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Stefan Zweig, Judentum und Zionismus
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eBook460 Seiten6 Stunden

Stefan Zweig, Judentum und Zionismus

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Über dieses E-Book

Dieser Band zeigt das komplexe und relativ intensive Verhältnis Stefan Zweigs zum Judentum und zum Zionismus vom Beginn seiner Karriere an. Einige seiner wichtigsten Schriften und auch Teile von bedeutenden Briefwechseln können partiell als Auseinandersetzungen mit Stellungnahmen zu Judentum und Zionismus verstanden werden. Der Band versucht zu zeigen, dass die jüdischen und zionistischen Aspekte seiner Karriere und Schriften ihren gerechtfertigten Platz in der Gesamtinterpretation seines Schaffens haben. Zweigs jüdische Sensibilität kommt in mehreren seiner Werke klar zum Ausdruck, genauso wie in seinen Briefen. Jüdische Rezeptionen von Zweigs Schriften helfen, verschiedene Deutungsoptionen für seine Texte anzuwenden und sie in einem bestimmten spezifisch jüdischen Rahmen zu verstehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum25. Apr. 2014
ISBN9783706557405
Stefan Zweig, Judentum und Zionismus

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    Buchvorschau

    Stefan Zweig, Judentum und Zionismus - Mark H. Gelber

    Bibliographie

    Vorwort

    Das Ziel dieser Monographie ist es, eine Lücke in der Stefan-Zweig-Forschung zu schließen. Bei einer Stefan-Zweig-Konferenz (2009) in Berlin wurde während einer Diskussion anknüpfend an einen Vortrag beklagend bemerkt, dass keine Monographie über Zweigs Verhältnis zum Judentum existiere. Dies entspricht zwar der Realität, jedoch sind bereits viele Aufsätze in unterschiedlicher Qualität zu diesem Thema erschienen. Es wäre einerseits falsch zu behaupten, dass dieses Thema in der Zweig-Forschung oder im Rahmen der jüdischen literarischen Studien völlig vernachlässigt worden sei. Andererseits werden im Allgemeinen Zweigs komplexes Verhältnis zum Judentum und seine vielleicht noch komplexere Stellungnahme zum Zionismus selten differenziert oder als separate Kategorie kritisch erläutert.

    Vielleicht hat der bedeutende Zweig-Biograph Donald Prater die Richtlinien dieser Sichtweise gesetzt, als er in seiner Zweig-Biographie, die mehr als dreißig Jahre lang als das Standardwerk in der Zweig-Forschung diente, Folgendes schrieb: „Überdies waren Familien wie die der Zweigs […] in ihrem Auftreten europäisch, sie hatten weitgehend ihre spezifisch jüdischen Charakteristika verloren. Im größten Teil seines Lebens hat Stefan Zweig seinem Judentum nur untergeordnete Bedeutung beigemessen, und […]. Seine Familie war weder religiös noch nationalistisch".¹ Anknüpfend an diese Art der Darstellung behauptete Sarah Fraiman-Morris, dass das Judentum für Zweig lediglich Weltbürgertum bedeutet hätte: „Being Jewish for him meant being a citizen of the world.² Für Fraiman-Morris wurde das religiöse Judentum von Zweigs Ahnen durch einen Prozess der Akkulturation in einen vagen Humanismus umgewandelt.³ Eva Reichmann wiederum behauptete, dass Zweigs Werke, als die eines übernationalen, kosmopolitischen Europäers eher „eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus zeigen würden.⁴ Obgleich Fraiman-Morris und Reichmann überzeugt davon sind, dass die historischen Entwicklungen in den zwanziger und dreißiger Jahren, insbesondere der Aufstieg des Nationalsozialismus mit all den gravierenden Konsequenzen, auch für Zweig diese allgemeinen Aussagen, die typisch für viele Studien über Zweig sind, teilweise in Frage stellen – indem Zweig neue differenziertere Stellungnahmen dem Judentum wie auch dem Zionismus gegenüber traf –, steht ihr allgemeines Verständnis von Zweig fest. Auch wenn sie, so wie mehrere Beobachter, möglicherweise dazu beigetragen haben, Licht auf verschiedene Aspekte dieses jüdischen und zionistischen Gefüges zu werfen, sind in der Regel entweder ihre Voraussetzungen, Methodologien oder Argumente problematisch oder gar fehlerhaft. Viele Versäumnisse, Vereinfachungen und schlichte Unkenntnis stören die Glaubwürdigkeit vieler Arbeiten auf diesem Gebiet. Ich hege die Hoffnung, dass die vorliegende Studie ein gewisses Maß an Klarheit bezüglich der problematischen Aspekte dieses Themas bewirken wird, um letztendlich zu einem besseren Verständnis von Zweig und seinem Werk beizutragen.

