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Die Macht des Ethnischen: Sichtbare und unsichtbare Linien auf dem Balkan
Die Macht des Ethnischen: Sichtbare und unsichtbare Linien auf dem Balkan
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eBook289 Seiten3 Stunden

Die Macht des Ethnischen: Sichtbare und unsichtbare Linien auf dem Balkan

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Über dieses E-Book

30 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens

Cyrill Stieger hat in den vergangenen Jahren die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete; er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Er sprach mit den Menschen, auch mit Amtsträgern, fragte sie, ob sich die in den Kriegen aufgerissenen ethnischen Trennlinien, etwa in Vukovar oder in Mitrovica, verfestigt haben oder ob sie sich mit einer neuen Generation aufweichen. Was muss passieren, um den Fluch des Ethnischen zu brechen?
Das Buch verbindet anschauliche Reportagen mit politischen und historischen Analysen. Es geht um Identitäten und um die Folgen des Nationalismus, um unvereinbare Geschichtsbilder und darum, wie Erinnerung von nationalistischen Politikern manipuliert wird, außerdem um die Schwierigkeiten der Aussöhnung. Es sind Themen, die in Zeiten des erstarkten Nationalismus und zunehmender autoritärer Tendenzen auch anderswo in Europa, in Polen und in Ungarn, aktuell sind. Aber der Pragmatismus und die Hoffnungen der Menschen auf dem Balkan geben Zuversicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum25. Aug. 2021
ISBN9783858699343
Die Macht des Ethnischen: Sichtbare und unsichtbare Linien auf dem Balkan

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    Buchvorschau

    Die Macht des Ethnischen - Cyrill Stieger

    Verschiedene Welten in Vukovar

    Es ist ein düsterer Tag in Vukovar. Es regnet in Strömen, ohne Unterlass. Dunkel hängen die Wolken über der Trümmerwüste. Zwei Tage nach der Einnahme der ostkroatischen Stadt durch die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen am 18. November 1991 bietet sich den aus Belgrad herangekarrten Journalisten ein Bild des Grauens. Ganze Straßenzüge sind verwüstet, viele Häuser ausgebrannt. Das Zentrum ist mit Schutt und Trümmern übersät. Glassplitter bedecken die morastigen Straßen. Verkohlte Baumstämme ohne Äste ragen in den Himmel, überall liegen verbrannte Autowracks. Am Rande der Straße verwesen tote Tiere, vor einem zerschossenen Haus liegen zwei Leichen mit dem Gesicht nach unten. In einem Innenhof beim Krankenhaus werden den Journalisten zwei Dutzend entstellte Leichen präsentiert. Ein serbischer Offizier hat uns dorthin geführt. Eine Leiche ist fast völlig verkohlt, bei einer andern fehlt der halbe Kopf. Einige haben ein Etikett mit einer Nummer am großen Zeh. Sind es Patienten des Krankenhauses? Und wenn das der Fall ist, warum liegen die Leichen hier neben den zerschossenen Ambulanzfahrzeugen? Der Offizier behauptet im Brustton der Überzeugung, es handle sich um unschuldige serbische Opfer der »kroatischen Neofaschisten«. Die Frage, woher er denn wisse, dass die Opfer Serben seien, bleibt unbeantwortet, sie wird als Provokation empfunden.

    In der Kaserne von Vukovar sitzen an einem langen Tisch serbische Offiziere und Soldaten und einige verstörte Zivilisten mit geröteten Augen und bleichen Gesichtern. Sie werden als Serben vorgestellt, die in den Kellern ihrer Häuser wochenlang ausgeharrt hätten, ohne Wasser und Strom. Das hätten ihnen die »kroatischen Neofaschisten« angetan. Vom Leiden der kroatischen Bewohner, die während dreier Monate dem serbischen Beschuss ausgesetzt gewesen waren, spricht niemand. Wenn die Armeeangehörigen während dieser makabren Inszenierung das Wort an die bleichen Gestalten richten, nicken diese stumm, mit ausdruckslosen Augen. Dann sagt einer der Offiziere: »Wir haben das von den kroatischen Ustaša-Horden geknechtete serbische Volk nach heldenhaftem Kampf befreit und damit einen Genozid verhindert.« Er spricht von einem »großen Sieg des serbischen Volkes«. In Vukovar sei nicht Kroatien verteidigt worden, wie Zagreb behaupte. Die Stadt an der Grenze zu Serbien sei vielmehr von den Kroaten zu einer Festung ausgebaut worden. Von hier aus habe der Faschismus verbreitet werden sollen. Er nennt Vukovar ein Symbol des »niedergeschlagenen Faschismus«. Die Serben hätten den Krieg nicht gewollt, meint der Offizier, er sei ihnen aufgezwungen worden. Und dann sagt er inmitten der Trümmerhaufen, die Armee habe nicht alle ihr zur Verfügung stehenden militärischen Mittel eingesetzt, weil sie das Leben unschuldiger Zivilisten habe schonen wollen. Deshalb habe es drei Monate gedauert, bis Vukovar »befreit« worden sei.

