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Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis
Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis
Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis
eBook694 Seiten15 Stunden

Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis

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Über dieses E-Book

BRUNO-KREISKY-PREIS FÜR DAS POLITISCHE BUCH 2006
(Anerkennungspreis)
Der Nationalsozialismus ist in Deutschland und Österreich Teil jeder Familiengeschichte. Die Zeithistorikerin Margit Reiter untersucht nun erstmals, wie der Nationalsozialismus in österreichischen Nachkriegsfamilien erinnert und an die nachfolgende Generation weiter gegeben wurde. Sie stellt fest: In den Familien wurde keineswegs nur geschwiegen. Was aber wurde erzählt, wie wurde darüber gesprochen - und was wurde ausgeblendet und tabuisiert?
Das Familiengedächtnis und der öffentliche NS-Diskurs haben die Vorstellungswelt der zweiten Generation nachhaltig geprägt. Was wissen die Nachkommen eigentlich über ihre Väter und Mütter im Nationalsozialismus, wie gehen sie heute mit deren (potenzieller) Täterschaft um? Die Autorin hat 'Kinder der Täter' interviewt und die vielfältigen Formen des Umgangs mit dem familiären NS-Erbe - von kritischer Distanzierung über Verständnis bis hin zu reflexartiger Verteidigung - aufgezeigt und analysiert.
Gerade die Tatsache, dass diese 'Generation danach' den allgemeinen Diskurs über die NS-Vergangenheit seit Jahren maßgeblich mitbestimmt, unterstreicht die gesellschaftspolitische Relevanz dieses Buches.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum23. März 2016
ISBN9783706558273
Die Generation danach: Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis
Autor

Margit Reiter

Margit Reiter ist Universitätsprofessorin für Europäische Zeitgeschichte am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.

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    Buchvorschau

    Die Generation danach - Margit Reiter

    Literatur

    Einleitung

    Das am Buchumschlag abgebildete Foto begleitet mich bereits seit Beginn meiner Arbeit.1 Auch wenn es sich dabei um ein NS-Foto handelt und ursprünglich zu Propagandazwecken bestimmt war2, eignet es sich sehr gut als Illustration und als assoziativer Einstieg in mein Thema. Denn es zeigt in verdichteter Form eine typische Familienkonstellation – mit Vater, Mutter, Kind – und evoziert geradezu idealtypisch die kommunikative Ausgangssituation über den Nationalsozialismus im Familiengedächtnis:

    Die zeitliche Verortung (NS-Zeit) erfolgt durch das Foto vom Vater und die Uniform, die er trägt. Um diesen NS-Vater kreist meist jede Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte. Er ist nur über das Foto anwesend, also eigentlich abwesend, womit bereits ein zentrales Element von NS- bzw. Nachkriegsfamilien berührt ist: Die Abwesenheit der Väter zuerst im Krieg, dann in Kriegsgefangenschaft oder oft sogar tot, schließlich abwesend auch im emotionalen Sinne, als Familienoberhaupt und Bezugsperson. Das ‚Bild im Bild‘ verweist auf das Moment der Projektion und Idealisierung des Vaters als ‚Helden‘, der – so viel kann unschwer prophezeit werden – letztendlich auf die eine oder andere Weise als ‚Verlierer‘ dastehen wird.

    Des Weiteren sehen wir die Mutter, die sich uns als die Vermittelnde zwischen den Generationen präsentiert. Damit ist ein wichtiger Aspekt angesprochen, die zentrale Rolle der Frauen und Mütter im Familiengedächtnis. Selten werden Frauen als politische Akteurinnen oder gar als mögliche ‚Täterinnen‘ wahrgenommen, häufig wird ihre Rolle als Trägerin und Vermittlerin der familiären Erinnerung unterschätzt. Dabei waren Frauen durchaus für den Nationalsozialismus anfällig. Und sie waren/sind als Mütter an der familiären Kommunikation über den Nationalsozialismus – am Verharmlosen, an den Tabus und an der Weitergabe von Familienlegenden – maßgeblich beteiligt.

