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Aspekte der Alltagsreligion: Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen
Aspekte der Alltagsreligion: Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen
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eBook244 Seiten3 Stunden

Aspekte der Alltagsreligion: Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen

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Über dieses E-Book

Im dritten Band der Hannoverschen Schriften beschäftigt sich Detlev Claussen mit unterschiedlichen Aspekten eines gesellschaftlichen Durchschnittsbewusstseins, die er unter dem Begriff der Alltagsreligion zusammenfasst. Darunter versteht der Autor einen konformistischen Privatglauben, der die chaotische Mannigfaltigkeit des Lebens geordnet erscheinen lässt und gegenüber Aufklärung resistent zu sein scheint. »Alltagsreligion« kann flexibler als die relativ starren traditionellen Ideologien auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren.

Politisches Handeln muss sich wie jede massenmedial vermittelte Kommunikation auf solche Alltagsgewissheiten und Stimmungen beziehen, wenn Wähler oder Konsumenten mobilisiert werden sollen. Entgegen dem eigenen Anspruch der Ideologiefreiheit reproduziert die Öffentlichkeit Rassismus, Antisemitismus, Ethnorationalismus und Xenophobie, wenn sie diese als Erklärungsgründe für gesellschaftlich zwar unerwünschtes, aber doch verständliches Handeln gelten lässt. Seine ideologiekritischen Argumentationen verdichtet Detlev Claussen zu einer Kritik alltagsreligiöser Artefakte, die als Stichworte wie »nationale Identität«, »Holocaust«, »Wiedervereinigung« und »Globalisierung« in aller Munde sind.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783801505233
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    Buchvorschau

    Aspekte der Alltagsreligion - Detlev Claussen

    www.neuekritik.de

    Inhalt

    Diner, Vorwort

    Reflexion und Erinnerung.

    Zur Regeneration der authentischen Kritischen Theorie

    Vergangenheit mit Zukunft.

    Über die Entstehung einer neuen deutschen Ideologie

    Viel Lärm um Goldhagen.

    Vorläufige Bilanz einer desaströsen Debatte

    Vom Judenhass zum Antisemitismus

    Über Psychoanalyse und Antisemitismus

    Rassismus als Rationalisierung von Gewalt

    Der kurze Sommer der Theorie

    Absencen der Soziologie

    Jargon der Einheit

    Zu den Texten

    Zu den Autoren

    Vorwort

    Dan Diner

    Detlev Claussen ist der Dialektik der Aufklärung verpflichtet. Dieser von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in dunkler Zeit verfassten Schrift über die Genesis der zur Geltung gelangten barbarischen Seite des im Lichte der Vernunft sich aufrichtenden Menschen kommt ein hoher Erkenntniswert zu. Schließlich sucht das verletzte Denken durch die Katarakte seiner Widerlegung hindurch an einem ursprünglichen, an einem menschheitlichen Versprechen festzuhalten. Diese Spannung ist der Kritischen Theorie eingeschrieben. Dass sie leichthin auflösbar wäre, ist ein frommer Wunsch.

    Fromme Wünsche mutieren gemeinhin zu bösen Taten. Karl Kraus' Ironisierung des gut Gemeinten als des Guten Gegenteil ist bitter ernst zu nehmen. Diese Wahrheit gilt für viele, die sich in eindimensionaler Gewissheit auf Kritische Theorie beriefen und dabei in kindlichem Übermut vermeinten, die herrschenden Verhältnisse mittels der Magie deklamierter Worte und rituellen Handelns umzustürzen. In religiös anmutendem Eifer fielen sie hinter die zivilisatorischen Sublimationsleistungen der bürgerlichen Gesellschaft zurück, die sie so beflissen zu überwinden trachteten. Jedenfalls ignorierten sie in grober Verkürzung des Gedankens die komplexen Erkenntnisleistungen der Dialektik der Aufklärung. Die Alten wussten sich noch der zivilisierenden Beständigkeiten der von den Epigonen verlachten bürgerlichen Gesellschaft trotz oder gerade wegen ihres katastrophisch eingetretenen Dementis zu vergewissern, als sie sich des mühseligen Unternehmens der Kritik annahmen. Und dies vor allem nach den gerade erfahrenen Katastrophen von Nationalsozialismus und Stalinismus, von Auschwitz und GULag. Im Anblick jener inneren Spannung einsichtigen Bewahrens und der Sehnsucht nach unmittelbarer Aufhebung nahmen zwei gegenläufige und sich von der ursprünglichen Kritischen Theorie absetzende Tendenzen ihren Lauf. So die Tendenz, die mit den Chiffren der Kritischen Theorie als Klischees auf den Lippen Denken in liturgisch anmutendes Handeln verkürzte, und jene, die das kritische Denken aus seiner dialektischen Tradition szientistisch herauslöste und nichts dabei fanden, die dadurch verloren gegangenen Anteile moralischer Erkenntnis in Form einer öffentlich kommunizierten moralisierenden Selbststilisierung darzubieten. Der kritische Sinn einer dialektischen Vernunft reduzierte sich auf wohlfeile Klage.

