von drei Päckchen Zigaretten ein Gratispäckchen dazu, plus ein Werbefeuerzeug mit dem Firmennamen.‹

    Mein Blick war an ihren Brüsten haften geblieben, die aus einem Halb-BH hervorquollen, auf dem natürlich auch das Logo von Gauloises Blondes aufgedruckt war.

    ›Was sagten Sie?‹, fragte ich gedankenverloren.

    Es machte ihr nichts aus zu wiederholen:

    ›Als Dank dafür, dass Sie diese Marke gewählt haben, schenkt Ihnen unsere Firma beim Kauf von drei Päckchen Zigaretten ein Gratispäckchen dazu, plus ein Werbefeuerzeug mit dem Firmennamen.‹

    ›Aha‹, sagte ich, ›und?‹

    Sie breitete die Arme aus, sodass das Firmenzeichen Gauloises Blondes in seiner ganzen Pracht zu sehen war, du weißt, so eine Geste wie ›Ta-taaa! Superangebot!‹

    Ich bekam Lust zu reden:

    ›Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?‹

    Sie gab mir fünf Stück.

    ›Hättest du Lust auf einen Kaffee?‹, sagte ich, gleich zum Du übergehend, und zündete mir eine Zigarette an.

    ›Stinkender Sexist! Frauenhasser!‹, sagte eine Stimme im Hintergrund.

    Gauloises Blondes verschwand wie durch Zauberhand, und ich blieb da, um der Stimme zu antworten, der zänkischen Stimme eines Vorstadtweibs.

    ›War das Ihre Tochter?‹, fragte ich und schaute verwirrt die Tunnelwände an.

    Eine ruhige, männliche Stimme übernahm:

    ›Antonie, gib das Rauchen auf! Du bist ja nicht mehr allein. Schau, ich hab’s auch geschafft!‹

    Das machte keinen Sinn.

    ›Antonie, meinst du, dass das gut ist, was du da tust? Gehört sich das vielleicht?‹

    ›Nicht ganz‹, sagte ich brav.

    ›Antonie, denk an die Tausenden von Passivrauchern, die an deinem Qualm ersticken. Denk an deine Gesundheit. Ist dir klar, dass alle dreizehn Sekunden jemand an Lungenkrebs stirbt?‹

    Ich hatte nie von dieser Statistik gehört.

    ›Was hast du davon?‹

    ›Sie schmecken aber‹, sagte ich zu meiner Verteidigung.

    ›Von wegen schmecken!‹, sagte die Stimme verärgert. ›Es ist nur die psychische Abhängigkeit. Mit so einem Blödsinn kommst du nie und nimmer in den Himmel. Und mach endlich die Zigarette aus, du verrußt ja damit die ganzen Wände!‹

    Ich war noch lange nicht beim Filter angelangt, beschloss aber, die Zigarette wegzuwerfen. Ich drehte sie zwischen den Fingern und versuchte, sie so diskret wie möglich loszuwerden. In dem ganzen Scheißtunnel gab es nur drei Grashalme, und ausgerechnet dort warf ich die Kippe hin.

    ›Antonie, tut man so was? Du weißt doch, dass gerade diese scheinbar kleinen Taten die Natur zerstören und zur Zerstörung der Ozonschicht beitragen.‹

    Ich gebe zu, das wusste ich, aber ich dachte, an einem solchen Ort ist die Ozonschicht nicht direkt eine Priorität.

    ›Weißt du, dass gerade deswegen die Schildkröten auf den Galapagos-Inseln vom Aussterben bedroht sind?‹

    Das wusste ich. Ich hatte gerade eine Nachricht darüber verfasst, dass ein paar Wahnsinnige so an die drei Schildkröten als Geiseln nahmen, weil die Öko-Anhänger ihnen das Fischen verboten hatten. Was sollten sie auch tun, wenn sie ihr ganzes Leben von Fisch gelebt hatten?

    ›Bist du vielleicht auf der Seite der Terroristen?‹

    Die verdammte Stimme konnte meine Gedanken lesen.

    ›Was für Terroristen denn?‹, sagte ich verärgert.