    Im Zentrum des Fotos ist schließlich das kleine ‚unschuldige‘ Kind als Adressat der Erzählungen der Mutter über den Vater, so wird suggeriert. Dieses Kind, ob Sohn oder Tochter, war/ist in vielerlei Hinsicht den familiären Erzählungen ausgesetzt und sein/ihr (späteres) Bild vom Nationalsozialismus und der familiären NS-Verstrickung ist wesentlich davon geprägt. Diese Kinder sind aber mittlerweile längst erwachsen und somit auch selbstverantwortlich Denkende und Handelnde. Als solche liegt es in ihrer Hand, was sie aus dieser familiären Grundkonstellation machen, welche Konsequenzen sie daraus ziehen, ob und wie sie sich mit dem familiären NS-Erbe auseinander setzen oder auch nicht.

    Diese der zweiten Generation angehörenden ‚Kinder der Täter‘ stehen im Zentrum meiner Arbeit. Es handelt sich dabei um die unmittelbaren Nachkommen (Söhne und Töchter) von Eltern, die im unterschiedlichen Ausmaß und auf unterschiedliche Weise in den Nationalsozialismus involviert waren und die – in welcher Weise auch immer – mit dieser familiären NS-Verstrickung umzugehen haben. Mein Interesse begründet sich auf ihre überaus ambivalente erinnerungspolitische Ausgangsposition: Einerseits sind sie aufgrund ihres Alters über den Verdacht einer unmittelbaren Schuldverstrickung erhaben und können auch in keiner Weise für die Taten ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden. Andererseits sind sie aber aufgrund der familiären und emotionalen Nähe im hohen Maße vom Weiterwirken des Nationalsozialismus geprägt, sodass schon allein aus diesem Grund der oft vorschnell erhobene Anspruch auf die ‚Gnade der späten Geburt‘ kritisch zu hinterfragen ist.

    Seit etwa einem Jahrzehnt ist in der Forschung, aber auch in der breiten Öffentlichkeit ein verstärktes Interesse für familiäre Tradierungen des Nationalsozialismus sowie für die Verarbeitungen in den nachfolgenden Generationen zu beobachten. Christian Schneider spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Phase des Umgangs mit der NS-Vergangenheit, die vor allem durch eine „Familiarisierung des Schuldproblems" gekennzeichnet sei. Mittlerweile, so meint er, sei die Schuldfrage kein ausschließlich wissenschaftliches oder metaphysisches Abstraktum mehr, sondern eine Realität jeder deutschen (und österreichischen) Familie und somit ein Problem des persönlichen Umgangs mit den ehemaligen Tätern und ihrem Einfluss auf die Nachkommen.3 Das heißt: Der Nationalsozialismus wird zunehmend als Familiengeschichte begriffen und nicht zuletzt deshalb hat das Thema ‚Kinder der Täter‘ derzeit Hochkonjunktur.

    Tatsächlich haben sich in letzter Zeit viele Söhne und Töchter auf die ‚Spurensuche‘ nach ihrer NS-Familiengeschichte gemacht, darunter auch Kinder von prominenten NS-Tätern wie Martin Bormann, Albert Speer oder Amon Göth.4 Niklas Frank hat 2005 ein Buch über seine NS-Mutter veröffentlicht, und auch seine längst vergriffene, einst heftig umstrittene ‚Abrechnung‘ mit seinem Vater Hans Frank wurde wieder neu aufgelegt.5 Auch aus der Enkelgeneration liegen mittlerweile mehr oder weniger kritische Auseinandersetzungen mit ihrem familiären NS-Erbe vor.6 Die ‚Kinder der Täter‘ treten in zeithistorischen Dokumentationen auf und werden darin zunehmend als scheinbar authentische ‚ZeitzeugInnen‘ herangezogen.7 Prominente SchauspielerInnen wie Götz George und Christiane Hörbiger geben öffentlich Auskunft über ihre berühmten, in den Nationalsozialismus verstrickten Eltern8, und die Tochter des KZ-Kommandanten Amon Göth beantwortet in Talkshows die Frage, wie sie ihren Vater, den Massenmörder, „trotzdem lieben" könne.9