    Detlev Claussen sucht die der Tradition Kritischer Theorie inhärente Spannung zwischen dem Begehren nach Emanzipation und seines erfahrenen Dementis zu wahren. Dies wird schon an seinen dunklen Themen und der an sie gebundenen Erkenntnis offenkundig. Sie handeln von Antisemitismus, von Rassismus und Nationalismus. Die mit den Kehrseiten der Aufklärung verbundenen Gegenstände sind alles andere als dankbarer Stoff. Statt Glück zu verheißen, wahren sie das Gedächtnis an das Verhängnis. Von vornherein ist ihnen die Dialektik fortschreitenden Bewusstseins und seiner Entgegensetzung eingekerbt. So hat Claussen in seinem Werk über die Grenzen der Aufklärung anhand der modernen Judenfeindschaft die »Elemente des Antisemitismus« von Horkheimer und Adorno fortgeschrieben. Darin hat er gewichtige Erkenntnisse zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft ans Licht gebracht – Erkenntnisse, die der Synthese von materialistischer Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch aufgeklärter Anthropologie, wie sie der Kritischen Theorie eigen ist, folgen. Durch den gesellschaftskritischen Zugriff gelingt der Nachweis der historischen Metamorphose, die Darstellung der zeitgebundenen und sozial bedingten Konversion einer zwar in gleichbleibenden Bildern und Metaphern gehaltenen, nunmehr aber in Antisemitismus sich verwandelnden Judenfeindschaft. In eben jener Verwandlung von traditioneller Judenfeindschaft in Antisemitismus fordert der Schein der Herrschaftsverhältnisse in den Verkehrungen des sich verallgemeinernden Tausches seinen Tribut. Den Juden werden die Embleme der Ausbeutung eingebrannt – eine Projektion, die sich bis in eine Biologisierung des Sozialen hinein rationalisiert.

    Das antisemitische Bewusstsein bewegt sich im Dunkel einer der bürgerlichen Gesellschaft eigenen paradoxen Gleichgültigkeit. Sie ist das Pendant der von ihr ausgehenden Gleichheit. Ihrer uneingelösten Versprechungen wegen, des einsichtig werdenden sozialen Unterschieds, heftet sich die Wut der Zukurzgekommenen an die Differenz. Letzterer wird alle Last der Ursache aufgebürdet. Ihre Zurichtung zum Schuldigen wird zur Sache von Gewalt.

    Rassismus und Antisemitismus sind den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts entsprungen. Detlev Claussen erkennt die ihnen innewohnenden gemeinsamen und mithin modernen Ursprünge. Schließlich gehen sie aus jener vertrackten Dialektik der Gleichheit hervor. Doch bei allem gemeinsamen Ursprung sieht Claussen die Unterschiede. Die gewalttätige Projektion angesichts des Sichtbaren und eine mörderisch währende Latenz angesichts des Unsichtbaren weisen eine jeweils andere Geschichte auf. So sind ihnen verschiedene, Gewalt anziehende Merkmale eingeschrieben. Dass diese Gewalt historisch zeitgleich explodiert, ist wiederum den als gesellschaftlich durchschauten Verhältnissen geschuldet, die sie wirklich werden lassen.

