Kakanische Kontexte: Reden über die Mitte Europas
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Buchvorschau
Kakanische Kontexte - Otto Müller Verlag
2014
Ernst Trost (Wien)
Doppeladler-Perspektiven
Geschichten von einer lebenslangen Spurensuche
Es war einer jener unvergesslichen römischen Abende am Petersplatz, an diesem denkwürdigen 16. Oktober 1978. Hunderttausend schrien auf und klatschten in die Hände, als die Scheinwerfer den weißen Rauch aus dem dunklen Abendhimmel zerrten. Und dann dauerte es noch lang, bis Kardinal Felici von der Loggia des Domes das „Habemus papam verkündete. Weil er um die korrekte Aussprache des Namens Wojtyła bemüht war, klang es wie „Woitiua
, und die erste Reaktion mancher Italiener in der Menge war „un africano oder zumindest „un straniero
, ein Fremder, ein Ausländer, und schließlich „un polacco. Viele waren zuerst wohl etwas enttäuscht, mir schien es wie ein Wunder, dass der Erzbischof von Krakau als der neue Papst aus dem Konklave hervorgegangen war. Gleich suchte ich nach seinem Jahrgang – 1920, also leider nicht mehr im alten Österreich geboren, aber sein Vater hatte es in der k. u. k. Armee vom Rechnungsunteroffizier 1915 zum Militär-Evidenzbeamtenaspiranten gebracht und war damit Angehöriger des Offizierskorps gewesen. Eigentlich wollte dieser Karl Wojtyla nach zwölf Dienstjahren zum zivilen k. k. Staatsbeamten werden, aber da kam der Krieg dazwischen. Kurz nach der Papstwahl hatte man im Wiener Kriegsarchiv bereits die Wojtyla-Akten mit dem Urteil: „ist jeder Bevorzugung würdig
ausgegraben. Sein Sohn, obwohl in tiefster Seele dem Polentum verhaftet, war sicherlich vom mitteleuropäischen Erbe der Donaumonarchie geprägt. Und dazu hat sich Johannes Paul II. auch bekannt. Die ganze Lebenssphäre, in der der junge Karol aufwuchs, war ja von einem Hauch von k. u. k. durchweht. Das ist eben jenes Kakanische, dieser altösterreichische Sinn für Ordnung und Ehrlichkeit, für eine verlässliche Verwaltung, und auch ein gewisser Geist der Toleranz und des Verständnisses für die Eigenheiten der unter zwei Kronen und dem Doppeladler vereinten bunten Völkerschar.
Übrigens, nicht nur der Papst aus Polen, auch mehrere italienische Päpste der Neuzeit hatten Bindungen zum Habsburgerreich: Pius X., Giuseppe Sarto, wurde 1835 im venezianischen Riese als Sohn eines Briefträgers im Dienst der österreichischen Post geboren. Auch Pius XI. kam 1857 noch als Untertan Kaiser Franz Josephs im lombardischen Desio zur Welt. Die Eltern Johannes’ XXIII. hatten in Bergamo unterm Doppeladler gelebt, und die Großeltern Albino Lucianis, Papst Johannes Pauls I., waren bis 1866 im Veneto österreichische Staatsangehörige.
