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Ex-Yugos: Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland
Ex-Yugos: Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland
Ex-Yugos: Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland
eBook341 Seiten2 Stunden

Ex-Yugos: Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland

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Über dieses E-Book

Seit dem Ende Jugoslawiens 1991 beschäftigt der zerfallende Staat den Westen und besonders Europa: Krieg in Slowenien, Krieg in Kroatien, Krieg in Bosnien, der Krieg der Nato gegen Serbien wegen Kosovo ... und immer wieder: Flüchtlinge. Rüdiger Rossig, Redakteur der Berliner tageszeitung und der englischsprachigen Monatszeitung The German Times, lebte in den 90er Jahren als Mitarbeiter von UN und OSZE in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Der studierte Balkan-Historiker analysiert die Hintergründe des Konfliktes, erzählt aber vor allem von den vielfältigen sub- und jugendkulturellen Blüten im einstigen Jugoslawien.
Er berichtet, wie die ersten "Jugos" als "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen und zugleich Rockmusik und damit westliche Popkultur die jugoslawische Jugend eroberte, wie schließlich aus Jugos Bosnier, Kroaten, Serben, vor allem aber Deutsche wurden und aus Deutschen Jugos, und porträtiert zahlreiche junge, kulturschaffende (Ex-)Jugos in der Bundesrepublik Deutschland.

Rossig, Jahrgang 1967, war für die Uno in Sarajewo tätig, er spricht Serbokroatisch, hat wissenschaftlich über Popmusikkultur in Südosteuropa gearbeitet und legt jetzt eine überbordend reiche Studie zu den so wichtigen und weitgehend von der Diplomatie unterschätzten oder komplett ignorierten Strömungen der Jugend- und Subkultur des Balkan vor. Eine Studie, wie sie kaum ein anderer hätte verfassen können.
Rossigs Streifzüge durch die komplexe, widersprüchliche, verwundete und teils wieder wundersame Geschichte der Ex-Yugo-Kulturen und ihrer Ausprägungen - besonders in Deutschland - verdanken ihre Faszination der nahezu schlafwandlerischen Sicherheit, mit der Subkulturexperte Rossig sich bei seinem Thema auskennt - nur 'aficionados' bringen das zuwege. Hier findet man Songtexte und Plattencover, Speisekarten und Sportereignisse, Filmszenen, Werbeplakate, die Musikszenen von Belgrad, Sarajevo, Ljubljana und Zagreb, auch die Veranstaltungen zu Traumata und Flucht. Nichts, rein gar nichts, so scheint es, ist Rossig in all den Jahren entgangen.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum1. Jan. 2012
ISBN9783940213907
Ex-Yugos: Junge MigrantInnen aus Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten in Deutschland

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    Buchvorschau

    Ex-Yugos - Rüdiger Rossig

    SFRJ-Reisepass

    I. Wie die Jugos nach Deutschland kamen

    Von Gastarbeitern und Jugoviči

    „Jugoslawen? Die gibt es doch gar nicht mehr!" So oder ähnlich klingt heute meist die deutsche Reaktion, wenn von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien die Rede ist. Seit den Kriegen der neunziger Jahre ist hierzulande bekannt, dass viele Bosnier, Kroaten, Makedonier, Serben und Slowenen nicht gerne an ihren verblichenen gemeinsamen Staat erinnert werden. Was damals genau in Ex-Jugoslawien passiert ist, bleibt umstritten. Mit dem balkanischen Chaos der neunziger Jahre kennt sich kein normaler Mensch aus. Und schließlich will man politisch korrekt sein und niemanden beleidigen. Jugoslawen? Bloß nicht!

    Das war nicht immer so. Bevor Jugoslawien 1991 in Krieg und Chaos zerfiel, wussten außerhalb dieses Landes nur Spezialisten, dass die Jugoslawen tatsächlich Bosnier und Herzegowiner, Kroaten, Makedonier, Montenegriner, Serben und Slowenen waren. Und Muslime, Katholiken und Serbisch-Orthodoxe. Von Albanern, Ungarn, Romi oder anderen Minderheiten ganz zu schweigen. Für die meisten Deutschen waren die Menschen aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (Socijalistička Federativna Republika Jugoslavija, SFRJ) schlicht und ergreifend „Jugos". Und so heißen sie und ihre Nachfahren bis heute für die Eingeborenen wie für die griechischen, italienischen, portugiesischen, spanischen und türkischen Kolleginnen und Kollegen.