    Detlev Claussen ist die Formgeschichte der Gewalt geläufig. Zur angemessenen Zeit hat er ihre Gestalt ebenso wie ihre Wirkung studiert. So weiß er um die Unterschiede. In der Metropole kam die offene Gewalt allenfalls als Ausnahme zur Geltung. In der Kolonie gerann sie ihrer Stetigkeit wegen zur zweiten Natur. Aufgrund solcher Beständigkeit vermochte sie allein durch Gewalt gebrochen zu werden. In der Geschichte der Dekolonisierung ist dieser Vorgang notorisch. Sein Resultat ist die Anerkennung – ein Grundmotiv in Claussens sozialkritischem Denken. Und ein in der Tat zwiespältiges Resultat. Schließlich trägt der nunmehr Anerkannte alle Verantwortung für sich selbst. Solche Selbstverantwortung mag sich in der Verwaltung vorgefundenen Mangels erschöpfen. Nichtsdestoweniger handelt es sich bei der über Gewaltanwendung erfolgten Anerkennung um ein Resultat, das immerhin die Möglichkeit einer besseren, jedenfalls einer verbesserbaren Zukunft in sich birgt.

    Die Möglichkeit der besseren, der verbesserbaren Zukunft ist im Prinzip »Amerika« beschlossen. Der Hinweis auf das sprichwörtliche Elend, auf die Gewalt und den alltäglichen Rassismus in den USA sind kein Dementi jenes Versprechens. Detlev Claussen hat aus seiner Geringschätzung des Antiamerikanismus als einem Humanismus dummer Kerls niemals einen Hehl gemacht. Und dies nicht allein deshalb, weil die über Europa niedergegangene Eclipse of Reason in Amerika reflektiert werden konnte, sondern weil das Land der Freiheit sich wieder einmal als letzter Hort jener Mindestbedingungen von Bürgerlichkeit bestätigte, die zu denken zur Voraussetzung allen Denkens gehört.

    Mit dem Jahr 1989 sind mancherlei Gewissheiten umgestürzt worden. Der Sieg der Freiheit über das längst abgewirtschaftete Ideal einer buchstäblichen Gleichheit hat Europa von Grund auf verwandelt. Dieser Verwandlung ist nicht ein die Herkünfte neutralisierendes Amerika entsprossen. Vielmehr haben sich die alten Gespenster Europas wieder zu Wort gemeldet. Die Stimme des Nationalismus war unüberhörbar. Und an sie knüpfte sich umgehend Kriegsgeschrei. Es schien, als würden sich die von Detlev Claussen als Alltagsreligionen bezeichneten undurchschauten Formen der ethnifizierten Selbst- und Fremddeutung ebenso wie die mit ihnen verbundenen Gewaltausbrüche brutal Gehör verschaffen: außerhalb Deutschlands, auf dem Balkan, als ethnische Homogenisierungen; in Deutschland als blindwütige, als Fremdenfeindlichkeit rationalisierte Tobsucht allem gegenüber, was als Gestalt die Fragen der Deutschen an sich selbst zu bergen scheint.

    Die Wiederkehr Deutschlands vollzog sich als Erweiterung der Bundesrepublik. Der DDR blieb nur widerstandsloser Untergang. Die Überlegenheit des Weststaates war in geringerem Maße einem wie auch immer gehaltenen Nationalismus denn der dort nach 1945 sich westlich verankernden bürgerlichen Gesellschaft geschuldet. Zu dieser Verankerung hatten nicht wenige beigetragen, die als Emigranten dieses Land verlassen hatten und nunmehr als Träger westlicher Freiheiten zurückkehrten. Doch weniger ihr geistiges und intellektuelles Wirken verwandelte den Weststaat in eine westliche Republik als die mit dem Kalten Krieg vollzogene Teilung des Landes. In der Tat erwies sich die 1949 ratifizierte Teilung als historische List. So war die alte Bundesrepublik zu einem Institutionenstaat wider Willen geworden – die Nation blieb außer Reichweite. Allenthalben setzte sich das Paradigma der Gesellschaft durch. Die auf dem Primat des Sozialen ruhende Soziologie triumphierte, zumal die sich nationaler Sinnstiftung befleißigende Geschichtswissenschaft durch die Weltkriege ohnehin angeschlagen war. Jedenfalls hatte die Historie auf weiter Strecke das Nachsehen. Allenfalls als historische Sozialwissenschaft vermochte sie sich Gehör zu verschaffen. Ihr Durchbruch als Kompromiss zwischen gesellschaftlicher Wahrnehmung ihrer selbst und historischer Kontinuität war erst in den siebziger Jahren erfolgt – damals, als die Bundesrepublik mit sich selbst versöhnt schien.

