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Falsche Wiederkehr der Religion: Zur Konjunktur des Fundamentalismus
Falsche Wiederkehr der Religion: Zur Konjunktur des Fundamentalismus
Falsche Wiederkehr der Religion: Zur Konjunktur des Fundamentalismus
eBook383 Seiten4 Stunden

Falsche Wiederkehr der Religion: Zur Konjunktur des Fundamentalismus

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Über dieses E-Book

Der religiöse Fundamentalismus und Fanatismus mit seinem Übermaß an Grauen, Absurdität und Destruktion ist auch und bewusst nach Europa zurückgekehrt.

Was sind die Ursachen dieses "hässlichen Phänomens", wie kann ihm begegnet werden?

Nach einem Blick auf die historischen Wurzeln und Definitionsversuchen fragt René Buchholz, welche Rolle der Einzelne als Träger des modernen religiösen Bewusstseins hierbei spielt. Daran anschließend beleuchtet er zwei Formen "infantiler Religion": den "lächelnden" Fundamentalismus kulturindustrieller Event-Religiosität wie andererseits den "grimmigen" als Lust an der Unterwerfung.

Ein eigenes Kapitel widmet sich der Frage, ob nicht auch der moderne Begriff des Glaubens mit seiner "Entscheidungsemphase" eine Affinität zum Fundamentalismus hat. Abschließend stellt er eine mögliche Alternative zu einem von religiöser Autorität diktierten Verhalten vor: eine "Religion für Erwachsene", die vor allem auch den Zweifel zulässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEchter Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2017
ISBN9783429063375
Falsche Wiederkehr der Religion: Zur Konjunktur des Fundamentalismus

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    Buchvorschau

    Falsche Wiederkehr der Religion - René Buchholz

    KAPITEL 1

    Der strittige Kontext des Themas: postreligiöse oder postsäkulare Gesellschaften?

    a) Antiquiertheit der Säkularisierungsthese?

    Nicht nur Theologen sprechen angesichts des wachsenden Interesses an religiöser Symbolisierung der Wirklichkeit von einer ‚Wiederkehr der Religion‘, ³⁷ so dass Max Webers berühmte These einer fortschreitenden Säkularisierung und Entzauberung der modernen Gesellschaft eine Fehldiagnose sei. Für die Vereinigten Staaten mochte die Säkularisierungsthese im Sinne einer schwindenden Relevanz und Plausibilität religiöser Symbolisierung ohnehin nur eingeschränkt gelten, und in jüngerer Zeit scheint die Bedeutung der Religion eher zu wachsen : „Zu Beginn der neunziger Jahre, fasst Michael Hochgeschwender die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zusammen, „behaupteten zwischen 90 und 95 Prozent aller Amerikaner, sie seien religiös; ein erheblicher Anteil von ihnen besuchte wöchentlich oder mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst, und rund 70 Prozent erklärten, sie seien keinesfalls bereit, einem atheistischen Präsidentschaftskandidaten ihre Stimme zu geben. ³⁸ Neuere Untersuchungen weisen auf eine ungebrochen starke Rolle der Religion in den USA hin, die sich nicht auf die evangelischen Denominationen beschränkt. Charismatische geistliche Erneuerungsbewegungen gewinnen auch in der katholischen Kirche eine größere Bedeutung. Einer Meldung von Kath.net zufolge haben sich in den Vereinigten Staaten Gruppen ‚evangelikaler Katholiken‘ etabliert, die ihre Aufgabe vor allem darin sehen, „nicht praktizierende Katholiken zu evangelisieren" und gemeinsam mit protestantischen Evangelikalen Menschen zu erreichen, die ohne Jesus leben. ³⁹ Weltweit wächst der Anteil von Menschen, die sich einer Religion enger verbunden fühlen, erheblich. Allein Christentum und Islam repräsentieren zusammen derzeit 48,8 Prozent der Weltbevölkerung mit steigender Tendenz. Die Zahl der Anhänger charismatischer Bewegungen betrug im Jahr 1970 etwa 62,7 Millionen Menschen, im Jahr 2020 werden es nach aktuellen Schätzungen 709,8 Millionen sein. ⁴⁰