Ja, wenn man einmal dieser Suche nach den Spuren des Doppeladlers verfallen ist, dann wird man überall fündig. Darum war es für mich fast eine automatische Reaktion, an dem historischen Abend am Petersplatz gleich nach austriakischen Wurzeln des neuen Papstes zu fragen. Der zutiefst kakanische Schriftsteller Friedrich Torberg (Der Schüler Gerber, Die Tante Jolesch) spricht vom „inneren Doppeladler, jenem „persönlichen, sentimentalen Attachement, der wehmutsvollen Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem, jenseits von Besser oder Schlechter, jenseits aller Politik, ja wohl sogar jenseits der Vernunft …
So schrieb er’s 1965 in seinem wunderbaren Vorwort zu meinem Buch Das blieb vom Doppeladler. Und er hatte dabei vor allem die ehemaligen Kronländer unter Sichel und Hammer vor Augen. Viele Menschen, die unter der kommunistischen Gleichschaltung litten, klammerten sich an ihre kakanischen Erinnerungen. Die Habsburgermonarchie verklärte sich für sie zur „guten alten Zeit, selbst wenn sie oder ihre Väter früher einmal in leidenschaftlichem Nationalismus zu ihrer Zerstörung beigetragen hatten. Neben der Religion, in die sich viele flüchteten, bauten sie sich oft eine historische Traumwelt auf, um dem tristen sozialistischen Alltag wenigstens mit Hilfe ihrer Erinnerungen zu entrinnen. Und manche Junge entdeckten die Relikte einer untergegangenen Lebens- und Staatsform, die zur Utopie wurde, romantisch, ja exotisch. Im Frühwinter 1964 auf meiner Reise auf der Suche nach „K. u. k. im Schatten des Kremls
, wie ich mein Kapitel über die Teile Galiziens und der Bukowina unter dem Sowjetregime nannte, traf ich in Czernowitz, heute Tschernowzy, eine junge Intouristführerin, Larissa, eine Russin, die in Kasachstan aufgewachsen und erst vor nicht allzu langer Zeit nach Czernowitz geraten war. Und sie kam da in eine ihr völlig fremde Umgebung, in eine intakte altösterreichische Kulisse, die für sie wie von einem anderen Kontinent war. Klug und interessiert, wie sie war, fand Larissa Kontakt zu alten, echten Czernowitzern, die ihr von früher erzählen konnten. Und war dann glücklich, dass sie plötzlich einen Österreicher vor sich hatte, der ähnliche Fragen stellte wie sie. So brachte sie mich mit den richtigen Leuten zusammen. Dabei hieß es zuerst meist: „Haben Sie Verwandte hier? Denn dass jemand nur um Czernowitz’ willen hierher geriet, konnte sich damals kaum einer vorstellen. Inzwischen ist die nunmehr ukrainische Hauptstadt der Bukowina längst so etwas wie ein Wallfahrtsort für Doppeladlersucher geworden. Und auch die heutigen Czernowitzer wissen die k. u. k. Vergangenheit ihrer Stadt zu pflegen und gut zu vermarkten. Sogar Otto von Habsburg war hierher gereist, um das Ehrendoktorat der Universität in Empfang zu nehmen, im prunkvollen maurisch-byzantinischen Rahmen der einstigen Residenz des griechisch-katholischen Erzbischofs. Übrigens, eine Standardfrage vieler Alter zwischen Donau und Adria, Pruth und Moldau auf meinen Recherchetouren war immer wieder: „Was ist eigentlich mit Otto, gibt’s den noch?
Dann kam noch: „Und was ist mit dem Wiener Prater? Und mancher fügte hinzu: „Als Kind war ich einmal dort.
Gerade aus Czernowitz und Galizien wurden zu Beginn des Ersten Weltkriegs Massen von Flüchtlingen nach Wien deportiert. Bis heute noch berichten die Uralten von diesem Kaiserstadt-Erlebnis. Sie sind dort zur Schule gegangen oder haben studiert. Und so manchen kommen Tränen, wenn sie davon reden. Dabei war ihr Los alles andere als rosig.
Auf der Suche nach einer doch nicht so ganz verlorenen Zeit musste ich zuerst bei mir selber anfangen und den in meinem Unterbewusstsein nistenden Doppeladler wieder flügge machen. Wie der Sohn eines Auswanderers, der zum ersten Mal in die Heimat der Eltern kommt, so spürt man als Österreicher in den Ländern der Monarchie irgendetwas Vertrautes, etwas von den Geschichten der Großmutter, die sie einem vor dem Einschlafen erzählt hat, von den Dialekten und Akzenten der älteren Generation, die unser Wachsen behütete. Man riecht die Speisen, deren Rezepte in so vielen österreichischen Haushalten in sorgfältig mit der Hand kurrent geschriebenen