    Detlev Claussen irrt nicht, wenn er den Mitte der achtziger Jahre ausgebrochenen Historikerstreit als eine Vorwegnahme eines politischen Paradigmenwechsels erkennt – als Verwandlung von Gesellschaft in Nation. Tatsächlich rückte die mit der Geschichte als nationalsozialistischer Vergangenheit der Deutschen befasste Historie zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Angesichts der bald darauf eingetretenen Vereinigung mag die 1986 vom Zaun gebrochene Debatte über Nation und Identität nachfolgenden Generationen wie eine magische Anrufung des alsbald eingetretenen Jahres 1989 erscheinen. Doch war diese Kontroverse eher der schwärenden Geltung einer übermächtigen Vergangenheit geschuldet denn der Vorbereitung einer nationalen Zukunft der Deutschen.

    Die Kritische Theorie hatte schon sehr früh angesichts der Ungeheuerlichkeiten, in deren Zentrum »Auschwitz« steht, Gegenwart mit dem Vorbehalt jener Vergangenheit bedacht. Und früher als manch anderer hat Detlev Claussen dieses Erbe Kritischer Theorie aufgenommen und als einen sich selbst auferlegten Auftrag verstanden. Die undankbare Reflexion über die Dilemmata von Erinnerung und Darstellung des Schreckens waren vor allem nach dem Epochenjahr von 1989 dringlich geworden. Schließlich war erst nach dem Ende des Kalten Krieges und der mit ihm verbundenen ideologischen Überfrachtung alles Denkens die nunmehr frei gewordene Vergangenheit zur öffentlichen Angelegenheit geworden. Dies umso mehr, als der Charakter eben dieser Vergangenheit die ihr vorausgegangenen wie die ihr nachfolgenden Zeiten affiziert. Diese Vergangenheit nimmt zusehends die Gestalt eines negativen Gründungsaktes an. Dass dieser negative Gründungsakt von der Kritischen Theorie ins Zentrum ihres Denkens versetzt worden war, als seine zukünftige Wirkung als solche noch nicht erkennbar sein konnte, stellt ihre epochale zeitdiagnostische Tiefenschärfe heraus. Solche Erkenntnis war nicht der opulenten historischen Beschreibung abzugewinnen, sondern allein den Zuspitzungen aphoristischer Prägnanz. Zudem bot sich die Form der Aphoristik all jenen als Form der Darstellung an, die sich ihres Ortes in der Welt nicht sicher sein konnten. Schließlich reflektiert der Aphorismus die Erwartung einer unversehens einbrechenden Endlichkeit. Ihm ist eine innere wie äußere Anspannung eingeschrieben, sich der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit zu fügen. Horkheimers Aphorismen aus der Dämmerung der Zwischenkriegszeit reflektieren einen sich einstellenden Pessimismus ante Auschwitz. In der Nachzeit findet er in den Notizen seine eindringliche Bestätigung. In Adornos Minima Moralia wiederum kommen Form und Inhalt der aphoristischen Zeitdiagnose auf ihren unverwechselbaren Begriff. Als Gattung steht der Aphorismus also für eine geborgte Zeit. Er entspricht der Zeiterfahrung der Emigration.

    In seinen verstreuten Schriften sucht Detlev Claussen Traditionselemente Kritischer Theorie zu wahren. Dies gilt sowohl für Inhalte wie für Form. So dienen sie der zeitgenössischen Aufklärung wie dem Gedächtnis der Kritischen Theorie.