    Ich möchte mich bei mehreren Kollegen bedanken, die mich über viele Jahre hinweg eingeladen haben, um über vielfältige Aspekte des Themas „Stefan Zweig, Judentum und Zionismus" zu referieren, sei es im Rahmen wissenschaftlicher Tagungen oder sei es als separate Einzelvorträge: vor allem bei Vivian Liska (Antwerpen), Bernard Greiner (Tübingen), Klemens Renoldner (Salzburg), Thomas Eicher (Dortmund), Karl Müller (Salzburg), Ivan Marcus (New Haven), Stephan Resch (Auckland), und Carol Kahn Strauss (New York). Kapitel 15 (Übersetzung und Autobiographie: Die Welt von Gestern auf Französisch, Englisch und Hebräisch) stellt eine revidierte und wesentlich erweiterte Fassung eines Vortrags dar, den ich 2012 auf Englisch beim MLA-Kongress in Seattle gehalten habe. Ich danke Mary Bryden (Reading), die die Session über Autobiographie und Übersetzung organisiert und moderiert hat, für die Einladung und Gelegenheit, meine Gedanken darüber in diesem Rahmen zu präsentieren. Ich bedanke mich auch bei vielen Kollegen, die die Zeit gefunden haben, mit mir über diese Themen zu diskutieren oder die meine Fragen beantwortet haben, vor allem bei: Knut Beck, Randy Klawiter, Rainer Siegel, Gert Kerschbaumer, Donald Daviau, Klaus Zelewitz, Matjaž Birk, Jeffrey B. Berlin, Jacob Golomb, Dietmar Goltschnigg, Jeffrey L. Sammons, Ruth Klüger, Hans Otto Horch, Cathy Gelbin, Glenda Abramson, Friedrich Voit, Monica Tempian, Birger Vanwesenbeeck, Jasmin Sohnemann, Helmut und Heiner Scholz, Dominic Bitzer und Sabrina Gurski. Ich darf auch Personen und Kollegen, die bereits verstorben sind, nicht vergessen: besonders Sol Liptzin, Margarita Pazi, Kurt Maschler, Abrahão Koogan, Gerschon Shaked und Harry Zohn. Von Gesprächen und Briefwechseln mit ihnen habe ich unendlich viel gelernt, obwohl ich nicht immer mit ihnen oder mit ihren Ansichten zu Stefan Zweig einverstanden war.

    Ich bin auch für die Unterstützung, die mir in vielen Bibliotheken und Archiven zu Teil wurde, zu großem Dank verpflichtet: der National Library of Israel, dem Deutschen Literaturarchiv zu Marbach a. Neckar, dem Zentralen Zionistischen Archiv in Jerusalem sowie der Zweig-Sammlung in Salzburg (Hildemar Holl), dem Zweig-Archiv, SUNY-Fredonia (Gerda Morissey), dem London Nachlass (Sonja Dobbins) und Beinecke Library der Yale University (Christa Sammons). Den in Klammern angeführten Personen danke ich für ihre Gastfreundschaft, ihren Rat sowie archivalische und bibliographische Hilfestellungen. Eva und Ken Albermann in London erlaubten mir mehr als einmal, ihre Zweig-Sammlung in ihrem Privathaus intensiv zu studieren, wofür ihnen großer Dank gebührt.

    Für ihre technische und bibliographische Unterstützung sowie zahlreiche Korrekturvorschläge, wodurch das Manuskript verbessert wurde, danke ich Nina Wiedl, Julia Rammer-Gurevitch, Alana Sobelman, Manja Herrmann, Ulrich Tigges, Christiane Reves, Jody Gelber und vor allem Maria Gierlinger-Landa. Diese Studie hat aufgrund ihrer Korrekturen und unermüdlichen Bemühungen wesentlich gewonnen. Schließlich schulde ich Gerald Lamprecht (Graz) Dank für seine Unterstützung, Geduld und Ratschläge in Bezug auf die Veröffentlichung der Monographie im Studienverlag in Innsbruck.

    Mark H. Gelber

    1Donald Prater, Stefan Zweig. Das Leben eines Ungeduldigen. Frankfurt a. Main: 1984, S. 21. Die deutsche Fassung der ursprünglichen englischen Version, die 1972 unter dem Titel European of Yesterday in Oxford erschien, ist eine Übersetzung mit einigen Ergänzungen und Revidierungen. Dieses Zitat ist der ursprünglich englischen Formulierung treu.

    2Sarah Fraiman-Morris, Stefan Zweig’s ‚Untergang eines Herzens‘ as a Version of Tolstoy’s ‚Ivan Illych‘. In: Mark H. Gelber (Hg.), Stefan Zweig Reconsidered. New Perspectives on his Literary and Biographical Writings, Tübingen: 2007, S. 111.

    3Fraiman-Morris, ebenda.

    4Eva Reichmann, Übernationaler kosmopolitischer Europäer – die jüdischen Romanciers Lion Feuchtwanger, Georg Hermann, Joseph Roth, Jakob Wassermann, Franz Werfel und Arnold und Stefan Zweig. In: Daniel Hoffmann (Hg.), Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn, München, Wien, Zürich: 2002, S. 185.