    ›Was weißt du schon? Heute nimmt man eine Schildkröte als Geisel, morgen entführt man ein Flugzeug, übermorgen legt man eine Bombe! Den Terrorismus muss man an der Wurzel packen und ihn bei sich zu Hause, am Entstehungsort bekämpfen!‹

    ›Hab mir das nie so überlegt.‹

    ›Siehst du, eben wegen Leuten wie dir, die nie richtig darüber nachdenken und zufrieden damit sind, in aller Ruhe ihren Benzintank zu füllen und ins Büro zu fahren, eben deswegen gedeiht die Saat des Bösen in den fernen Gegenden des Orients!‹

    Das hatte ich auch nicht bedacht.

    ›Siehst du?! Deswegen sage ich, du bist auf der Seite der Araber!‹

    ›Ich hab mit den Arabern nichts zu schaffen. Sollen sie auf ihre Weise glücklich werden. Was hab ich mit denen zu tun?‹

    ›Sicher hast du. Als ob ich solchen wie dir nicht schon begegnet wäre. Sie glauben, sie hätten mit den Arabern nichts zu tun, aber insgeheim gesellen sie sich denen zu, die behaupten, es hätte keinen Holocaust gegeben.‹

    Mensch, ich sage dir, ich hätte vor Wut platzen können. Kaum hatte ich den Mund aufgemacht, schon war ich zum Araberfreund geworden, zu einem Paria, der behauptet, es hätte keinen Holocaust gegeben.

    ›Ich behaupte ja nicht, dass es keinen Holocaust gegeben hat! Was hat das mit unserem Gespräch hier zu tun?‹

    ›Siehst du? Dachte ich mir doch. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Menschen wie du behaupten schließlich, dass es keinen Holocaust gegeben hat!‹

    ›Wie käme ich dazu? Wie könnte mir das Leiden der Juden egal sein? Vor allem jemandem wie mir. Natürlich ist mir das nicht egal. Ich habe an die zwanzig Filme gesehen und etliche Dutzend Bücher gelesen über das Leiden der Juden. Ich bin ein Experte, was die Theorie des Leids bei den Juden …‹

    ›Dann hast du sicher ein Problem mit den Schwarzen.‹

    ›Nein.‹

    ›Mit den Homosexuellen?‹

    ›Nein.‹

    ›Was ist dann dein Problem?‹

    ›Mit wem?‹

    ›Dein Problem. Was willst du hier?‹

    ›Keine Ahnung.‹

    ›Das gibt’s nicht. Du musst ein Problem haben. Sag mir, woran du jetzt denkst.‹

    ›An gar nichts. Ich würde gerne schlafen.‹

    ›Glaub mir. Du hast ein Problem. Denk mal drüber nach.‹

    Die Stimme aus dem Hintergrund war zum Problem geworden. Ich rannte durch den Tunnel, bis nichts mehr außer dem Luftzug zu hören war. Da ich nicht wusste, wohin ich gehen soll, zündete ich mir noch eine Zigarette an. Außerdem war ich inzwischen todmüde und hätte wirklich etwas Schlaf brauchen können. So einen tiefen Schlaf, bei dem man sich selbst vergisst. Ich überlegte, was mein Problem sein könnte. Mir fiel nichts dazu ein. Alles zischte um mich herum und an den Wänden des Tunnels, wie auf einer Leinwand wechselten sich Szenen aus meinem Leben ab. Lauter Blödsinn. Ich hatte keine Lust, sie zu sehen. Vermutlich wäre ich gleich dort eingeschlafen, wenn ich nicht in der Ferne eine Menschenschar erblickt hätte. Ich näherte mich und versuchte dabei, kein Aufsehen zu erregen.