    Reflexion und Erinnerung

    Zur Regeneration der

    authentischen Kritischen Theorie

    1999 entzündete das Stichwort »Kritische Theorie« wieder einmal die deutsche Medienlandschaft. Die Zeit, das Wochenblatt des aussterbenden deutschen Bildungsbürgertums, hatte einen Konfliktstoff gefunden, der dann als soap opera für Intellektuelle ein paar Wochen durch die Gazetten und Leserbriefspalten geisterte. Ein bis dahin relativ wenig beachteter philosophischer Außenseiter hatte an einem schönen Alpenort mit brauner Vergangenheit einige ziemlich schräge Thesen zu Soziobiologie, Gentechnik und Humanismus, die von ihm mit Heidegger-Zitaten bedeutungsschwer gemacht worden waren, vorgetragen. Ein Journalist, der früher jahrelang Habermas-Colloquien in Frankfurt besucht hatte, skandalisierte nach einigem Vorlauf in der linksliberalen Tagespresse in der Zeit diesen Vortrag als »Zarathustra-Projekt«. Der Angegriffene, dessen Namen Peter Sloterdijk bis dahin nur eingeweihte Fachrezensenten buchstabieren konnten, stilisierte sich nun als Opfer einer mächtigen Verschwörung Frankfurter Intellektueller. Wieder einmal hatten die deutschen Feuilletons ihre Debatte – das Ziel aller printmedialen Publizistik seit dem so genannten Historikerstreit 1986, der dem traditionellen Feuilleton, diesem publizistischen Nebenkriegsschauplatz, eine neue massenmediale Funktion und den Intellektuellen einen neuen Arbeitsplatz gegeben hatte.

    Das neue deutsche Feuilleton hat den Typus des Debattenschreibers hervorgebracht, den Spezialisten für das Allgemeine, der Publizistik und Wissenschaft, Reflexion und Meinung miteinander verschmilzt. Als Inkorporation dieses Debattenintellektuellen gilt Jürgen Habermas, der in der Öffentlichkeit all das verkörpert, was sie sich unter »Kritischer Theorie« und »Frankfurter Schule« vorstellt. Die schon erwähnte Wochenzeitung Die Zeit ließ zum Beispiel in der Woche der ersten NATO-Luftschläge gegen Rest-Jugoslawien Jürgen Habermas auf ihrer Seite eins begründen, warum diese Politik des Westens und der Bundesregierung notwendig sei. Die seit dem Historikerstreit, in dem Jürgen Habermas ein vehementer Ankläger einer »Entsorgung der Vergangenheit« war, durch Wiederholung befestigte Amalgamierung von öffentlicher Intellektuellenrolle und Kritischer Theorie nährt den Mythos von der Macht der Kritischen Theorie, der selbst schon Züge eines sekundären Antisemitismus trägt.

    Pünktlich zur letzten Buchmesse, dem Jahrestreff der intellektuellen Öffentlichkeit in Deutschland, präsentierten nahezu alle wichtigen Zeitungen der Bundesrepublik ihre Buchbeilagen mit der Besprechung eines monumentalen Werkes mit dem merkwürdigen Titel: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Aufgestellt und auf über sechshundert Seiten belegt werden soll die These, die Begründer der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, würden in der »Staatskultur der Bundesrepublik einen ähnlichen Platz einnehmen wie einst die Dichter und Denker der deutschen Klassik«¹. Wer die fünfzigjährige Geschichte der Bundesrepublik bewusst erlebt hat, kann angesichts solcher Behauptungen nur den Kopf schütteln. Bis heute fordert Adornos meist- – und fast genauso oft falsch oder verkürzt – zitiertes Diktum, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben« sei »barbarisch«, die Distanzierungswut nahezu des gesamten Literaturbetriebs heraus.

    Warum eigentlich? Kultur wurde nach 1945 in Westdeutschland als eine Art Ersatzreligion missbraucht, die in der Ära des Kalten Krieges ein bruchloses Anknüpfen an scheinbar unbeschädigte vornationalsozialistische deutsche Traditionen ermöglichen sollte. Adornos zitierte Reflexion aus dem Jahre 1949 traf diese »Kunstreligion«, die die Erinnerung der Vergangenheit verfälscht und die Wahrnehmung der Gegenwart verzerrt, mitten in ihr ideologisches Herz.