    Kapitel 1

    Stefan Zweigs jüdisches Manifest und seine jüdische Sensibilität

    Die Tatsache, dass Stefan Zweig jüdischer Abstammung war, wird regelmäßig in der Sekundärliteratur erwähnt, jedoch meistens ohne weiteren Kommentar. Es lässt sich daraus schließen, dass dieses Faktum als unwichtig oder nebensächlich angesehen wird, angesichts seiner vielfältigen und viel wichtigeren literarischen, kulturellen und intellektuellen Tätigkeiten, die nichts mit dem Judentum zu tun haben. Darüber hinaus wird gemeinhin akzeptiert, dass Zweig sein ganzes Leben lang kein religiöser Mensch, dass er kein praktizierender Jude war. Daher habe das Judentum im Sinne einer Religion für seine Schriften und Karriere meist keine Rolle gespielt, obwohl es auch einige Ausnahmen von dieser Regel gibt. Beispielsweise verwies er ab und zu in Briefen auf Gott, sodass der Eindruck gelegentlich entsteht, dass er selbst an Gott glaubte. Aber er ging nur selten zum jüdischen Gottesdienst in eine Synagoge, obwohl davon auszugehen ist, dass er seine Bar Mizwa gefeiert hat.¹ Er hat dies um die Jahrhundertwende einmal so ausgedrückt, dass er dem „gelebten Judentum fernstehe.² Um religiöse Juden für seine Fiktionen überzeugend darzustellen, was er gelegentlich tat, brauchte er aber kein religiöser Mensch zu sein. Gelegentlich wird Zweig selbst zitiert, der nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten meinte, es wäre reiner Zufall gewesen, dass er als Jude geboren wurde bzw. dass sein „Judentum ihm nie anders, als eine akzidentelle Eigenschaft erschienen sei.³ Dies würde bedeuten, dass seine Eltern und Ahnen zwar Juden waren bzw. dass er in einer jüdischen Familie aufgewachsen war, aber dass dies dann keine tiefgreifende persönliche, kulturelle oder politische Bedeutung oder Auswirkung gehabt hätte, jenseits der bloß genetisch-biologischen oder wie man damals sagte, der rassischen. Wenn sein Judentum wirklich bloßer Zufall war, hätten die Nationalsozialisten einer naiven Meinung folgend vielleicht keinen Grund gehabt, ihn aus der deutschen Kulturwelt auszuschließen, da er und viele andere Beobachter zumindest am Anfang nicht wussten, wie ernst die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten und ihre logischen Konsequenzen waren. Sicherlich war die überwiegende Mehrzahl der Titel seiner deutschsprachigen Literaturproduktion und seiner Bestseller, die keine explizite Beziehung zum Judentum aufwiesen, für eine deutsche Leserschaft auch nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten in diesem Sinn noch konsumierbar. Nach diesem Denkschema wäre es verständlich gewesen, nur selbstbewusste oder öffentlich identifizierbare Juden zu verfolgen bzw. nur sie aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen. Dies erklärt die Verwirrung in den frühen dreißiger Jahren, als die deutschen Behörden den Namen Arnold Zweig mit Stefan Zweig verwechselten, da Arnold Zweig regelmäßig ausgesprochen jüdische Stellungnahmen und Meinungen veröffentlichte. Arnold Zweig war mit dem Judentum viel konsequenter assoziiert als Stefan Zweig.

    Während eine jüdische Abstammung die Grundlage für eine jüdische Identität bildet, ist sie in der Regel nicht ausreichend, ein solides Fundament für eine stabile jüdische Identität zu legen, besonders in nicht-jüdischen Gesellschaften, die Integration, Akkulturation oder Assimilation erlauben. In einem Interview mit David Ewen gestand Zweig 1931: „Although I do not come from a rigorously Jewish family, I have been vitally interested in Jewish problems all of my life, vitally aware of the Jewish blood that is in me ever since I have been conscious of it."⁴ Dieses Bekenntnis ist der Ausgangspunkt meiner These in diesem Kapitel.

    In der Tat ist Stefan Zweigs Verhältnis zum Judentum und zum Zionismus viel komplexer und differenzierter, als es die Stefan-Zweig-Forschung bisher verstanden hat. Mehrere kritische Beiträge über Zweig und das Judentum bzw. den Zionismus wurden über die Jahre veröffentlicht, und einige davon wurden von bedeutenden Denkern, Kritikern oder Zweig-Spezialisten verfasst: man denke dabei an Hannah Arendt, George Mosse, Sol Liptzin, Harry Zohn und Margarita Pazi,⁵ die sich mit verschiedenen Aspekten dieses Themas auseinandersetzten. Mosse behauptete zum Beispiel, dass Zweigs Judentum jenseits von Religion und Nationalismus zu finden wäre, etwa in seiner kulturellen Stellungnahme oder Orientierung („cultural stance"), die mit den Idealen des mitteleuropäischen Bildungsbürgertums verbunden sei.⁶ In ihrem Nachwort zum ersten Band der gesammelten Briefe Stefan Zweigs, die er zwischen 1897 und 1914 verfasst hat, behaupteten die Herausgeber Knut Beck, Jeffrey B. Berlin und Natascha Weschenbach-Feggeler, dass Stefan Zweig das Judentum im Grunde als ästhetisches Phänomen erfahren habe.⁷ Diese Aussage ist jedoch eine schlichte Vereinfachung eines sehr komplexen Gefüges von literarischen, kulturellen, politischen und nationalen Themen, die auch mit dem Judentum verbunden sind, und die für Zweig seit Anfang seiner schriftstellerischen Karriere von Bedeutung waren.