    Dabei hatten viele heutige Ex-Jugoslawinnen und Ex-Jugoslawen schon vor dem Zerfall des gemeinsamen Staates mit dieser Benennung ihre Probleme. Weniger, weil der Begriff Jugos die nationalen, sprachlichen und religiösen Unterschiede im Herkunftsland außen vor ließ. Das störte die Arbeitsmigranten, die seit Ende der sechziger Jahre aus Jugoslawien nach Westdeutschland kamen, schon deshalb nicht, weil sich die allermeisten von ihnen zumindest im Ausland durchaus als Jugoslawen einstuften. Vielmehr roch und riecht Jugos nach Grillfleisch und „Rakija genanntem Schnaps, nach Unterentwicklung und dörflicher Herkunft, Billigtourismus und schlechter Volksmusik. Nach Armut und nach „Balkan – also genau den Dingen, denen die „Gastarbeiter" aus dem Staate Titos entkommen wollten.

    Egal, ob sie von Hause aus katholische Slowenen oder Kroaten, muslimische Bosnier, orthodoxe Serben, Montenegriner oder Makedonier waren: Die meisten Menschen aus der SFRJ, die sich auf den Weg in die reiche Bundesrepublik Deutschland machten, kamen aus den armen, unterentwickelten Regionen Jugoslawiens. Zwar machten sich auch einige Gastarbeiter aus großen Städten wie Zagreb, Sarajevo oder Belgrad auf den Weg nach Westen – die überwiegende Mehrheit aber stammte aus kleinen, ländlichen Gemeinden. Der Hauptgrund für die Auswanderung aus dem Jugoslawien der sechziger Jahre waren die Armut und Perspektivlosigkeit in den strukturschwachen ländlichen Gebieten Kroatiens, Bosniens und Serbiens. Bis dahin hatten die Menschen in den Dörfern und Kleinstädten ihre Hoffnungen auf sozialen Aufstieg in einen Umzug in eine der Städte des eigenen Landes gesetzt. Aber mit dem Ende des sozialistischen Aufbaus war die Aufnahmekapazität der urbanen Zentren Jugoslawiens erschöpft. Die wirtschaftliche Dynamik, die die Wirtschaft der SFRJ in den fünfziger Jahren geprägt hatte, verlangsamte sich im Verlauf der Sechziger immer mehr. Plötzlich gab es Arbeitslosigkeit.

    Da tat sich mit der Anwerbevereinbarung zwischen den Regierungen in Bonn und Belgrad von 1968 eine neue Möglichkeit auf: Statt ohne bezahlte Beschäftigung auf dem Dorf oder in tristen sozialistischen Vorstädten zu sitzen, konnten junge, arbeitswillige Jugoslawen für ein paar Jahre ins wirtschaftlich boomende Westdeutschland gehen – mit der Perspektive, anschließend als gemachter Mensch nach Hause zurück zu kehren.

    Der zweimillionste Gastarbeiter ist eine Jugoslawin: Vera Rimski (19) aus Novi Sad wird am Mittwoch, dem 8. März 1972 auf dem Münchner Hauptbahnhof von Josef Stingl, dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, mit Blumen begrüßt

    SV-Bilderdienst/dpa

    Der Weg Westdeutschlands von der Trümmerlandschaft von 1945 bis zum Wirtschaftswunderland der sechziger Jahre wurde von zwei großen Zuwanderungsschüben geebnet: Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten zunächst ca. zwölf Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in die drei westlichen Besatzungszonen. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 bis zur Sperrung der innerdeutschen Grenze wanderten zudem ca. 3,1 Millionen Deutsche aus der DDR in die BRD ab. Aber damit war nach dem Mauerbau am 13. August 1961 Schluss.

    Um den nun entstehenden Mangel an Arbeitskräften auszugleichen, wurden seit Mitte der sechziger Jahre immer mehr ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter angeworben: Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen, Türken und Jugoslawen.

    Das schien ein Geschäft auf Gegenseitigkeit zu sein: Jugoslawien verringerte seine Arbeitslosigkeit und erhielt von den Arbeitsmigranten gleichzeitig wertvolle Devisen. Und die Bundesrepublik bekam ihren Mangel an Arbeitskräften in den Griff. Vom ersten Jahr der Vollbeschäftigung 1960 bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1973, die die damalige sozial-liberale Bundesregierung zu einem Anwerbestopp veranlasste, wuchs die ausländische Erwerbsbevölkerung in Westdeutschland von rund 280.000 auf 2,6 Millionen Menschen an. Vom ersten Anwerbeabkommen 1968 bis 1989 entwickelten sich die Jugos nach den Türken zur zweitgrößten Community mit 12,5 Prozent der Ausländer in der Bundesrepublik.