Kochbüchern überliefert werden. Ich komme aus der Obersteiermark, bin in Graz aufgewachsen und in Wien heimisch geworden. Meine Großmutter väterlicherseits unterhielt mich mit ihren Kindheitserinnerungen aus Mährisch-Ostrau oder von der reichen Tante Gusti in Brünn. Sie konnte Tschechisch wie Deutsch, und als sie in Fünfkirchen einmal als Erzieherin bei den Kindern eines Bergwerk-Direktors arbeitete, lernte sie Ungarisch. Ihr Mann war im burgenländischen Lockenhaus geboren, als es noch zu Ungarn gehörte. Der Vater meiner Mutter stammte aus Kärnten und hatte einen slowenischen Namen. Und meine Tanten in Seckau lebten dort im Umkreis der Benediktinerabtei. Sie waren alle tief katholisch. In ihren Geschichten thronte der Kaiser von Gottes Gnaden immer noch über uns, überirdisch, magisch, die Verkörperung alles Guten in einer bösen Welt. Als ich in meiner Schulzeit die durchaus freundliche Franz-Joseph-Biographie Jean Bourgoings in die Hand bekam, war ich zuerst schockiert darüber, was sich an diesem edlen Habsburgerhof so alles zugetragen hatte und dass diese scheinbar unantastbare Gestalt des alten Kaisers doch aus einer etwas kritischeren Perspektive betrachtet werden konnte. In den 1950er Jahren, als Student und junger Journalist, hielt sich mein Interesse an dieser Welt von gestern und vorgestern jedoch in Grenzen. Ich wollte den goldenen Westen entdecken, war von London fasziniert, wäre am liebsten gleich in New York geblieben und ließ mich von Paris gefangen nehmen. Als dort auf den großen Boulevards die Massen vor den Kinos für die Sissi-Filme anstanden, hatte ich dafür nur ein arrogantes Lächeln übrig; mich begeisterten die Werke der Nouvelle-Vague-Regisseure und Ingmar Bergmans. Erst als sich Jahre später meine Kinder vor dem Fernseher von Romy Schneider, Karlheinz Böhm und Ernst Marischka verzaubern ließen, wurden mir Wesen und Wirkung dieses perfekten K.-u.-K.-Recyclings bewusst. Aber in jenen Jahren wurde die Rückbesinnung auf die Donaumonarchie und deren kommerzielle Auswertung große Mode. Mit welcher Distanz hatten wir Jungen zuerst doch auf die Prachtbauten der Ringstraße geschaut, doch jetzt begriffen wir endlich, dass dieser Historismus nicht nur alte Stile kopiert hatte, sondern selber zu einem eigenen Stil geworden war, das perfekte Abbild der Zeit, die ihn kreiert hat.
Ich selber verdanke dieses Heimfinden nach Kakanien vor allem meinem Verleger Fritz Molden. Im Frühjahr 1963 nahm ich drei Monate Auszeit von der Kronen-Zeitungs-Redaktion, um das Abenteuer einer Wahlkampagne zu bestehen. Als Protest gegen die Erstarrung Österreichs im Proporzkorsett der schwarzroten Koalition stellten Fritz und sein Bruder Otto Molden Franz Kimmel, einen honorigen pensionierten Gendarmeriegeneral, der das KZ Dachau überstanden hatte, bei der Bundespräsidentenwahl als Kandidaten auf – gegen den amtierenden Adolf Schärf von der SPÖ und den todkranken Staatsvertragskanzler Julius Raab von der ÖVP. Und Fritz Molden engagierte mich als Pressesprecher. Im Bewusstsein, keinen politischen Schaden anrichten zu können, ließ ich mich auf dieses Unternehmen ein, ahnungslos, was ich dabei alles zu tun haben würde. Es war eine phantastische Lehrzeit, und dabei erwuchs auch eine echte Freundschaft mit Molden. Wir brachten es auf 170 000 Stimmen, ich erhielt noch eine Prämie, und damit wollte ich mir vierzehn Tage Venedig gönnen. Als ich mit Fritz beim Heurigen darüber redete, fing er plötzlich an, von der Adria zu schwärmen, von Istrien und Dalmatien, von Abbazia, Spalato und Ragusa – heute Opatija, Split und Dubrovnik –, und von der Familie seiner Mutter Paula von Preradović, der Dichterin der österreichischen Bundeshymne. Ein Onkel, einst k.u.k. Marineoffizier, war Admiral der königlichen jugoslawischen Marine, und Molden hatte als Kind am Meer herrliche Ferien verlebt. Nun schwelgte er in bunten Erinnerungen an diese für ihn immer noch lebendige Melange von venezianischem Erbe, dalmatinischem Seefahrer- und Piratengeist und altösterreichischer Marine-Tradition. „Da müsst ihr hinfahren, das müsst ihr kennenlernen, beschwor er uns, und ich darauf: „Warum fahren Sie denn nicht mit uns?