    Ich behaupte, dass Stefan Zweig eine jüdische Sensibilität hatte und, dass diese als ein wichtiges, ja sogar unentbehrliches Element seines Selbst sowie seiner schriftstellerischen Karriere zu verstehen ist. Sie untermauert einen Teil seiner literarischen Produktion und sein Selbstverständnis sowie seine persönlichen Beziehungen zu einem Großteil seiner Zeitgenossen. Der Terminus „Sensibilität hat eine lange Geschichte, die zurück ins 18. Jahrhundert reicht und an die englischen Dichter der „Sensibilität wie William Cowper, Thomas Gray und William Collins erinnert, sowie an Sense and Sensibility (1811), den bekannten Roman von Jane Austen.⁸ Obschon „Sensibilität mit dem deutschen Begriff der „Empfindsamkeit wohl viel gemeinsam hat, verwende ich „Sensibilität im spezifischen Sinne von einem empathischen Verständnis, von einem Wahrnehmungsvermögen und einer Kapazität für inniges Empfinden und emotioneller Solidarität. „Sensibilität hat auch mit einem tiefen Grundgefühl zu tun, das einfühlsame Wahrnehmungen ermöglicht. Nach Michel Foucault ist Sensibilität eine Struktur des menschlichen Erlebnisses, die Empfindungsfähigkeit und geistige Wahrnehmung aktualisieren kann.⁹ Infolgedessen besteht die Möglichkeit, dass sich neue Sensibilitäten im Laufe eines menschlichen Lebens entwickeln können. Zwar ist Zweigs jüdische Sensibilität im Vergleich zu anderen Sensibilitäten, die er zugleich innehat, nicht dominierend, sie fungiert eher als ein Begleitstück, d. h. als Komplement zu anderen Sensibilitäten wie zum Beispiel seiner ausgesprochenen europäischen Sensibilität. In einem Brief an Friderike Zweig, datiert vom 27. Oktober 1941, schrieb Stefan Zweig, dass sein „ganzes Denken und Betrachten … an europäische, ja sogar lateinische Mentalität gebunden" sei¹⁰ und diese Mentalität ist sicherlich mit einer gewissen Sensibilität verwandt. Im jüdischen Kontext ziehe ich das Wort und den Begriff Sensibilität vor, denn eine jüdische Mentalität verweist auf eine viel ausgedehntere Gedankenstruktur und ein solides Bewusstsein, das vielleicht auch auf tieferem und fundiertem jüdischen Wissen, das Zweig fehlte, basiert. Mein Argument ist, dass ein Teil seines Denkens und Betrachtens an seine jüdische Sensibilität gekoppelt ist, ohne dass dies ein Paradox darstellt.

    Verschiedene Sensibilitäten können gleichzeitig in einem Menschen existieren und im Fall Stefan Zweigs tragen sie dazu bei, unterschiedliche Aspekte seiner Literaturproduktion und diesbezüglicher Aktivitäten zu kontextualisieren und erklären. Ich benutze die Kategorie Sensibilität im Sinne eines empathischen Verständnisses und einer ausgeprägten Empfindsamkeit gegenüber jüdischen Angelegenheiten, einer Art emotionellen Bewusstseins sowie einer natürlichen Solidarität mit anderen Juden und einem Gefühl der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Diese Sensibilität hängt damit zusammen, dass Zweig sich die Jahre hindurch als Jude verstand, dass sein Judentum verschiedene Bedeutungen für ihn hatte. Er glaubte, dass sein Judentum unterschiedliche Ansichten und Stellungnahmen in verschiedenen Zusammenhängen ermöglichte. Diese Auffassung der Sensibilität als Kategorie ist vielleicht ähnlich oder nicht allzu weit von Zweigs eigenem Standpunkt entfernt, wenn er „vier Saiten seines Wesens in sich selbst identifiziert: „der Deutsche, der Jude, der Europäer, der weltbürgerliche Mensch.¹¹ Aber diese Formulierung revidierte er in Die Welt von Gestern, als er sich folgendermaßen darstellte: „als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist.¹² In ähnlicher Weise beobachtete Zweig Aspekte des Wesens von anderen, etwa drei verschiedene „Menschen oder wirksame Elemente in der „seelischen Formung von Joseph Roth: den russischen, den jüdischen und den österreichischen Menschen.¹³ Jeder einzelne erklärte für Zweig die unterschiedlichen Ausprägungen und Dimensionen von Roths Persönlichkeit und seinem inneren Wesen, sowie sein künstlerisches Schaffen und auch seine Karriere als Ganzes. Für Zweig schuldete Roth dem Judentum seine „kritische Klugheit und seine „milde Weisheit".¹⁴ Meine Auffassung betont im Gegensatz zu jener von Zweig die bewussten und aktiven Konsequenzen seiner jüdischer Sensibilität und nicht die angeblich vererbten und stereotyp jüdischen Eigenschaften, wie er sie bei Roth wahrnahm. Aber beide Auffassungen beinhalten eine Dimension der jüdischen Authentizität.

    Vor der Zeit des Nationalsozialismus hat Zweig sein Judentum in der Regel positiv oder als persönlichen Gewinn betrachtet, was sich nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten änderte, da ihn die Tatsache seines Judentums in eine Reihe von Schwierigkeiten brachte. Als rassischer Feind des Nationalsozialismus konnte Zweig nach der Machtergreifung seine Werke nicht mehr im Deutschen Reich veröffentlichen. Seine vielen literarischen und kulturellen Aktivitäten sowie seine Partnerschaften mit Kollegen in Nazideutschland mussten aufhören. Zweigs jüdische Sensibilität erklärt implizit bis zu einem gewissen Ausmaß viele unterschiedliche Aspekte seiner Schriften sowie seiner Karriere im Allgemeinen, wie zum Beispiel: die Darstellung vieler jüdischer Figuren in seiner Fiktion, wie Buchmendel, Salomonsohn in Untergang eines Herzens und Kekesfalva in Ungeduld des Herzens sowie Nebenfiguren wie die jüdische Mutter in Brennendes Geheimnis oder einen unbenannten jüdischen Dozenten, der zur Zielscheibe antisemitischer Äußerungen wird in Verwirrung der Gefühle oder Professor Silberstein im Roman-Fragment Clarissa. Darüber hinaus wird seine jüdische Sensibilität auch durch seine jüdischen Legenden untermauert, insbesondere Rahel rechtet mit Gott und Der begrabene Leuchter, sowie seine jüdische biblische Tragödie Jeremias oder die vielen jüdischen Abschnitte in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern. Die wichtigsten darunter sind wohl die Herzl-, „Jeremias"- und Freud-Passagen. Die vielen jüdischen Hinweise und Referenzen ziehen sich aber durch den ganzen Text. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Zweig auf eine sehr stilisierte Weise mit Freud im Londoner Exil eine ausführliche Diskussion gerade über die jüdische Tragik entfachte, wo doch auch viele andere Dimensionen der Beziehung hätten thematisiert werden können.