    Sicherlich wird man solche Meldungen mit Vorsicht rezipieren müssen. Genauer zu untersuchen ist die Rolle, welche religiöse Traditionen in den unterschiedlichen Regionen, Kulturen, Gesellschaften und sozialen Schichten spielen. Welchen Einfluss haben heute Bildung und Wohlstand auf das religiöse Bewusstsein und die Formen, in welcher Religion gelebt wird? Zu klären wäre auch, in welchem Maße die unterschiedlichen Gesellschaften einen Prozess der Säkularisierung durchlaufen haben und welche Auswirkungen er auf die jeweiligen sozialen Gruppen hatte. Das alles konzediert, bleibt aber in Geltung, dass Religion sich einer weitaus größeren Akzeptanz erfreut, als es eine bestimmte Lesart der Säkularisierungsthese prognostizierte. Die verbreitete Annahme eines geradezu notwendig eintretenden Niedergangs der Religion in den ‚entzauberten‘ säkularen modernen Gesellschaften lässt sich so wohl kaum halten.⁴¹

    Mit leichtem Aufatmen ist die Wiederkehr der Religion von einer These für viele Zeitdiagnostiker zur Gewissheit geworden, wobei es keine große Rolle spielt, was genau da wiederkehrt.⁴² Die Säkularisierung, versichert Hartmut Lehmann, sei „nur ein Zwischenspiel in der europäischen Geschichte … und nicht von Dauer"⁴³. Die hier ausgedrückte Haltung beschreiben Detlef Pollack und Gergely Rosta in ihrer Studie Religion in der Moderne folgendermaßen:

    „Von Säkularisierung wollen gegenwärtig allerdings nur noch wenige sprechen. Konfrontiert mit den klaren Zeichen einer die letzten zwei Jahrhunderte umfassenden rechtlichen Deprivilegierung des Christentums in den USA, würden die meisten Religions- und Sozialwissenschaftler heute wohl nach Gegenbeispielen Ausschau halten und versuchen, vielleicht durch Verweis auf die Zunahme des Kirchenmitgliederbestands seit der amerikanischen Revolution, auf die geistlichen Impulse der Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, auf den politischen Erfolg der Moral Majority oder auch auf die hohe mediale Präsenz charismatischer Fernsehprediger, die Meistererzählung vom Bedeutungsrückgang der Religion in der Moderne zu erschüttern. Die Infragestellung der Säkularisierungstheorie ist zu einer beliebten rhetorischen Übung geworden, und viele beziehen sich auf sie nur noch wie auf einen toten Hund (…)."⁴⁴

    Das Phänomen einer radikalen Säkularisierung, d. h. einer funktionalen Ausdifferenzierung eigener Bereiche der Gesellschaft und die (auch normativ gewendete) Emanzipation von religiösen und traditionellen Vorgaben im Zeichen der Freiheit reiche kaum über Europa hinaus und könne nicht als immanentes Telos weltgeschichtlicher Entwicklungen angesehen werden.

    „Je stärker man eine globale Perspektive einnimmt, schreibt José Casanova, „desto klarer wird, dass die drastische Säkularisierung der westeuropäischen Gesellschaften eher ein Ausnahmephänomen darstellt, das wenige Parallelen jenseits europäischer Einwanderungsgesellschaft wie in Neuseeland, Quebec oder Uruguay findet. Ein derartiges Ausnahmephänomen verlangt daher nach einer spezielleren historischen Erklärung. Der Zusammenbruch der Plausibilitätsstrukturen des europäischen Christentums ist so außergewöhnlich, dass wir dafür eine bessere Erklärung als den bloßen Verweis auf allgemeine Modernisierungsprozesse benötigen. Das Festhalten am hergebrachten Säkularisierungstheorem dagegen bestärkt moderne säkulare Europäer und die Kosmopoliten der Welt, Religionssoziologen unter ihnen, in der Sichtweise, dass dieser Zusammenbruch natürlich, zielgerichtet und gleichsam schicksalhaft gewesen wäre.⁴⁵

    Damit ist in knapper Form eine scharfe Kritik an dem angeblich dem Eurozentrismus verhafteten „hergebrachten Säkularisierungstheorem" formuliert worden. Sie vermag in dieser Zuspitzung allerdings nur dann zu überzeugen, wenn

    (1) im gesamteuropäischen Kontext die ‚christlichen Plausibilitätsstrukturen‘ gänzlich kollabierten und das Christentum nur noch eine marginale Größe darstellt, die europäischen Gesellschaften also den Idealtypus einer Säkularisierung als Ende der Religion darstellen;

    (2) die Säkularisierungsthese stets mit der (problematischen) Voraussetzung verknüpft ist, dass sich dieser Prozess mit unabwendbarer Notwendigkeit sowohl in Europa als auch in allen anderen Teilen der Welt vollzieht und

    (3) vergleichbare Prozesse in Asien, Afrika, Nord- und Lateinamerika in keiner Weise beobachtet werden können, so dass Religion dort ungebrochen fortexistiert.