    Am Abend dieser serbischen Propagandashow, die an Zynismus kaum mehr zu überbieten ist, werden die Journalisten vor den Ruinen des Hotels Dunav (Donau) im Zentrum von Vukovar aus der Feldküche der Armee verpflegt. Suppe wird verteilt, Schnaps herumgereicht. Am Morgen, auf der Hinfahrt im Autobus von Belgrad nach Vukovar, hatte jeder einen Kugelschreiber mit der Aufschrift »Jugoslawische Volksarmee« erhalten. Er hoffe, so hatte der begleitende serbische Offizier den Journalisten gesagt, dass sie alle die Wahrheit über Vukovar schrieben – die serbische Wahrheit, versteht sich. Den Journalisten ist an diesem Abend der Appetit gründlich vergangen. In sich gekehrt, erschüttert, verwirrt und betäubt von dem, was sie gesehen und gehört haben, stehen sie da. Es ist kalt und nass. Kaum einer sagt ein Wort. Es wird früh dunkel in der »befreiten« Stadt, in dieser menschenleeren, gespenstischen Trümmerwüste, auf die noch immer unaufhörlich der Regen niederfällt. Sonst ist kaum etwas zu hören. Nur ab und zu durchbrechen vorbeifahrende Militärfahrzeuge die Stille.

    Unmittelbar nach der Einnahme von Vukovar verübten Serben eines der schlimmsten Verbrechen der Kriege der neunziger Jahre. Darüber erfuhren die Journalisten nichts. Im Keller des Krankenhauses, wohin die Verletzten und Kranken während des Dauerbeschusses verlegt worden waren, sah ich nur noch einige wenige Patienten. Wo aber waren die vielen anderen? Ein Arzt, der unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen hier operiert hatte, sagte verzweifelt: »Warum seid ihr nicht früher gekommen!« Er meinte weniger die Journalisten, als vielmehr westliche Politiker, die aus seiner Sicht nichts getan hatten, um die Tragödie von Vukovar zu verhindern. Ein Kroate, der mit einer Serbin verheiratet war, zeigte sein Bein, das von einer Mine zerfetzt worden war, und meinte unbeirrt, er sei überzeugt davon, dass Kroaten und Serben in Vukovar wieder zusammenleben könnten. Auf die Frage, wo denn die vielen Patienten des Krankenhauses verblieben seien, sagte ein serbischer Offizier, den ich kurz darauf vor dem Gebäude traf, sie seien evakuiert worden.

    Erst mit der Entdeckung von Massengräbern fast ein Jahr später kam die schreckliche Wahrheit ans Licht. Nachdem die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen die Kontrolle über das Krankenhaus übernommen hatten, wurden in aller Eile rund vierhundert Personen weggebracht, verwundete kroatische Soldaten, Pflegepersonal, andere Zivilisten, unter ihnen auch politische Aktivisten und Journalisten, die in den letzten Tagen der Belagerung im Krankenhaus Zuflucht gesucht hatten – in der Hoffnung, unter Aufsicht internationaler Beobachter die Stadt verlassen zu können. Doch das erwies sich als Trugschluss. Serbische Milizen töteten wenige Tage nach dem Fall der Stadt auf dem Gelände des früheren Landwirtschaftsbetriebs in Ovčara, einige Kilometer südlich von Vukovar, über zweihundert der Verschleppten, unter ihnen den kroatischen Radiojournalisten Siniša Glavašević, der bis zum letzten Tag aus der belagerten Stadt berichtet hatte.