    Ich bin der Meinung, dass die Verortung einiger seiner Werke oder deren Teilabschnitte im Heiligen Land – wie Die Wanderung (1902), Jeremias (1917) und Der begrabene Leuchter (1936) – bzw. im jüdischen Osteuropa – wie Im Schnee (1901) oder Ungeduld des Herzens (1938) – mit Zweigs jüdischer Sensibilität zusammenhängt. Diese waren die räumlichen Zentren jüdischen Bewusstseins zu Lebzeiten Zweigs. Wenn Zweig beispielsweise als kritischer Leser Jakob Wassermanns, diesen 1912 als den authentischen, eingefleischten Juden betrachtete, und dessen Judentum als seine innere Substanz, „den Kern seines Wesens erkannte, sowie seine Werke als Spiegel der „elementaren Urkraft seiner jüdischen Weltvision verstand,¹⁵ oder auch wenn Zweig 1935 auf Kafkas Werke dergestalt reagierte, dass dieser „das Jüdisch-Geistige in der sublimsten Form repräsentiert"¹⁶, spiegeln seine Urteile einen klaren Ausdruck seiner jüdischen Sensibilität als kritischer Leser wider. Wenn er sich in einem Brief an seinen ehemaligen jungjüdischen Kommilitonen Marek Scherlag kritisch über dessen neue Gedichtsammlung (1913) äußerte, aber dann im nächsten Moment daran anknüpfend nuanciert über sein literarisches Verhältnis zu seinem eigenen Judentum reflektiert, ist dies auch als Aspekt seiner jüdischen Sensibilität zu verstehen. Zweig schrieb (seine Unterstreichungen):

    Absolut treu dem Judentum habe ich von Jahr zu Jahr eine stärkere Abneigung es logisch mir zu decretieren, alle Bücher die es erklären wollen („Vom Judentum" z. B. sind mir widerwärtig), ich verstehe es nur als Gefühlstatsache, als formlose, grenzlose und unabgrenzbare: ich spüre, dass wir jeder damit etwas anderes meinen und jeder nur das, was er davon ist. Deshalb nur deshalb möchte ich dies Thema auch nicht streifen, ich will mich nicht festlegen auf eine Meinung über das Judentum: manchmal flutets in mir und manchmal ebbt es zurück, jeder Mond kann das wandeln.¹⁷

    Der Ausdruck verschiedener Dimensionen seiner jüdischen Sensibilität in Briefen hängt in der Regel vom jeweiligen Rezipienten ab wie auch vom genauen Moment bzw. der Gelegenheit. Im oben zitierten Brief an Scherlag äußerte sich Zweig distanzierend über den Sammelband Vom Judentum. Ein Sammelbuch, der 1913 von Hans Kohn zusammen mit dem jüdisch-nationalen Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag herausgegeben worden war. Zweig selbst war aufgrund von Martin Bubers Vermittlung eingeladen worden, einen Beitrag zum Sammelband beizusteuern, lehnte dies aber ab. In diesem Moment und im Kontext eines Briefes an seinen jüdischen Freund beschrieb Zweig sein eigenes Judentum als „formlose Gefühlstatsache. In einem späteren Brief an Scherlag vom 22. Juli 1920 schrieb Zweig, dass „die Aufgabe des Jüdischen politisch darin bestand, den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern, um so die Bindung im reinsten Geiste herbeizuführen. Deshalb lehnte [er] den jüdischen Nationalismus ab.¹⁸ Die Tendenz, seinem Judentum eine geistige Rolle zu geben, war nicht einmalig oder untypisch für Zweig, obwohl er die Jahre hindurch unterschiedliche Tendenzen in Bezug auf die Rolle oder Funktion seines Judentums und des Judentums im Allgemeinen zeigte. Manchmal schien das Judentum Zweigs Auffassung nach eine ambitionierte Rolle in der europäischen Gesellschaft zu spielen, manchmal aber war seine Rolle stark reduziert oder persönlich begrenzt.

    Bei verschiedenen Gelegenheiten beschrieb Zweig sein Judentum auf unterschiedliche Weise. Beispielsweise sandte Zweig am 16. Februar 1925 eine Begrüßungsrede mit Begleitschreiben an den Wiener Zionisten Max Kiwe, um damit an den weltweiten Feiern zur Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem teilzuhaben. In diesem spezifischen Zusammenhang schrieb Zweig aus einer betont kulturzionistisch-freundlichen Perspektive, dass eine „jüdische Universität ein Anrecht […] dieser Nation des Geistes" sei.¹⁹ Soweit jüdisch-nationale Mentalitäten und Aktivitäten einen geistigen Gewinn zu versprechen schienen, bejahte Zweig sie in der Regel enthusiastisch. Wenn sie ihm jedoch als Ausdruck von „Hochmut und Absperrung"²⁰ erschienen, lehnte er sie entschieden ab.