    Aber nicht nur die Nachkommen der Bormanns, Speers und Himmlers, auch Kinder aus weniger bekannten NS-Familien setzen sich mittlerweile auf unterschiedliche Weise mit den elterlichen NS- Verstrickungen auseinander. Ein wichtiger Auslöser dafür war die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht", die seit 1995 in vielen deutschen und österreichischen Städten gezeigt wurde und die Gemüter erregt hat. Durch die ihr innewohnende Brisanz – die Angst, den eigenen Vater/Großvater auf einem der Fotos zu entdecken – drang sie tief ins Epizentrum der Gesellschaft und somit in die Familien ein.10 Die Privatisierung und Familiarisierung des Nationalsozialismus findet auch in der deutschen Literatur in einer wahren Flut von Familien- und Generationenromanen ihren Niederschlag.11 In Österreich wiederum fand das ‚Vaterbuch‘ von Martin Pollack Der Tote im Bunker (2004) große mediale Aufmerksamkeit, und ein Jahr zuvor hat der Schriftsteller Peter Henisch seinen autobiographischen Roman Die kleine Figur meines Vaters in einer dritten, überarbeiteten Fassung vorgelegt.12 Ob in journalistischen Beiträgen oder in Interviews, in Wortmeldungen bei zeitgeschichtlichen Diskussionsveranstaltungen oder im privaten Gespräch – immer wieder wird Bezug auf die eigene Familiengeschichte genommen.

    Die ‚Privatisierung‘ des Nationalsozialismus ist Ausdruck einer zunehmenden Sensibilisierung für die familiären Verstrickungen und das Weiterwirken des Nationalsozialismus über die Generationen hinweg und somit positiv zu bewerten. Die damit einhergehende Themenkonjunktur und vor allem bestimmte dabei auftretende Tendenzen sehe ich aber auch als problematisch an:

    Da ist zum einen die Fokussierung auf die prominenten ‚Kinder der Täter‘, denen in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und die nicht frei von einer negativen Faszination für die ‚Täter‘ ist. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um eine sehr zweifelhafte Prominenz, da sie vom Ausmaß der väterlichen Täterschaft abgeleitet wird und die Kinder dadurch oft überhaupt erst an ‚Bedeutung‘ gewinnen. Mir geht es nicht vorrangig um diese exponierten ‚prominenten‘ NS-Nachkommen, sondern ich beschäftige mich mit den ‚Kindern der Täter‘ im weiteren Sinne, deren Prägungen und Verarbeitungen ich auch für gesellschaftspolitisch relevanter halte.

    Zum anderen richtet sich meine Skepsis gegen die zu beobachtende (Selbst-)Stilisierung und Wahrnehmung der ‚Kinder der Täter‘ als Opfer. Tatsächlich präsentieren sich viele Nachkommen als ‚Leidende‘, die eine schwere Last zu tragen haben und daher in der Regel mit Mitleid, Anteilnahme und Anerkennung rechnen können.13 Darin birgt sich die Gefahr einer sukzessiven Perspektivenverschiebung: Die NS-Opfer und deren Nachkommen rücken immer mehr an den Rand der Aufmerksamkeit und die ‚Kinder der Täter‘ werden zunehmend zu den ‚eigentlichen‘ Opfern. Im Kontext der aktuellen Debatten um die ‚deutschen Opfer‘ (Stichwort: Dresden, Vertreibungen) und der derzeit zu beobachtenden Verschiebung im öffentlichen Opfer-Täter-Diskurs ist diese Gefahr nicht gänzlich von sich zu weisen.14

    Mir geht es daher in meiner Arbeit nicht darum, die ‚Leidensgeschichten‘ der NS-Nachkommen unkritisch fortzuschreiben und mich ihnen ausschließlich als ‚Opfer‘ zu nähern. Dies bedeutet aber nicht, dass ich ihre oft schwierigen familiären Ausgangsbedingungen und Kindheiten nicht ernst nehmen und den ‚Leidensdruck‘, der sich aus dem Wissen oder der Vermutung ergibt, dass die eigenen Eltern ‚Täter‘ waren, nicht verstehen würde. Mein Interesse für die ‚Kinder der Täter‘ geht über ihre individuellen (Leidens-)Erfahrungen hinaus. Mich interessiert vor allem, warum es in den NS-Nachfolgegesellschaften und damit auch in der nachfolgenden, nicht unmittelbar in den Nationalsozialismus verstrickten Generation so lange so wenig Bewusstsein und Sensibilität für die familiären NS-Verstrickungen gegeben hat und immer noch gibt. Ich gehe davon aus, dass einer der Gründe dafür im Familiengedächtnis über den Nationalsozialismus liegt, das ich daher näher auf seine nachhaltige Wirksamkeit in der nachfolgenden Generation hin untersuchen will.