    Aber keine dieser Bedingungen ist hinreichend erfüllt:

    (1) Das Christentum existiert selbst in europäischen Gesellschaften mit einer stark betonten Entflechtung von Staat und Religion (wie etwa in Frankreich) weiterhin, wenn auch ‚postkonstantinisch‘ nicht mehr als einzig maßgebliches Referenzsystem. Es erwies sich nicht nur als liquidationsresistent, sondern auch als reformfähig, ja es vermochte gegen die Widersprüche und Kostenseite der Moderne kritische und subversive Elemente der eigenen – keineswegs starr konservierten – Tradition zu mobilisieren.⁴⁶

    (2) Der differenziert ablaufende Prozess der Säkularisierung bedeutet, wie wir noch sehen werden, keineswegs notwendig das allmähliche Verschwinden der Religionen, ihrer Deutungen und Institutionen, sondern kann sehr wohl mit einer – wenn auch spannungsreichen – Koexistenz von Religion und säkularer Gesellschaft einhergehen.⁴⁷ Die nicht nur von orthodox-marxistischer Seite vertretene These vom Absterben der Religion beruht auf einem problematischen Religionsbegriff, einem Wunschdenken und auf der vorschnellen Verallgemeinerung einer historischen Situation, in der die religiösen Deutungen gegenüber dem Stand von Wissenschaft und Gesellschaft in die Defensive geraten waren, wie es für das 18., 19. und – bereits eingeschränkt – frühe 20. Jahrhundert zutrifft.

    (3) Teile der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Gesellschaften durchliefen bis in die 1970er Jahre hinein – wenn auch keineswegs mit gleicher Ausprägung, gleichem Tempo und Erfolg – einen Modernisierungsprozess, der manchen urbanen Räumen bis in den Alltag hinein sogar westliche Züge (mit ‚exotischem Dekor‘) verlieh. Damit verbanden sich auch Ansätze einer Entflechtung von Religion, Staat und Kultur, wie sie den Prozess der Säkularisierung charakterisiert, ohne dass überall die religiöse und kulturelle Überlieferung im Niedergang begriffen oder – wie etwa im China der Kulturrevolution – unterdrückt worden wäre. Befreiungsbewegungen – und zwar nicht nur marxistisch orientierte – bedienten sich im Zuge der Entkolonialisierung oft Deutungsmustern, die in hohem Maße der europäischen Aufklärungstradition entstammten. Die erhoffte Freiheit blieb freilich meist aus; es entstanden neue Abhängigkeiten, darunter auch jene von einem Weltmarkt, der sich weitgehend von religiösen und kulturellen Besonderheiten und Normen emanzipierte. In Nordamerika wuchs zwar seit Ende der 1960er Jahre der Einfluss vor allem fundamentalistischer Gruppen, dennoch zeigt die Studie von Pollack und Rosta auch hier einen weitaus differenzierteren Befund, der Zweifel weckt, ob die Vereinigten Staaten pauschal als „Kontrastmodell zu Europa" dienen können.⁴⁸

    So vollzog sich bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Modernisierung und mit ihr eine Entflechtung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche zwar weltweit, aber keineswegs homogen. Der fragwürdigen These, dass die Säkularisierung streng gesetzmäßig verläuft und stets mit dem Niedergang der Religion verbunden ist, steht die nicht minder problematische ‚Ausnahmehypothese‘ gegenüber, und auch José Casanova plädiert – trotz erheblicher Vorbehalte – nicht für eine gänzliche Verabschiedung der Säkularisierungsthese; sie ist nämlich brauchbar

    „nicht nur als eine Möglichkeit, die Transformationen der modernen europäischen Gesellschaften analytisch nachzuvollziehen, sondern gleichermaßen als analytischer Rahmen für die Agenda einer vergleichenden Forschung, die darauf abzielt, den geschichtlichen Wandel aller Weltreligionen und Kulturen unter den Bedingungen moderner struktureller Ausdifferenzierung zu untersuchen, solange das Ergebnis dieses Wandels nicht von der Theorie vorweggenommen wird und solange nicht jegliche Entsäkularisierung oder jegliche religiöse Veränderung, die nicht dem vorgegebenen Modell entspricht, als religiöser Fundamentalismus abgestempelt wird"⁴⁹.