    Der westdeutsche Alltag von den Siebzigern bis 1991 spiegelte diese Tatsache wider: In jeder Telefonzelle der alten Bundesrepublik befand sich ein Aufkleber, auf dem die Bedienung des Gerätes auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, Türkisch und Serbokroatisch beschrieben wurde – neben der jeweiligen Staatsfahne. Erst als Jugoslawien 1990/91 in seine nationalen Bestandteile zerfiel, verschwand das blauweiß-rote Banner mit dem roten Stern in der Mitte. Und weil sich die serbokroatisch sprechenden Post-Jugos nicht auf eine neue Fahne – die bosnische, kroatische oder serbische – einigen konnten, fehlt die Beschreibung in ihren Sprachen in den heutigen deutschen Telefonzellen ganz.

    Zuzüge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie den Nachfolgestaaten

    Warten auf Papiere: Gastarbeiter in der Annahmestelle des Arbeitsamtes im Keller des Hauptbahnhofs von München

    SV-Bilderdienst/Neuwirth F.

    In den achtziger und frühen neunziger Jahren gab es in jeder größeren Ortschaft ein jugoslawisches oder „Balkan-Restaurant. Die Gäste waren einerseits Gastarbeiter, die sich in den Jugo-Restaurants zum Stammtisch trafen, und andererseits von der balkanischen Küche und vom Adria-Urlaub begeisterte „Švabe (Schwaben). Diesen Begriff benutzte man in den südslawischen Gebieten der österreichischen Monarchie für Siedler aus den deutschsprachigen Teilen Europas. Dass die Bezeichnung auf die allermeisten Westdeutschen nicht nur nicht zutrifft, sondern für manche sogar beleidigend sein kann, interessiert die Gastarbeiter aus der SFRJ und ihre Nachfahren bis heute nicht.

    Zeitgleich zur Arbeitsmigration von Jugos in die Bundesrepublik entdeckten die Westdeutschen Jugoslawien als Reiseziel: Sprung von der „Alten Brücke" im bosnischen Mostar, 1987

    Zeitgleich zur Arbeitsmigration von Jugos in die Bundesrepublik hatten die Westdeutschen Jugoslawien als Reiseziel entdeckt. Aufgrund der anhaltend guten wirtschaftlichen Entwicklung gedieh die deutsche Tourismus-Branche prächtig. So lernten Millionen Bundesbürger Jugoslawien kennen: ein ziemlich liberales sozialistisches Land mit einer wunderschönen Adriaküste, politisch dank Block- und Reisefreiheit wohl akzeptiert zwischen den Staaten der Welt – und zudem im Vergleich zum traditionellen deutschen Urlaubstraumland Italien auch noch wirklich preiswert. So kamen sich die Deutschen und ihre jugoslawischen Gastarbeiter näher. Herta und Helmut besuchten Svetlana und Zvonko in deren Heimatort oder stellten sich gleich einen Wohnwagen auf das Grundstück an der Küste, das ihre jugoslawischen Kollegen vom in Deutschland verdienten Geld gekauft hatten.

    Neujahr zu Hause erleben: Am 31. Dezember 1971 warten ausländische Arbeitskräfte aus Süd- und Südosteuropa auf dem Münchner Hauptbahnhof auf die Abfahrt. Wegen des erhöhten Bedarfs hatte die Bahn verstärkt Sonderzüge eingesetzt

    SV-Bilderdienst/Neuwirth F.

    Gerade weil viele Arbeitsmigranten in ihren Herkunftsländern bauten und auch verbal betonten, dass sie dorthin zurückkehren wollten, ging man noch lange nach dem Anwerbeabkommen auf deutscher Seite davon aus, dass die ausländischen Arbeitskräfte nach dem Ende ihrer Arbeitsverträge tatsächlich wieder nach Hause fahren würden. Dass die Jugoslawen den Begriff Gastarbeiter phonetisch in ihre südslawischen Sprachen aufnahmen – in allen Teilen Ex-Jugoslawiens heißen Migranten, die im Westen arbeiten, bis heute „Gastarbajter" – ist ein Statement: Die deutsche und die jugoslawische Seite waren sich über die grundsätzlichen Modalitäten der Migration in die Bundesrepublik einig. Sie sollte zeitlich begrenzt sein. Aber so lief das nicht.

    Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre ging die Bundesregierung nach dem Anwerbestopp von 1973 davon aus, dass weiterhin 200.000 bis 300.000 ausländische Arbeitskräfte pro Jahr das Land verlassen würden, während gleichzeitig kein neuer Zulauf stattfinden würde. Tatsächlich geschah etwas ganz anderes: Die Zahl der erwerbstätigen Ausländer der Bundesrepublik nahm zwar tatsächlich zwischen 1973 und 1979 von 2,6 auf 1,8 Millionen ab. Aber die Gesamtzahl der in Westdeutschland lebenden ausländischen Staatsbürger blieb im gleichen Zeitraum stabil – und begann dann sogar zu steigen. Es wurde erkennbar, dass zumindest ein Teil der Gastarbeiter vorhatte, in Deutschland zu bleiben: Sie zogen aus den Ausländerwohnheimen in Mietwohnungen, holten ihre Familien nach und begannen, Kinder zu zeugen. 1980 lag die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten um eine Million höher als 1973. Das Thema „Ausländer" wurde zum Politikum.

    Im Gegensatz zu ihren aus der Türkei stammenden Kolleginnen und Kollegen spielten die Jugos in der Ausländer-Debatte der achtziger und neunziger Jahre keine Rolle. Weder rechte Politiker noch der rechts-extreme Mob griffen jemals Jugoslawen an. Offenbar hielten selbst diejenigen Deutschen, die Ausländer im Allgemeinen als Problem empfanden, Gastarbeiter aus der SFRJ für integrationsfähig. Dazu trug auch bei, dass die Jugos nur in wenigen Fällen zusammenhängende Wohnbezirke bildeten. Viele lebten in Orten, in denen es außer ihnen gar keine Ausländer gab. Zudem war das sozialistische Jugoslawien ja vielen Westdeutschen aus dem Urlaub bekannt.

    Und: Die jugoslawische Alltagskultur war der der Bundesrepublik vielerorts nicht allzu fremd. Das ist wohl auch ein Grund für die vielen deutsch-jugoslawischen Mischehen und die Kinder aus diesen: Jugo-Kinder oder „Jugoviči".

    Lob der Jugošvabe

    Der Journalist und Buchautor Nicol Ljubić erzählt in „Heimatroman oder Wie mein Vater Deutscher wurde" die Geschichte eines jugoslawischen Arbeitsmigranten und seiner Familie.

    Nicol Ljubić ist ein „Jugošvabo: Der Vater des 1971 geborenen Journalisten und Buchautors kam Ende der Fünfzigerjahre aus Jugoslawien nach Deutschland und heiratete eine „Švabica. Jugošvabe gibt es in Deutschland Hunderttausende. Sie sind durch Eltern, Verwandtenbesuche und Urlaube in der Kindheit irgendwie mit dem Balkan verbandelt, können aber oft die dortigen Sprachen nicht: Zu Hause sprach man Deutsch.

    Jugošvabe gehören in exjugoslawischen Kreisen immer irgendwie dazu – aber selten ganz. Das führt zu zweierlei Reaktion: Die eine Sorte Jugošvabe legt den Bezug zum Herkunftsland der Eltern oder des Elternteils irgendwann völlig ab. Manche germanisieren ihre Nachnamen: Aus Ljubić wird Lubitsch. Der Autor von „Heimatroman oder Wie mein Vater Deutscher wurde" gehört zu der anderen Art: Nicol Ljubić interessiert sich für die Welt, aus der sein Vater kommt.

    Nun ist Dragutin Ljubić, genannt Drago, nicht irgendein Arbeitsmigrant vom Balkan, der in Mann-, Rosen- oder Rüsselsheim hängen geblieben ist. Der Mann, der in seiner Jugend „Grizzly" genannt wurde, ist intelligent, vielseitig begabt, flexibel und zielbewusst. Was Drago anpackt, das macht er gut. Daher endet die Reise des Autoschlossers aus Zagreb auch nicht irgendwo in Deutschland, sondern führt den Flugzeugmechaniker Ljubić und seine Familie durch halb Europa bis nach Afrika.

    Dabei ist Vater Ljubić nicht nur in den Augen des Sohnes, sondern – von ein paar sprachlichen Besonderheiten abgesehen – ganz offensichtlich ein waschechter Deutscher: Er ist fleißig, pünktlich und in einer Art pedantisch, die man spießig nennen könnte. Auch deswegen hielt der Sohn die abenteuerlichen Geschichten des Vaters über dessen Weg nach Deutschland lange für Legenden.