    Ich kann mich bei meiner Arbeit auf Forschungsarbeiten aus verschiedenen Disziplinen stützen, die sich – mit unterschiedlichen Perspektiven und Zugängen – mit der NS-Nachfolgegeneration, den ‚Kindern der Täter‘, auseinander gesetzt haben. Da gibt es zum einen Arbeiten aus dem psychoanalytischen Bereich, in denen anhand von Fallstudien Traumatisierungen durch Kriegs- und Nachkriegsereignisse und unbewusste Identifizierungsprozesse in der zweiten Generation untersucht werden.15 Auch in den stärker familientherapeutisch orientierten Arbeiten geht es um die psychischen Auswirkungen des Nationalsozialismus in den Familien und um die psychischen Schwierigkeiten von NS-Nachkommen.16 In diesem Bereich sind in letzter Zeit auch zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen erschienen.17 Auch in der Interviewsammlung Die Last des Schweigens (1996) von Dan Bar-On stehen der therapeutische Ansatz und der Dialog zwischen den Nachkommen der Opfer und der Täter im Vordergrund.18 Darüber hinaus gibt es noch weitere Interviewsammlungen mit viel sagenden Titeln, wie etwa Gerald Posner, Belastet (1994), Dörte von Westernhagen, Die Kinder der Täter (1987), Peter Sichrovsky, Schuldig geboren (1987) und Norbert und Stephan Lebert, Denn Du trägst meinen Namen. Das schwere Erbe der prominenten Nazi-Kinder (2000), die die Erfahrungen von (prominenten) ‚Kindern der Täter‘ dokumentieren, aber kaum analysieren.

    Im letzten Jahrzehnt hat sich eine Hinwendung zum ‚Familiengedächtnis‘ und zu Generationenfragen vollzogen. In der von Gabriele Rosenthal herausgegebenen Mehrgenerationenstudie Der Holocaust im Leben von drei Generationen (1997) wird die familiäre Tradierung der Erfahrung Nationalsozialismus in der BRD, der ehemaligen DDR und in Israel vergleichend untersucht, mit dem Ergebnis, dass es im familialen Dialog über den Holocaust bei den Nachkommen von Tätern und von Überlebenden entscheidende Differenzen, aber auch einige frappierende Ähnlichkeiten gibt. Die Dreigenerationenstudie von Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber Das Erbe der Napola (1996) untersucht aus psychoanalytischer Sicht die spezifischen Prägungen ehemaliger Napola-Schüler und die Tradierungen dieser elitären Sozialisation auf die nachfolgende Generation. Das Forschungsteam um den Sozialpsychologen Harald Welzer wiederum wendet sich verstärkt dem Familiengedächtnis der ‚kleinen Nazis‘ und ‚Mitläufer‘ zu und hat dazu unter anderem die Studie mit dem programmatischen Titel Mein Opa war kein Nazi (2002) vorgelegt.19

    Meine Arbeit knüpft an diese Ergebnisse an, versucht aber auch, bestehende Forschungsdefizite aufzufüllen und neue Akzentuierungen vorzunehmen. So gibt es meines Wissens noch keine Arbeit aus dem Bereich der Zeitgeschichte und auch noch keine Arbeit über das Familiengedächtnis und die zweite Generation in Österreich. Zwar liegen einige Untersuchungen über das Fortwirken des Nationalsozialismus in Österreich vor20, generationsspezifische Ansätze sind dabei aber selten.21 Die Problematik der ‚Kinder der Täter‘ wurde in Österreich bisher noch nicht erforscht, sondern hauptsächlich in journalistischen Beiträgen oder in Form von literarischautobiographischen Auseinandersetzungen thematisiert.22

    Ich werde mich der Thematik aus einer zeithistorischen Perspektive nähern. Das heißt, als Zeithistorikerin geht es mir nicht nur um psychologische Dynamiken und Mechanismen, um individuelle Erinnerungen und Verarbeitungen der ‚Erfahrung Nationalsozialismus‘, sondern auch um die Einbindung der Problematik in ein diskursives Umfeld, in den historischen und vergangenheitspolitischen Kontext Österreichs. Dabei werden – so nehme ich an – einige österreichische Besonderheiten, aber auch verallgemeinerbare Tendenzen sichtbar werden, die auch für die ‚Kinder der Täter‘ in Deutschland ihre Gültigkeit haben.