    Mit Recht verbindet Casanova das Phänomen des Fundamentalismus mit dem Säkularisierungs- und Modernisierungsprozess, wobei Autoren wie Almond, Appleby und Sivan den Fundamentalismus stärker auf die Furcht vor einer Marginalisierung von Religion in der Moderne zurückführen.⁵⁰ Allerdings wird aus fundamentalistischer Sicht Religion immer dann marginalisiert, wenn sie keine dominante Rolle (mehr) spielt, d. h. keine Definitionshoheit über alle Bereiche des Lebens besitzt und andere Geltungsansprüche neben den eigenen dulden muss. Damit ist aber nur ein eher konservatives Motiv benannt; die große Faszination, die fundamentalistische Bewegungen und Programme nicht nur auf ‚bildungsferne‘ Teile der Bevölkerung in nahezu allen Kontinenten ausüben, dürfte zu einem großen Teil auch den Enttäuschungen entspringen, welche die unerfüllten Erwartungen an die Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse erzeugten. Man möchte auch aus diesem Grund zurück zu den Traditionen und normativen Anfängen, die aber eher Produkte der Sehnsucht sind, als dass sie sich religions- und kulturhistorisch verifizieren ließen. Zu den Quellen solcher Enttäuschungen zählt – neben den unter säkularem Vorzeichen ihre Herrschaft ausübenden autoritären Regimes, die sich während des Kalten Krieges der Protektion durch eine der beiden konkurrierenden Mächte erfreuten – nicht zuletzt der allen politischen und ethischen Normen entgleitende Weltmarkt, an dem alle – und sei es contre cœur – partizipieren, von dem aber nicht alle gleichermaßen profitieren. Religionen und Traditionen übernehmen Aufgaben der ideellen, emotionalen, zuweilen auch notdürftig sozialen Kompensationen oder sorgen für ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Kohäsion angesichts der zentrifugalen Kräfte des Marktes. Der Fundamentalismus wäre dann nicht einfach der rückwärtsgewandte Gegenpart der Moderne, sondern gehörte zu ihrer Dialektik. Wer, wie Casanova, von „multiplen Modernen" spricht,⁵¹ analysiert zwar die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Tradition und Modernisierung in ihren Kontexten, übersieht jedoch, dass das Regelwerk der internationalen Märkte von den Kulturen und Religionen weitgehend unabhängig ist.

    Gerade die Ökonomie hat sich zusammen mit den Naturwissenschaften in stärkstem Maße von traditionellen Vorgaben befreit, und nur Regionen, die diesen Prozess ebenfalls durchlaufen, haben wenigstens geringe Chancen auf dem Weltmarkt mit seinen ungleich verteilten Zugängen, Ressourcen (Nahrung, Wasser, Rohstoffe, Land, Information, Bildung, Technik) und Wohltaten. Die Unabhängigkeit der Wirtschaft von den kulturellen Traditionen ist so groß, dass sie nunmehr diese in ihren Dienst nehmen kann, indem sie sie als exotisches Produkt verkauft oder zur Disziplinierung und Optimierung der Arbeitskraft nutzt (es bedarf also keineswegs überall der protestantischen Arbeitsethik). Ob der Geltungsanspruch von Religionen und Traditionen plausibel ist oder nicht, kann ökonomischen Entscheidungsträgern völlig gleichgültig sein; man kann sich ‚liberal‘ geben. Soweit sie nützlich sind, sollten sie in modifizierter Form erhalten bleiben, wo sie ökonomischen Interessen im Wege stehen, sind sie als Standortnachteil zu beseitigen. Die Reden von den „multiplen Modernen verdeckt die ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Regeln und Machtspiele, die es überhaupt erlauben, von ‚der‘ Moderne in der Vielzahl ihrer Gestalten zu reden. José Casanova führt selbst einige jener Faktoren auf, die es gestatten, von ‚der‘ Moderne zu sprechen, und die wir unten noch genauer untersuchen werden, erwähnt aber die modernen Märkte nicht – oder doch nur indirekt, wenn er die „berufliche Askese als Teil der Arbeitsethik nennt.⁵² Die Konzentration auf die religiösen und kulturellen Phänomene hingegen dekontextualisiert sie in dem Sinne, dass ihre weltweiten wirtschaftlichen Vernetzungen und Abhängigkeiten aus dem Blick geraten. So kreiert der neuerdings erhobene vornehme Ton in der Religionssoziologie, demgemäß die Säkularisierungsthese überflüssig, oberflächlich und eurozentrisch sei, nur eine „neue Meistererzählung", deren empirische Basis mitsamt ihrer Methodologie nicht über jede Kritik erhaben ist.⁵³