    Der Kampf um Vukovar

    Wie war es zu dieser Tragödie in Vukovar gekommen, die in jugoslawischer Zeit als Vorbild für ein multiethnisches und multikulturelles Zusammenleben galt? Warum war der Krieg in Kroatien zu Beginn der neunziger Jahre ausgebrochen? Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein Blick auf die Ereignisse in den Jahren zuvor unerlässlich. Jugoslawien schlitterte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, wie schon erwähnt, in eine tiefe wirtschaftliche, politische und soziale Krise. Die einzelnen Teilrepubliken verfolgten in zunehmendem Maße ihre nationalen Interessen, die sie immer rücksichtsloser durchzusetzen versuchten. Die politischen Institutionen des Gesamtstaates verloren an Bedeutung. In allen Teilrepubliken entstanden gegen Ende des Jahrzehnts neue Parteien auf ethnischnationaler Grundlage. Die politischen Umbrüche in Ostmitteleuropa von 1989, welche die Herrschaft der Kommunisten beendeten, gingen am krisengeschüttelten jugoslawischen Vielvölkerstaat nicht spurlos vorbei. Auch hier fanden 1990/1991 in allen Teilrepubliken Mehrparteienwahlen statt, die vielerorts mit einem Sieg der neuen nationalistischen Kräfte endeten. Die Institutionen des Gesamtstaates hatten damit ihre Legitimität endgültig verloren.

    Aus den Parlamentswahlen in Kroatien vom 22. April und 6. Mai 1990 ging die nationalistische Kroatische Demokratische Gemeinschaft (Hrvatska demokratska zajednica, HDZ) als Siegerin hervor. Allerdings erzielte auch der Bund der Kommunisten ein gutes Resultat. Der Chef der HDZ, Franjo Tuđman, wurde am 30. Mai vom neuen Parlament zum Präsidenten der Sozialistischen Republik Kroatien – so die damalige Bezeichnung – gewählt. Bei den Wahlen in Serbien, die am 9. und 23. Dezember des gleichen Jahres stattfanden, siegte die aus dem Bund der Kommunisten hervorgegangene Sozialistische Partei Serbiens (SPS) von Slobodan Milošević. Er gewann mit großem Vorsprung auch die gleichzeitig abgehaltene Präsidentenwahl. Milošević hatte sich des serbischen Nationalismus bedient, um an die Macht zu kommen und sie zu festigen. Es gelang ihm, die serbische Nation für seine Politik zu mobilisieren. Die beiden für das Schicksal Jugoslawiens entscheidenden Figuren, Tuđman und Milošević, hatten am Vorabend der Zerfallskriege unvereinbare Vorstellungen darüber, wie die tiefe Krise der Föderation entschärft werden sollte. Kroatien lehnte, in gleicher Weise wie Slowenien, die Forderung Miloševićs nach einer Rezentralisierung des Gesamtstaates ab. Beide sahen darin eine Fortsetzung der politischen Dominanz Belgrads. Umgekehrt wollte Serbien vom kroatischen und slowenischen Konzept einer Umwandlung der Föderation in eine Konföderation souveräner Staaten nichts wissen. Tuđman und Milošević waren zu keinerlei Kompromissen bereit. Sie wollten, wie sich im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 1991 immer mehr zeigte, keine Neuordnung der jugoslawischen Föderation, sondern deren Zerschlagung.

    Mit dem fortschreitenden Zerfall der Föderation nahmen auch die Spannungen zwischen den in Kroatien lebenden Serben und der neuen kroatischen Führung zu. Am Vorabend des serbisch-kroatischen Krieges lag der Anteil der Serben an der Gesamtbevölkerung Kroatiens bei 12,2 Prozent (582’000). Viele von ihnen lebten in der Region Ostslawonien, zu der auch Vukovar gehört, sowie in der sogenannten Krajina, einem breiten Landstreifen entlang der Grenze Kroatiens zu Bosnien-Herzegowina. Dort waren die Serben in einigen Orten sogar in der Mehrheit. Die Krajina-Serben sind die Nachfahren orthodoxer Christen, die einst aus den von den Osmanen eroberten Regionen des Balkans in nordwestliche Richtung flohen und von den Habsburgern in den Grenzgebieten angesiedelt wurden. Als freie Wehrbauern erhielten sie Steuererleichterung und eine lokale Selbstverwaltung. Als Gegenleistung mussten sie die Grenzen des christlichen Habsburgerreiches gegen militärische Vorstöße der Osmanen verteidigen. Der bewaffnete Aufstand der Serben gegen die neue kroatische Staatsmacht nahm in der Krajina seinen

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