Und so geschah’s – in seinem schnittigen Mercedes-Cabrio und weiter mit dem Schiff. Für mich, den Binnenländer, war es wie ein Wunder – Österreich am Meer, das hatte es also gegeben, und trotz aller Wandlungen, trotz Tito war immer noch einiges davon zu spüren und auch zu sehen. Ich war vom Doppeladler-Bazillus befallen – und wieder in Wien redete ich Hans Dichand, meinem Chef, für die Kronen Zeitung eine Serie ein, eben „Österreich am Meer". Ein paar Monate später war ich wieder unterwegs zwischen Triest und Pola.
Ein halbes Jahr danach, der 2. Mai 1964, er wurde zu einem schicksalhaften Tag. Wir waren zum Wochenende in Moldens Landhaus südlich von Wien. Da erreichte uns am späten Nachmittag die traurige Nachricht, dass mein erst 59 Jahre alter Vater in Graz überraschend gestorben sei. Bevor wir am nächsten Morgen, einem Sonntag, aufbrachen, wollte ich noch gern zur Messe. Fritz fuhr mit mir über die Dörfer, um eine Kirche mit Gottesdienst zu suchen. Unterwegs kamen wir irgendwie auf das Doppeladler-Thema. Und Fritz sagte: „Du musst ein Buch schreiben. Sein Verlag war noch nicht einmal ein Jahr alt, und er suchte ständig Themen und Autoren. Wenn ich wieder in Wien sei, sollten wir konkret darüber reden. Ende Mai fuhr ich nach Sarajevo – 50 Jahre nach dem Attentat auf Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie –, für die Zeitung und natürlich auch für das Buchprojekt. Von da an tourte ich neben meiner Redaktionsarbeit bis zum Sommer 1965 durch die Kronländer oder saß an meiner Schreibmaschine, einer guten alten Olivetti Lettera. Und so mancher hat mich damals gefragt: „Was willst Du eigentlich damit, das ist doch ein alter Hut, das interessiert doch niemanden mehr.
Auch wenn ich manchmal mutlos war, an mir selber zweifelte und verzweifelte, was ließ sich doch alles aus diesem abgetragenen Hut hervorzaubern.
Diese Arbeit wurde zu einem unschätzbaren Lernprozess. Ich war ja kein Monarchiespezialist. Vielleicht sind meinen in harten Journalistenjahren trainierten Reporteraugen dadurch so manche Besonderheiten aufgefallen, die für den wirklichen Kenner selbstverständlich waren. Knapp über 30, hatte ich mich als einer der ersten einer jüngeren Generation dieses Themas angenommen. Das war wohl einer der Gründe dafür, dass Das blieb vom Doppeladler dann so gut ankam. Und auch das Torberg-Vorwort war äußerst hilfreich. Denn dadurch haben sich in allen großen Zeitungen die richtigen Leute für dieses Werk eines Unbekannten interessiert und wunderbare Rezensionen geschrieben.
Mein Blickwinkel war nicht durch Erinnerungen und fixe Vorstellungen beeinträchtigt. Dieses Alte war für mich neu, eine aufregende Erfahrung voller Erkenntnisse und Entdeckungen. Als wichtigster Führer zur Seele dieses von so vielen Nationalismen belasteten übernationalen Gebildes diente mir neben Doderer, Musil oder Hofmannsthal Joseph Roths Radetzkymarsch. Für Bosnien las ich Ivo Andrić, nach Prag reiste ich mit Kafkas Prozeß, Hašeks Schwejk und Geschichten von Urzidil in der Tasche. Für Galizien und die Bukowina hatte ich Karl Franzos, aber auch einen Unterhaltungsromancier wie Rudolf von Eichthal. Für Triest Italo Svevo und so weiter und so weiter. Und dann muss ich all den vielen Menschen danken, die mir, dem Fremden, Vertrauen schenkten, ihre Herzen öffneten und oft Dinge aus dem Gedächtnis kramten, die sie glaubten schon verdrängt und vergessen zu haben. Der Strom der Geschichte ist viel zu oft über sie hinweggegangen. Und dass Wien wieder einmal so nah sein würde und ihre Enkel und Urenkel fast unter einem gemeinsamen Dach mit uns leben könnten – wie sie selbst früher einmal –, das war noch eine unvorstellbare Utopie. Aber die Sehnsucht danach wurde schon zu Zeiten