    Mithin wird man zögern, Webers Säkularisierungs- oder Entzauberungsthese als erledigt zu betrachten,⁵⁴ zumal sie komplexer ist, als heutige Kritiker und manche hartnäckigen Anhänger es oft darstellen. Der Säkularisierung entkommt man auch theologisch nicht dadurch, dass man sie leugnet oder das eigene Zeitalter umdefiniert und ‚postsäkular‘ nennt. Nicht Bewusstseinsformen, sondern die Analyse funktionaler Differenzierungen war es, die Weber zur Formulierung seiner These führte, die in neueren soziologischen Ansätzen modifiziert aufgenommen wurde.⁵⁵ Mit George Augustin und Pollack/Rosta wäre von der Notwendigkeit einer Modifikation oder Differenzierung der Säkularisierungs- bzw. Modernisierungsthese im Sinne einer „multi-paradigmatischen Theorie" zu sprechen,⁵⁶ denn immerhin gab und gibt es eine Reihe von Faktoren, auf die Webers These sich stützte und die in den okzidentalen Gesellschaften (und nicht nur dort) bis heute wirksam sind: Politik, Ökonomie und Kultur emanzipieren sich in den westeuropäischen Ländern von religiösen wie theologischen Vorgaben und bilden eine eigene Dynamik aus; die Wissenschaften bieten eine sehr erfolgreiche immanente Erklärung der Vorgänge in der Natur, die auf göttliche Interventionen verzichten kann; die personale Herrschaft in den vorneuzeitlichen Gesellschaften wird abgelöst von einer funktionalen, anonymisierten Form der Herrschaft, die zu ihrer Legitimation einer transzendenten Instanz nicht bedarf; der moderne Kapitalismus schließlich erobert mit seinem a-personalen Regelsystem alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens jenseits der Religion mit ihren Geltungsansprüchen und lebensweltlichen Plausibilitäten.

    „Mit der Profanisierung der bürgerlichen Kultur treten die kulturellen Wertsphären scharf auseinander und entwickeln sich nach Maßgabe eines geltungsspezifischen Eigensinns."⁵⁷ So trifft der simple Gegensatz von Religion einerseits und Entzauberung der Wirklichkeit in der Moderne andererseits auf Webers religionssoziologische und religionshistorische Arbeiten nicht zu. „Weber, konstatiert zutreffend Jürgen Habermas, „mißt die Rationalisierung von Weltbildern am Grad der Überwindung magischen Denkens.⁵⁸ Dieser Prozess beginnt aber nicht erst in der Moderne, sondern kennzeichnet die religionsgeschichtliche Entwicklung. Er schlägt sich nieder nicht zuletzt in den biblischen Schriften, in der „rationalen Systematisierung der Ethik", die in der prophetischen Verkündigung und der Ausgestaltung der Thora eine zentrale Rolle einnimmt.⁵⁹ Die heiligen Texte sind nicht für einen auserwählten Rest bestimmt, sondern wenden sich an alle Menschen in Israel, haben also exoterischen Charakter.⁶⁰ Vor allem der hohe ethische Anspruch der Propheten, der nicht durch den Hinweis auf den Kult und die Einwohnung Gottes im Tempel abgefertigt werden kann, sowie die zunehmende Distanz zu aller Magie und Zauberei kennzeichnet für Weber die biblische Religion als ‚rational‘. Aber erst im okzidentalen Kontext bildet sich eine soziale Schicht heraus, die zum Träger der Rationalisierung in Wirtschaft, Politik, Recht und Kultur wird. Mit der „Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart"⁶¹ nimmt die Emanzipation aller gesellschaftlichen Bereiche aus der religiösen Vormundschaft historisch wahrnehmbare Konturen an. Man kann Webers umfangreiche religionssoziologische Schriften als Antwortversuche auf eine zentrale Frage lesen: Weshalb lenkten nicht in anderen Regionen der Welt „weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind?"⁶²