    Zweigs jüdische Sensibilität ist normalerweise mit seinem Interesse für jüdische Kultur und dem Kulturzionismus im Allgemeinen verknüpft bzw. auch mit seiner Empfindsamkeit für die prekäre Lage der Juden in Europa zu Zeiten des zunehmenden Antisemitismus bzw. mit dem jüdischen Leid im Ersten und im Zweiten Weltkrieg insbesondere in Osteuropa, aber nicht nur. Zweigs Interesse am Jiddischen bildet einen Teil seiner jüdischen Sensibilität und reicht von Freundschaften mit jiddisch-schreibenden Autoren wie Schalom Asch bis zum Einschluss jiddischer Begriffe, die sich durch seine Briefe aber auch durch seine Werke ziehen. Das beste Beispiel dafür ist wohl Buchmendel, der zahlreiche jiddische Ausdrücke benutzt, die eine Ahnung der gesprochenen Sprache, d. h. des „singenden jüdischen Jargons"²¹ des Protagonisten vermitteln, ohne dass der Text versucht, die gesprochene Sprache des Jiddischen wortwörtlich wiederzugeben. Jiddische Begriffe wie „Sechel oder „Amhorez finden Verwendung. Sie fungieren in diesem Fall nicht abwertend, sondern tragen dazu bei, die stereotyp negativen Eigenschaften des Ostjuden, die auch Teil der Darstellung des „Titanen des Gedächtnisses", Jakob Mendel, sind, zu relativieren.²² Im Großen und Ganzen wird er als eine positive eigenartige Figur rezipiert, die wegen der Versäumnisse einer Gesellschaft, die einen Weltkrieg mit zahlreichen tragischen Konsequenzen für unschuldige Menschen führte, zugrunde ging und in Vergessenheit geriet.

    Ob Zweigs Freundschaften mit Juden und seine Beziehungen zu jüdischen Kollegen mit seinen Freundschaften und Assoziationen mit Nicht-Juden zu vergleichen sind, scheint mir ein nebensächlicher Aspekt, da Zweig sicherlich enge dauerhafte Freundschaften mit wichtigen nicht-jüdischen Schriftstellern und Kollegen pflegte, unter anderem mit Romain Rolland, Emile Verhaeren und Anton Kippenberg. Auch war er in erster Ehe mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet gewesen.²³ Seine jüdische Sensibilität kommt gelegentlich auch in Briefen an seine nicht-jüdischen Briefpartner zum Ausdruck, wie auch an seine jüdischen. Ob der Briefpartner jüdisch oder nicht-jüdisch war, scheint in diesem Zusammenhang nicht entscheidend gewesen zu sein. So schrieb Zweig in einem Brief an Richard Dehmel, den er einmal „das ganze deutsche Volk" genannt hatte (datiert vom 12. Juli 1919; es entspann sich daraus eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden über Deutschtum, Nationalität und Identität in Bezug auf den Ersten Weltkrieg):

    Was bin ich zum Beispiel? Deutscher, wenn wir zu Deutschland geschlossen werden, Deutschösterreicher wenn uns die Entente zu einer Selbstständigkeit[!] zwingt, Czechoslowake, weil mein Vater Deutschböhme ist und wir vielleicht morgen schon annectiert werden, Jude, wenn das Judentum hier zur Minderheitsnation umgezwungen wird.²⁴

    Die Tatsache, dass Zweig in diesem Brief die unterschiedlichen Möglichkeiten einer nationalen Identität für sich selbst in Betracht zieht, verweist meines Erachtens auf eine gewisse jüdische Sensibilität.

    Wenn Zweig gegen Ende seines Lebens im Exil empathisch über sein Leiden an Familienmitglieder oder an andere jüdische Exilanten, die sein Schicksal teilten, schrieb, kommt seine authentische jüdische Sensibilität besonders klar zum Ausdruck, beispielsweise in vielen seiner Briefe an Joseph Roth und Arnold Zweig oder auch in seinen Briefen an Felix Braun. Am 21. März 1938 gestand Zweig Felix Braun, dass er sich jetzt darauf beschränke „nur Juden zu helfen, denn denen hilft niemand", obwohl dieser Standpunkt, d. h. ausschließlich Juden zu unterstützen, ihm bisher widerlich gewesen war.²⁵ In einem anderen Brief an Braun, datiert vom 16. Oktober 1939 schrieb Zweig:

    Wir haben zuviel erlebt! […] das innere Gleichgewicht wird, besonders bei uns Juden, lebenslänglich gestört bleiben; wir sind lebendige Anomalien, in einer Sprache schreibend und denkend, die uns entzogen wird, in einem Land lebend und an dessen Schicksal gebunden, dem wir nicht ganz verbunden und in dem wir bloß geduldet sind, Juden ohne den religiösen Glauben und den Willen, Juden zu sein; […]²⁶

    Die jüdische Solidarität, die Zweig hier zum Ausdruck bringt, findet man auch in einigen seiner Reden oder späten kurzen Schriften, in denen er sich für gefährdete jüdische Kinder engagierte.²⁷