    Überhaupt ist dem in der satten Bundesrepublik geborenen Nicol Einiges unklar geblieben. So meinte er, der Tito-Kommunismus sei der Grund für die Migration seines Vaters gewesen. Die Armut, in der Drago aufgewachsen ist, nimmt er erst wahr, als er das Leben seines alten Herrn recherchiert – und das in Begleitung desselben. Von Kroatien aus befahren Sohn und Vater dessen Migrationsstrecke von Jugoslawien über Italien, Korsika und Frankreich bis nach Deutschland.

    Nicol Ljubić‘ Reisebericht ist eine fesselnde Schilderung nicht nur der imposanten Persönlichkeit, die Vater Drago zweifelsohne ist. „Heimatroman oder Wie mein Vater Deutscher wurde" ist auch eine Reise durch ein Europa Ende der Fünfzigerjahre. Dem Sohn gelingt es immer wieder, die Welt, in der sein Vater aufwuchs, mit der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft querzuschneiden, in er selbst groß werden durfte – und dabei zu erklären, wie aus seinem kroatischen Vater ein Deutscher wurde.

    Detailliert und liebevoll beschreibt Ljubić die kleine Wohnung der Tante im kroatischen Zagreb, das baufällige Haus, in dem der Vater mit Eltern und Geschwistern lebte, das Dorf, aus dem die Großeltern in die große Stadt gezogen waren – die der Vater wiederum verließ, um anderswo sein Glück zu suchen. Geschickt, weil scheinbar unbewusst, lässt Ljubić ein paar Mal die Übersetzung kroatischer Sätze weg – und macht so sein eigenes Nichtverstehen der Vatersprache für den Leser nachvollziehbar.

    Nicol Ljubić‘ Heimatroman ist mehr als eine Vater-Sohn-Geschichte. Ein Reisebericht, eine wunderschöne Erzählung – und die Hommage eines Jugošvabo an die Migranten, die in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren aufgrund ihres Fleißes, ihrer Intelligenz und ihrer Adaptionsfähigkeit fern der Heimat den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft haben.

    Nicol Ljubić: Heimatroman oder Wie mein Vater Deutscher wurde. DVA, München 2006, 210 Seiten, 17,90 Euro

    Titos Arbeitszimmer, Mausoleum „Haus der Blumen" Belgrad, Winter 2007

    Roland Gerhardt

    Es war zweimal ein Land

    Die Idee eines gemeinsamen Staates der Jugo- oder zu Deutsch „Süd-Slawen entstand Anfang des 19. Jahrhunderts. Zunächst fand sie keinen großen Widerhall. Slowenen und Kroaten lebten seit Jahrhunderten in der Habsburger Monarchie, Bosnier, Serben, Montenegriner und Makedonier im Osmanischen Reich. Sicher hatte es immer wieder Aufstände gegeben – aber die richteten sich eher gegen die sozialen Umstände, in denen die Südslawen lebten, als gegen die „fremden Herrscher. Tatsächlich nahmen viele der zukünftigen Jugoslawen diese gar nicht als fremd wahr, denn das Konzept nationaler Staaten war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf dem Balkan angekommen. Wie im europäischen Mittelalter lebte man unter dem Herrscher, den man je nach Glauben von Gott, Allah oder Jahwe erhalten hatte. Und scherte sich um Politik nur dann, wenn man selbst von ihr betroffen war.

    Erst als im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer offensichtlicher wurde, dass weder Wien noch Istanbul in der Lage waren, adäquat auf die Anforderungen der heraufziehenden kapitalistischen Moderne zu reagieren, gewann die Idee eines gemeinsamen Staates der Südslawen Anhänger. Montenegro und Serbien waren zu diesem Zeitpunkt bereits unabhängige Staaten geworden. Aber im Rest des Osmanischen Reiches und in den österreichischungarischen Gebieten gab es für die Panslawisten keine Möglichkeiten, ihr politisches Ziel zu propagieren. Einige Polit-Jugoslawen bildeten terroristische Gruppen, die einen Zusammenschluss aller südslawischen Gebiete der Habsburgermonarchie mit Serbien anstrebten und von dort aus unterstützt wurden.

    Am 28. Juni 1914 erschoss der 20-jährige Gavrilo Princip den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand von Habsburg in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Der Krieg, der dem Attentat folgt, zerstörte nicht nur das deutsche Kaisertum und den russischen Zarismus, sondern auch das Osmanische Reich und den Staat der Habsburger. 1918 wurde ein südslawischer Staat unter serbischer Führung gegründet: das Königreich der Serben,

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