    Die Soziologie befasst sich weder mit dem isolierten Wandel von religiösen oder philosophischen Weltdeutungen noch allein mit den Innovationen im Bereich von Technik und Ökonomie. Alle diese Wandlungen müssen bezogen werden auf Gruppen, die zu ihrem sozialen Träger werden, denn ohne sie bleiben die noch so großartigen Erfindungen und Ideen folgenlos. Für die islamisch wie christlich geprägten mediterranen Gesellschaften zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert lässt sich nach dem Befund Shlomo Dov Goiteins eine urbane Schicht von Kaufleuten und Gelehrten ausmachen, die zum Träger städtischer Emanzipation hätten werden können,⁶³ und auch im islamischen Bereich gewann eine gelehrte urbane Schicht, die allerdings mit der höfischen Kultur eng verbunden war, schon im 9. und 10. Jahrhundert an Bedeutung.⁶⁴ Trotzdem etablierte sich nur in Europa ein selbstbewusstes Bürgertum, das seine Unabhängigkeit von den feudalen Herrschaftsverhältnissen erstritt; ein Befund, dessen Klärung weiterer Forschungsarbeit bedarf und nicht vorschnell auf die religiösen Traditionen oder eine essentialisierte ‚orientalische Kultur‘ zurückgeführt werden darf. Ein solches Vorgehen leistete nur dem Vorschub, was Edward Said die „Orientalisierung des Orients" nannte und als genaues Spiegelbild im Islamismus die ‚Selbstorientalisierung des Orients‘ hat.⁶⁵

    Nach Max Weber gebrach es auch China und Indien nicht an Innovationen; sie waren in mancher Hinsicht sogar dem Okzident voraus, wohl aber fehlte das ‚gesellschaftliche Subjekt‘, das diese Erfindungen einer umfassenden Transformation der Gesellschaft zuführte. Im städtischen Bürgertum, das sich zunehmend von den feudalen Fesseln befreit, erblickte Weber das Subjekt der okzidentalen Rationalisierung und „Säkularisierung, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. „Säkularisierung – Weber gebraucht den Begriff sparsamer als seine heutigen Rezipienten – meint nicht notwendig das Verschwinden der Religion. Sie verliert jedoch ihre Verbindlichkeit für alle Gruppen der Gesellschaft und bildet in der Moderne nur noch ein Teilsystem neben anderen; man spricht von der ‚Apartheid des Religiösen‘⁶⁶. Eben dies wird im Fundamentalismus als Bruch mit der Überlieferung gewertet und abgelehnt. Handel und Geldwirtschaft verlangten intellektuell besser ausgebildete und versiertere Arbeitskräfte als die Agrarwirtschaft. Alphabetisierung, mathematische Grundkenntnisse, unternehmerisches Kalkül, Sorgfalt der Buchführung – dies alles waren Kompetenzen, die zwar nicht neu entdeckt werden mussten, aber sie erhielten einen veränderten Wert in der sich entwickelnden Tauschwirtschaft. Quantitativ wie qualitativ wachsende Bedürfnisse erforderten zudem neue Techniken der Produktion und einen optimierten Warenverkehr. Die fortschreitende Entfaltung von Recht, Wissenschaft, und Kunst entsprach einer sich differenzierenden Gesellschaft, in der schließlich die unterschiedlichen Bereiche einen Eigensinn entfalteten, der sich von der institutionalisierten Religion emanzipierte, ohne diese prinzipiell in Frage zu stellen.

    Eben dies änderte sich in der Frühen Neuzeit. Die Naturwissenschaften wurden als Voraussetzung für die effiziente Indienstnahme der Naturkräfte durch den Menschen begriffen. Ihre Resultate gerieten aber mehr und mehr in Spannung zu einem wörtlichen Verständnis der Hl. Schrift und dem Anspruch überlieferter Autoritäten. Die Ausdifferenzierung der Bereiche – Naturwissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Politik, Kunst und Religion – folgte nicht einfach nur einer systemischen Logik, sondern verband sich mit einem normativen Anspruch, mit Ethos und Pathos. Denn die gesellschaftlichen Erscheinungen sollten nicht blind über die Menschen hinweggehen, sondern von ihnen durchschaut und gesteuert werden. Die Erkenntnis der Wahrheit und die Realisierung der Freiheit waren eng verbundene Elemente dieses Prozesses, der vor der Religion nicht Halt machte.