    Zweig drückte öfters in seinen Briefen eine Gruppenidentifikation mit Juden („uns Juden) aus, und engagierte sich für spezifisch jüdische Angelegenheiten, was keineswegs als eine Wendung oder als neue Entwicklung in seiner allgemeinen Orientierung gegenüber anderen Gruppierungen zu verstehen ist. Die jüdische Gruppenidentifikation ist dabei für ihn eine zusätzliche Identifikation unter mehreren, die kontextabhängig manchmal eine bedeutendere und manchmal eine unbedeutendere Rolle spielte. In diesem Sinn versuchte er mehr als einmal, einen Aufruf oder ein Manifest an die Juden in Deutschland und Österreich bzw. im Namen der mitteleuropäischen Juden zu organisieren. Diese seine Bemühungen sind als wichtiger Teil seiner jüdischen Sensibilität zu verstehen, besonders wenn sie sich in Taten konkretisierten. Diese Versuche und Aktivitäten Zweigs sind eher unbekannt in der Stefan-Zweig-Forschung. Am 18. Dezember 1918 ersuchte Zweig Martin Buber um einen Aufruf an die Juden in Deutschland und Österreich, damit sie „nicht vordrängen, nicht die Politik an sich reißen wollen.²⁸ Zweig sorgte sich um die Sichtbarkeit der Juden angesichts der gewaltvollen politischen Geschehnisse während und nach dem Ersten Weltkrieg, denn er war überzeugt, dass eine neue intensive antisemitische Welle leicht entstehen könnte, wenn einzelne Juden für gewisse politische Entwicklungen verantwortlich gemacht werden würden. Er war besorgt „um das Schicksal der jüdischen Nation". Wie Zweig präzisierte:

    Er soll nicht ein Manifest im nationaljüdischen, zionistischen Sinn sein, zunächst nur ein Appell zur Reserve, zur Achtung der deutschen und österreichischen Angelegenheiten […] einen Anruf zur Bescheidenheit […] Es ist mir entsetzlich zu sehen, wie Alles – Revolution, Rote Garde, Ministerien – von Juden gestürmt wird.²⁹

    Zweig meinte, dass sich Juden politisch wirksam engagieren könnten, aber nicht im Vordergrund, wegen der großen Gefahr einer Provokation des aufsteigenden Antisemitismus.

    Da Buber diese Bitte Zweigs ablehnte, schlug Zweig ihm vor, „ein Bekenntnis" der Juden mitten im Krieg zu Fragen betreffend Nationalität, Religion und Rasse durch eine Umfrage in Bubers kulturzionistischer Monatsschrift Der Jude zu veröffentlichen. Zweig hatte dieses Thema schon früher beim Erscheinen der ersten Nummer von Bubers Zeitschrift mit ihm brieflich besprochen, Buber hatte diesen Vorschlag jedoch auch damals abgelehnt. In einem Brief an Buber datiert vom 30. Dezember 1918 erklärte Zweig, in welcher Form eine Umfrage in Der Jude wichtige Stellungnahmen für die ihm am relevantesten erscheinenden Themen betreffend die mitteleuropäischen Juden Erkenntnisse bringen würde:

    In Form von Fragen: welche Nation man als die wesentliche für sich empfinde, die jüdische oder die deutsche. Ob man ein jüdisches Nationalreich für wesentlich erachte. Ob man selbst dorthin siedeln wolle. Ob man die jüdische Religion als Element der Rasse bewahrenswert erachte oder im Bekenntnis nicht den Gottesglauben, sondern die Rassenzugehörigkeit feststelle. Ob man an eine jüdische Kunst und Geistigkeit im gesonderten Sinne von der anderer Nationen glaube.³⁰

    Zweigs Bedürfnis und sein Wunsch, diese Bekenntnisse zu initiieren, zeigen, dass seine jüdische Sensibilität zu dieser Zeit wiederholt Fragen nach Nation, Religion, Zionismus, Rasse, Kunst und Geistigkeit als besondere jüdische Kategorien miteinbezog.

    Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wurde die Idee eines jüdischen Manifests für Zweig umso dringlicher. In einem Brief, datiert vom 7. Mai 1933, an Felix Salten, dem Ehrenpräsidenten und Vorsitzenden des Österreichischen PEN-Clubs, schrieb Zweig, dass er beabsichtige nicht am kommenden PEN-Treffen in Ragusa teilzunehmen, da er „jedes Auftreten und Vortreten jüdischdeutscher Schriftsteller auf Congressen jetzt für falsch" halte.³¹ Zweig war eher der Meinung, dass sich die „anderen" Schriftsteller, d. h. die nicht-jüdischen Kollegen, der Sache der jüdischen Schriftsteller annehmen sollten. Im selben Brief schlug Zweig Salten auch vor:

    Wir deutschen Schriftsteller jüdischer Rasse sollten jetzt gemeinsam ein Manifest verfassen, ein Manifest an die Deutschen und an die Welt, indem [!] wir nicht wehleidig über Unrecht klagen, nicht kleinmütig jammern, nicht gegen Deutschland sprechen, sondern einfach unsere Situation darstellen.³²

    Zweig erwähnte die Namen Franz Werfel, Richard Beer-Hofmann, Joseph Roth, Jakob Wassermann und Alfred Döblin als mögliche Mitunterzeichner eines solchen Manifests. Salten reagierte enthusiastisch auf Zweigs Idee („sie hat etwas Hinreißendes"), aber er bezweifelte, dass diese Idee realisiert werden könnte.³³ Zweig hatte auch Joseph Roth in einem Brief darüber berichtet und in dessen Reaktion, datiert vom 9. Mai 1933, äußerte sich Roth zwar grundsätzlich positiv, wollte aber auch noch einige Fragen dazu stellen.³⁴

    Stefan Zweigs Idee eines jüdischen Manifests nahm erst zwei Jahre später konkretere Formen an. In einem Brief an Max Brod, undatiert aber vermutlich Mitte oder Ende August 1935 verfasst, informierte Zweig Brod darüber, dass in die Sache des Manifests langsam aber doch Bewegung käme. Zweig sandte Brod vertraulichst als Anhang seine Skizze, eigentlich eine erste oder frühe Fassung eines Protestschreibens, damit Brod seine „Einwände oder Beifügungen dazu „baldigst zurücksenden könnte.³⁵ Da Zweigs Formulierungen weder damals noch später in einer revidierten Fassung erschienen sind, und auch da sie bis jetzt kaum in der Zweig-Forschung wahrgenommen oder kommentiert wurden, gebe ich den vollen Text an dieser Stelle wieder:

    Einige Grundlagen zu einem kollektiv auszuarbeitenden Manifest.