    Die in ganz Westeuropa nach 1945 gepflegte Kulturideologie zeigte nicht nur antiintellektuelle, sondern auch antiamerikanische Aspekte. In der Person Adornos, der im »Hause des Henkers« nicht aufhörte, »vom Strick zu reden«², verschränkten sich diese Aspekte des sekundären Antisemitismus mit den genuinen Ressentiments gegen den zurückgekehrten jüdischen Emigranten, den Adorno exemplarisch verkörperte. Gegen Adornos Beschäftigung an der Frankfurter Universität, der er zu neuem internationalen Renommee verhalf, gab es zeitlebens erhebliche Widerstände; nur der Intervention des antifaschistischen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zinn ist es zu verdanken, dass Adorno überhaupt eine prominente universitäre Position in den fünfziger Jahren einnehmen konnte. Die Kritische Theorie, die von Horkheimer, Pollock und Adorno aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgebracht worden war, wurde als Finger in der Wunde deutscher Kontinuitätsbedürfnisse empfunden. Von ihren Feinden wurden die Emigranten als Hilfsangestellte der Alliierten diffamiert, ihre Theorie als etwas Fremdes, von außen Kommendes hingestellt.

    Dieses reaktionäre Motiv drückte sich auch im Widerstand gegen die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit aus. Die Formulierung von der »verordneten Vergangenheitsbewältigung« stammt aus jenen Tagen. Im 1999 erschienenen voluminösen Werk über die »Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule« taucht diese Parole als entscheidendes Stichwort wieder auf. Diese letzten Ressentiments des deutschen Bildungsbürgertums lassen sich offensichtlich heute von den Rezensenten nahezu unbemerkt artikulieren, wenn es darum geht, Geschichte umzuschreiben. Der 1994 verstorbene Stichwortgeber Friedrich H. Tenbruck, der noch im Schatten von Horkheimers Autorität Karriere gemacht hat, schildert die »verordnete Vergangenheitsbewältigung« als kurzsichtige Politik der Alliierten, die der deutschen Jugend das Mandat »zur uneinsichtigen Aufdeckung von früheren Verstrickungen« gegeben habe. Mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der fünfziger und sechziger Jahre, die inzwischen gut dokumentiert ist, hat diese Darstellung wenig zu tun – mehr allerdings mit der gesellschaftlichen Realität Deutschlands nach dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«.

    1998 hatte sich der deutsche Schriftsteller Martin Walser für den international angesehenen »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« mit einer Rede bedankt, die sich vehement gegen die angebliche »Instrumentalisierung der Vergangenheit« zur Wehr setzte. Von den am symbolischen Ort der Demokratie, der Frankfurter Paulskirche, versammelten Honoratioren wurde Walser mit standing ovations versehen; nur der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hatte den Mut, in diese Jubelstimmung hinein zu bemerken, dass von Walser ganz bedenkliche Töne angeschlagen worden waren. Dem aufmerksamen Walserleser waren dessen Ressentiments nichts Neues: Pikanterweise hatte sich Walser schon 1979 in den von Jürgen Habermas herausgegebenen Bänden Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹ als Erzfeind der Kritischen Theorie im Namen des Volkes geoutet; bei Walser heißt es mit heftigem Affekt gegen Adorno: »Schlimmer als der geschmähte Jargon der Eigentlichkeit kommt mir der Jargon vor, in dem da geschmäht wurde«³. Walser versuchte schon damals, die Kategorie des Volkes zu rehabilitieren, indem er sich als unverstandener Prophet einer deutschen Wiedervereinigung ausgab. Nach 1989 fühlte er seine Stunde dann gekommen und wurde zum Lieblingsdichter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die gerne das Volk zur Delegitimierung der Intellektuellen ins Feld führt.

    Im meinungsbildenden Feuilleton der FAZ wurde nach 1989 ein neues deutsches Geschichtsbild propagiert, das

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