    b) Wissenschaft, Emanzipation und Religion

    Die Reformation hatte bereits im 16. Jahrhundert die kirchliche, d. h. lehramtliche Tradition unter Hinweis auf die Hl. Schrift einer Prüfung unterzogen und in ihrer Geltung relativiert. Der Rekurs auf die Schrift führte aber auch zu einer kritischen Lektüre eben jener norma normans non normata und erwies sie als das Ergebnis einer längeren historischen Entwicklung. Indem Baruch Spinoza in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die das Gotteswort übermittelnde Autorschaft des Mose für den Pentateuch widerlegte,⁶⁷ wurde ein entscheidender Anfang in der modernen Bibelkritik gemacht, der eine große Wirkung haben sollte.⁶⁸ Der fundierende Text von Judentum und Christentum erschien nunmehr als ein menschliches Werk, in das auch menschliche Interessen und Leidenschaften einflossen.

    Der Anspruch einer wörtlichen Inspiration der Schrift war dahin; wie aber konnten dann die religiösen Gemeinschaften angesichts der vielen Unsicherheiten, mit denen ihr Glaube behaftet war, noch unbedingten Gehorsam erwarten und im Konfliktfalle Sanktionen verhängen? Damit ist keineswegs die Autorität der Schrift gänzlich negiert, es kommt aber darauf an, ihren moralischen Gehalt nicht dadurch zu verdunkeln, dass man an überkommenen Offenbarungsvorstellungen mit aller Kraft festhält. Gott ist Urheber der Bibel „wegen der wahren Religion, die in ihr gelehrt wird, aber nicht etwa deshalb, weil er den Menschen eine bestimmte Anzahl von Büchern hätte übermitteln wollen"⁶⁹. Freie Diskussion ihres Gehalts ebenso wie die freie Diskussion auf allen anderen Gebieten muss an die Stelle von religiösem und staatlichem Zwang treten. Nur so wird verhindert, dass die unterschiedlichen Parteien ihre Vorstellungen und Interessen mit Gewalt zu behaupten versuchen und schließlich das Argument der Macht die Macht des Arguments ersetzt.

    Spinoza hatte die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts vor Augen, welche zeigten, dass die unterschiedlichen Wahrheits- und Offenbarungsansprüche Ursache von Spaltungen und Konflikten waren. Mit einigem Recht verweist Wolfhart Pannenberg (1928–2014) auf die gravierenden Einschnitte, welche diese Kriege für Europa bedeuteten.⁷⁰ Spinoza blickte aber auch auf das Schicksal seiner eigenen Familie und Vorfahren, d. h. auf das Schicksal der Conversos, zurück. Die weitgehende Entflechtung von Staat und Religion sowie die größtmögliche Freiheit des Gedankens und des Wortes waren für Spinoza im Unterschied zu Thomas Hobbes Grundbedingung für das friedliche Zusammenleben. Die Macht religiöser Autoritäten hatte Spinoza selbst kennenlernen müssen, als er aus der jüdischen Gemeinde von Amsterdam wegen seiner Ansichten über Schrift, Autorität und Offenbarung feierlich ausgeschlossen wurde. Seine Philosophie und die aus ihr gezogenen Konsequenzen schienen mit dem Judentum seiner Zeit unvereinbar und blieben nicht ohne Folgen. Gegen Spinoza wurde 1656 der am schärfsten formulierte Bann der jüdischen Geschichte verhängt; die Gründe, welche die „Senhores of the ma’amad" leiteten, fasste Steven Nadler am Ende seiner Studie Spinoza’s Heresy knapp zusammen:

    „Spinoza bestritt, dass die Tora buchstäblich das Wort Gottes sei, und behauptete, die Juden seien nicht in einem tiefen und maßgeblichen Sinne Gottes erwähltes Volk. Sein naturalistisches Verständnis von Gott zielte darauf, die anthropomorphe Redeweise vom Göttlichen, welche so charakteristisch (und wesentlich) war für die großen religiösen Konfessionen, zu verunsichern."⁷¹