Chruschtschows und Titos, Kadars und Novotnýs, Gheorghiu-Dejs, und Gomułkas genährt in Agram und Budapest, in Prag, Brünn und Pressburg, in Czernowitz, Hermannstadt, Krakau oder Lemberg. Auch wenn sie das Ziel ihres Sehnens nicht genau kannten oder nicht zu definieren wagten. Es sei „ein unbestimmtes Gefühl, schrieb ich damals, „halb ererbt, halb visionär. Man wird seiner nur gewahr, wenn man sich den Menschen vorstellt und sagt: ‚Ich komme aus Wien‘. Dann öffnen sich die Arme und die Türen wie auf höheren Befehl. Sie sagen ‚Willkommen‘ wie zu einem Verwandten, dem sie lang nicht mehr die Hand gedrückt haben. Sie setzen den Kaffeetopf auf den Herd und sagen: ‚Ist gefällig?‘
Ob es heute auch noch so ist? Die Umgangsformen haben sich geändert, und viele haben auch die negativen Seiten des goldenen Westens kennengelernt. Wir sind kein Objekt des Staunens mehr oder gar der Bewunderung. Aber trotz aller Veränderungen ist in weiten Teilen Europas, von Italien bis nach Polen und zur Ukraine, die Grenze des Habsburgerreiches unverkennbar, deutlich sichtbar, ein Schnitt durch die Länder auch ohne offizielle Grenzfunktion.
Überall werden heute Grenzen abgebaut; doch welche Auswirkungen diese nur noch fiktiven historischen Grenzen heute noch haben, sollte eine wissenschaftliche Untersuchung des Regensburger Osteuropa-Instituts von 2010 klären: das Ergebnis: Fast ein Jahrhundert nach dem Untergang des Habsburgerreichs ist diese Grenze weiter existent – als lebendiges Andenken an die Donaumonarchie. Man nehme nur die Haltung der Bürger gegenüber staatlichen Einrichtungen auf lokaler Ebene. In der trockenen Sprache der Wissenschaftler liest sich das so: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Habsburger Reich in der Tat noch heute in den kulturellen Normen und in der Interaktion der Bürger mit den staatlichen Institutionen sichtbar ist. Vergleicht man Personen auf beiden Seiten der ehemaligen Habsburger Grenze, so haben die Menschen in Orten, die auf früher habsburgischem Gebiet leben, ein signifikant höheres Vertrauen in Gerichte und Polizei. Und sie seien auch viel weniger bereit, im Umgang mit diesen lokalen Diensten Bestechungsgelder zu zahlen. Die Regensburger Forscher sprechen vom Habsburg-Effekt, der durch die „lange anhaltenden positiven Erfahrungen im Umgang zwischen Bürgern und Staatsvertretern
wirksam geworden sei. Er beeinflusst das Verhältnis der Bürger zur Verwaltung oder Obrigkeit bis heute, nicht zuletzt auch dank einer in den Familien von Generation zu Generation gepflegten „Erinnerungskultur", die in vielen Regionen die habsburgische Zeit in rosarotem Licht erscheinen lässt.
Diese Studie bestätigt also nach fast einem halben Jahrhundert und gewaltigen Umwälzungen in der Region meine persönlichen Erfahrungen, wie ich sie damals zusammenfasste: „Die Grenzen der habsburgischen Donauländer wurden in den Atlanten gelöscht. Für den, der sie sehen will, bestehen sie jedoch immer noch, ohne Rücksicht auf Machtverteilung und soziale Ordnung. Die Früchte der Erziehungs- und Verwaltungstätigkeit jener kaiserlicher und königlicher Beamten aus den so verschieden gearteten Kronländern, Komitaten und Provinzen erwiesen sich als dauerhafter denn der Staat, der das alles überhaupt erst ermöglicht hatte. Die Verwalter der Konkursmasse, die mit Räumen und Völkern jonglierten und glaubten in einem Jahr Null zu stehen, wurden jedoch enttäuscht: eine tiefe Narbe zieht sich quer durch ihre Länder, die sichtbare Grenze der lenkenden Hand des Kaisers."
Um eine solche ausgediente Grenze, die längst keine mehr ist, zu erleben, wollte ich in der ukrainischen Bukowina von Czernowitz aus eigentlich nach Podwolotschiska, der legendären Grenzstation zum Zarenreich. Das hätte