    Alle waren um ein Areal versammelt, auf dem sich ein tadellos angezogener alter Mann befand. Riesiger weißer Bart, langes weißes Haar, das sich über einen Armani-Anzug ergoss. Er suchte schnell jemanden aus der Menge aus, indem er mit dem Finger auf ihn zeigte. Der sollte sich dann auf ein Sofa neben dem alten Mann setzten. Es sah so aus, als ob der Auserwählte Fragen stellte. Die Antworten kamen schnell, ohne langes Nachdenken, danach schrieb der Alte etwas in ein Büchlein, riss das Blatt herunter, gab es demjenigen auf dem Sofa und entließ ihn. Ich konnte die Fragen genauso wenig hören wie die Antworten des so elegant gekleideten Herrn, der das leicht gebräunte Gesicht eines Heiligen hatte. Dann plötzlich, auf eine Frage, die ich wiederum nicht hören konnte, antwortete der Heilige mit verärgert erhobener Stimme: ›Das geht mir am Arsch vorbei!‹

    Mensch, war ich baff! Das war echt geil. Was könnte einem Heiligen am Arsch vorbeigehen? Ich ging noch näher heran. Kaum hatte ich mich unter die Leute gemischt, schon hatte mich der Alte erblickt: ›Antonie, bist du zurückgekommen? Komm und setz dich mal aufs Sofa!‹

    Es stimmt, ich hätte mich gern aufs Sofa gesetzt, um eine Runde zu schlafen. Allerdings wäre ich ungern ins Plaudern gerutscht, vor allem nicht mit dem ganzen Publikum um mich herum.

    Als ob alles mit dem Typen abgesprochen gewesen wäre, machten sie gleich den Weg frei, damit ich zum Sofa kommen konnte.

    ›Ich?‹

    ›Ja, du! Wieso wunderst du dich? Markierst du hier den Dummen?‹

    Ich bückte mich, um meine Schnürsenkel zusammenzubinden.

    ›Tu keine Zeit schinden, komm schon!‹

    Als ich dabei war, die Schnürsenkel zusammenzubinden, sah ich, dass ich meine Zigarette noch zwischen den Fingern hielt. Ich wäre fast im Boden versunken. Ich zischte einen Typen in der Menge an, dem ich meine Zigarette übergeben wollte. Der Ochse schrie aber:

    ›Halt schön deine Zigarette allein!‹

    Was sollte ich noch? Ich warf die Kippe weg, dämpfte sie mit der Schuhsohle aus und ging geradewegs zum Heiligen.

    ›So, setz dich! Lass den Unsinn, du kannst dir noch eine anzünden, wir haben sowieso einiges zu bereden. Schön wär’s, wenn das deine einzige Sünde wäre.‹

    Ich warf mich aufs Sofa. Ich zog meine letzte Zigarette heraus. Galant streckte der Heilige seinen Finger an ihr Ende und zündete sie augenblicklich an.

    ›So, mach schon! Schau, die Leute warten! Was ist das Problem?‹

    Noch so eine Nervensäge.

    ›Mit wem?‹

    ›Dein Problem. Warum bist du zurückgekommen?‹

    ›Sie haben mich gerufen.‹

    ›Blödsinn. Du bist von selbst gekommen. Sprich!‹

    ›Was?‹

    ›Schön langsam. Entspann dich. Stell mir eine Frage.‹

    Das sage ich dir, wenn er mich an einem meiner guten Tage erwischt hätte, dann hätte ich es ihm gleich gezeigt. Damals aber konnte ich mir gar nichts ausdenken. Mir kamen nur idiotische Fragen aus der Kindheit in den Sinn, wie zum Beispiel ›Warum stehen die Häuser draußen?‹ oder ›Wohin geht das Jucken, nachdem man sich gekratzt hat?‹

    ›Darf ich nur eine Frage stellen?‹

    ›Wenn dem so wäre, dann hättest du damit schon deine Frage verspielt. Sag mir etwas, das dich beschäftigt. Egal was.‹

    Ich rauchte meine Zigarette bis zur Hälfte und erinnerte mich an ein Dilemma, das mich seit meiner Kindheit beschäftigte, seit mein Vater mir von der Schiffsreise des Mannes erzählt hatte, der auf der Jagd nach einem weißen Wal war.

    ›Ich habe ein Problem mit Schiffen. Offensichtlich gibt es auf allen Ratten. Die Schiffe sind meistens auf hoher See. Wenn sie andocken, ist es leicht, sie zu bewachen. Gibt es ein Schiff ohne Ratten? Wie kommen die Ratten aufs Schiff?‹

    Der Heilige lachte über eine solche Besorgnis. Er gab mir ein Blatt Papier, auf dem er etwas notiert hatte. Die Menge lachte auch. Ich

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