    Dass ausgerechnet die eigene Gemeinde, in der Bento Spinoza (so sein portugiesischer Name) geboren war und aufwuchs, dessen Eltern zu den angesehenen Familien der Gemeinde gehörten, zu einer solchen Maßnahme schritt, zeigt, wie alarmiert man von den Äußerungen dieses Freigeistes war, der sich allen Ermahnungen gegenüber als unzugänglich erwies. Offenbar vermochten weder Lehrer noch Gemeindeleiter Spinozas Argumente überzeugend zu widerlegen, und die von ihnen möglicherweise vorgetragenen Autoritäts-Argumente waren ihm ja gerade problematisch geworden und konnten schwerlich als triftige Einwände gelten. Keineswegs folgte auf den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde der Übertritt zum Christentum: Spinoza blieb im Sinne einer positiven Religion bewusst ortlos, säkular – und darin durchaus modern. Spinoza wies den christlichen wie den jüdischen Gottesbegriff zurück und bot stattdessen, wie Yirmiyahu Yovel schreibt, seine eigne Form der Vernunftreligion, die naturalistisch, monistisch und strikt immanent ausgerichtet war⁷² und mit den Vorstellungen sowohl des Judentums als auch des Christentums kaum übereinstimmt. Zugleich eröffnet er den Menschen eine andere Perspektive, ihr Ziel zu erkennen und zu finden – alternativ zu den Offenbarungsreligionen. Seit der Studie von Yirmiyahu Yovel gerät Spinozas Bedeutung vor allem für die radikale Aufklärung stärker in den Focus der Forschung. Jonathan Israel bezeichnet sein Denken gar als „intellektuelles Rückgrat der radikalen europäischen Aufklärung⁷³. Die radikale Aufklärung begnügte sich nicht mit einem politischen, religiösen und pädagogischen Reformprogramm, sondern zielte darauf, mit einer fundamentalen Kritik der Offenbarungsreligionen die ideologische Basis des überkommenen Feudalsystems, wie es in der absoluten Monarchie und der Ständegesellschaft nach wie vor sich darstellte, zu zerstören.⁷⁴ Autoren wie d’Holbach und La Mettrie galten Ernst Cassirer noch als Außenseiter und Werke wie „Système de la nature und „L’Homme machine als „Rückfall in jene dogmatische Denkart, die das achtzehnte Jahrhundert in seinen führenden wissenschaftlichen Geistern bekämpft und die es zu überwinden strebt⁷⁵. Für Cassirer steht, ganz in der Tradition des Neukantianismus, der Dogmatismus einer materialistischen Metaphysik im Vordergrund. Ihm stellt er die Skepsis eines d’Alembert gegen jeden Ausgriff auf das vermeintliche ‚Wesen‘ der Wirklichkeit, das sich unserer Erkenntnisapparatur entzieht, entgegen. „Über die Fragen nach der Einheit von Seele und Körper, fasst Cassirer die Kritik d’Alemberts zusammen, „und über ihren wechselseitigen Einfluß, über die Frage nach dem Ursprung unserer einfachen Ideen, über die Frage nach den letzten Gründen hat die Vorsehung einen Schleier gebreitet, den wir vergebens zu heben suchen.⁷⁶ Der breite Strom der Aufklärung muss demnach gedeutet werden als Vorläufer der Erkenntnistheorie Kants und ihrer Skepsis gegenüber allen abschlusshaften Aussagen über das Wesen der Dinge, seien sie idealistischer oder materialistischer Art.

    Die Konzentration auf die nicht zu leugnende erkenntnistheoretische Problematik übersieht allerdings die politische und emanzipatorische Stoßrichtung der radikalen Aufklärung. Demgegenüber versucht Jonathan Israel in seinen umfang- und materialreichen Studien darzulegen, „wie eng in der Radikalaufklärung die Abschaffung göttlicher Vorsehung und religiöser Macht mit demokratischem Republikanismus und der Forderung, die oberste Staatspflicht sei das Allgemeinwohl des ganzen Volkes und die Gleichwertigkeit jedes Individuums, zusammenhängen"⁷⁷; eine Tendenz, die schließlich der Französischen Revolution zuarbeitete. Die Gruppen und Klassen, welche als Akteure der Französischen Revolution auftraten, mochten von unterschiedlichen Motiven geleitet, die Unzufriedenheit mit der überkommenen Herrschaft unterschiedlich ausgeprägt sein; man mag zahlreiche Ursachen der Revolution ausmachen, so bedarf es doch einer Kraft, welche diese Motive und Ursachen zusammenführt, ihnen einen bündigen theoretischen Ausdruck verleiht und sie revolutionär

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