    Wenn wir mit einer gemeinsamen Erklärung vor die Welt treten, so sei es nicht unsere Absicht, Mitleid zu fordern: es ist zuviel anderes Leiden in unserer Zeit, als dass wir einen Vorrang beanspruchten. Ebensowenig ist es unsere Absicht, zum Hass aufzurufen und Gericht zu fordern: es ist genug Hass in der Welt. Wir wollen nichts als klar unsere Stellung zu den Geschehnissen der letzten Zeit bekunden und gegen den systematischen Versuch, uns zu entrechten und zu entehren, der jemals gegen ein Volk unternommen wurde, unser Wort erheben.

    Es ist in Deutschland unternommen worden, im Namen einer Rassenideologie, welche weder von der Wissenschaft noch von der Moral der übrigen Welt anerkannt wird, uns durch organisierten Hass und offizielle Verfolgung aus einer mehr als tausendjährigen Verbundenheit loszulösen und zu einer Rasse oder Nation minderer Art zu erniedrigen. Man hat Gesetze geschaffen, um Rechte zu nehmen, die als Menschrechte in unserer zivilisierten Welt sonst unantastbar und unablösbar gelten, man hat autoritäre Bürger, die seit hunderten Jahren dem Lande verbunden gelebt, als lästige Gäste erklärt. Wir erklären nun, dass wir niemals eine solche Minderung unserer Menschenrechte auch in der äussersten Wehrlosigkeit und Bedrängnis als giltig anerkennen werden, weil wir unbeugsam der Überzeugung sind, dass Gott die Menschen nicht geteilt habe in obere und untere Rassen, in Herrenvölker und Sklavenvölker, Edelinge und Parias, sondern sie alle nach seinem Ebenbilde geschaffen. Wir glauben, dass weit über unser persönliches Schicksal hinaus eine solche prinzipielle Proklamierung der ethischen Überlegenheit eines Volkes über die andern unweigerlich zu Erbitterungen und kriegerischen Spannungen führen müsste und die friedliche Einheit unserer Welt vernichten. Deshalb verwerfen wir jeden Rassendünkel nicht nur als eine uns persönlich feindselig gemeinte Gesinnung, sondern als eine der Wahrheit widersprechende und der ganzen Welt gefährliche Ideologie.

    Wenn wir so mit aller Entschlossenheit jeden Versuch, uns oder irgend eine Rasse oder Nation der Erde als eine untergeordnete und parasitäre zu bezeichnen als verhängnisvolle Überheblichkeit ablehnen, erklären wir aber gleichzeitig, dass wir durch keine der Methoden, die jetzt gegen uns im Sinne solcher Erniedrigung versucht werden, uns entehrt fühlen. Nicht für uns empfinden wir es beschämend, wenn Frauen mit abgeschorenem Haar durch die Strassen geschleppt werden, weil sie einem Freunde die Treue gehalten, wenn … etc. [am Rand: mehr Beispiele] und ein aufgepöbelter Hass nicht einmal Halt macht vor den heiligen Leichensteinen der Toten; Erniedrigungen dieser Art sind unserer Meinung nach nicht schandbar für denjenigen, der sie erleidet, sondern für denjenigen, der sie vollbringt. Aber was auch geschehen ist und noch geschehen mag, es kann unsere Ehre nicht berühren. Ein Volk, das der Welt das heiligste und kostbarste Buch aller Zeiten gegeben, auf dessen religiöse Lehre die ganze Sittlichkeit unseres Erdkreises aufgebaut ist, braucht sich nicht zu verteidigen, wenn es als inferior erklärt wird [,] und hat nicht Not, sich selbst zu rühmen der unablässigen Leistungen auf allen Gebieten der Kunst, der Wissenschaft, der denkerischen Taten: sie sind eingeschrieben, unauslöschbar in der Geschichte jedes Landes, in dem wir Heimstatt hatten. Und wäre im Raume der deutschen Wissenschaft unter tausend Taten von jüdischen Gelehrten keine andere geleistet worden als die eine Tat Ehrlichs allein, welche die grausamste Geissel der Menschheit, die Syphilis [,] beseitigte und Millionen in Deutschland und [in der] Welt zum Segen ward, wir hätten allein schon alle Fehler und Verstösse entgolten, die der Hass uns heute zuschreibt.

    Wir verwerfen also ohne Erregtheit, aber mit aller denkbaren Entschlossenheit den organisierten Versuch unserer Volkentehrung, wie er heute von den Rassenideologen unternommen wird und sind bereit, lieber unterzugehen, ehe diesen Wahn als eine Wahrheit anzuerkennen. Dies soll aber keineswegs besagen, dass wir uns blind stellen gegen das Vorhandensein der sozialen Tatsache eines jüdischen Problems, das durch den Krieg und die Krise ebenso wie alle andern sozialen und nationalen Probleme eine gesteigerte Schärfe angenommen

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