    Meine Arbeit ist somit die erste umfassende Studie über die Tradierung und Verarbeitung des Nationalsozialismus im Familiengedächtnis und in der zweiten Generation in Österreich. Die Basis dafür bilden lebensgeschichtliche Interviews, die ich mit ‚Kindern von Tätern‘ durchgeführt habe.23 Diese Interviews werden durch weitere (journalistische, autobiographische, literarische) Quellen und durch Ergebnisse aus meinen Vorarbeiten empirisch ergänzt und untermauert. Die Arbeit gliedert sich in folgende Abschnitte:

    In einem kurzen Eingangskapitel werde ich einige Begriffsklärungen vornehmen und das diskursive Umfeld der meiner Arbeit zugrunde liegenden Begriffe Generation und Gedächtnis kurz skizzieren. In diesem Zusammenhang möchte ich auch mein Verständnis und meinen Zugang zum Begriff der ‚Kinder der Täter‘ darlegen, der in einer Beschreibung des Interviewsamples noch konkretisiert werden wird.

    Da meine Arbeit großteils auf Interviews mit ‚Kindern von Tätern‘ basiert, sollen in einem eigenen Kapitel auch das Zustandekommen der Interviews (meine Recherche und die Auswahl meiner InterviewpartnerInnen) sowie die Interviewsituation selbst (meine Methode, das spezifische Interviewsetting und der Kontext der Interviews) nachgezeichnet und kritisch reflektiert werden. Ich verstehe ein Interview als Erinnerungsort, als Ort der gemeinsamen Erinnerungsproduktion und als soziale Interaktion zwischen meinen InterviewpartnerInnen als Erinnernde und mir als Interviewerin. Nicht zuletzt geht es in diesem Kapitel auch um Fragen der Interpretation und der Darstellbarkeit oder anders formuliert: um meine Rolle als Interpretin und Arrangeurin der im Interview vergegenwärtigten Erinnerungen.

    In einem kurzen Abriss über den vergangenheitspolitischen Kontext in Österreich soll zum einen die vergangenheitspolitische Ausgangsposition von 1945 sowie die Politik mit der Vergangenheit in Österreich (Stichwort: Opferthese) skizziert werden. Zum anderen werde ich einige historische Fakten und Entwicklungen (Entnazifizierung) nachzeichnen, von denen meine Untersuchungsobjekte als ‚Kinder der Täter‘ aufgrund der familiären NS-Involvierung möglicherweise (indirekt) betroffen waren.

    Im Kapitel über das Familiengedächtnis möchte ich Grundzüge der familiären Kommunikation über den Nationalsozialismus aufzeigen. Es wird darin untersucht, wie der Nationalsozialismus in den (NS-)Familien erinnert und an die nachfolgende Generation weitergegeben wurde. Ich gehe davon aus, dass, entgegen der allgemeinen Auffassung, in den Familien keinesfalls nur geschwiegen wurde. Deshalb ist also zu fragen: Was und wie wurde erzählt, andererseits aber auch: Was wurde verschwiegen, ausgeblendet oder tabuisiert? Gibt es im Milieu der ‚Ehemaligen‘ ein Gegengedächtnis zur offiziellen ‚Opferthese‘? Welchen Platz nehmen die NS-Verbrechen und der Antisemitismus im Familiengedächtnis ein? Nicht zuletzt geht es auch um den interaktiven Charakter des Familiengedächtnisses, d.h. um die (aktive) Rolle der ‚Kinder der Täter‘ und die Frage, warum diese oft nicht näher nachgefragt haben und somit den familiären ‚Pakt des Schweigens‘ so lange mitgetragen haben?

    Neben den familiären Narrativen war die NS-Nachfolgegeneration auch sekundären Gedächtnisträgern ausgesetzt. Im Kapitel Irritationen wird daher nach Faktoren und Einflüssen ‚von außen‘ gefragt, die das Familiengedächtnis entweder bestätigt oder aber in Frage gestellt haben und möglicherweise zu einer Loslösung der ‚Kinder der Täter‘ aus ihrem Herkunftsmilieu geführt haben. Welche Funktion erfüllten diesbezüglich die deutsch-nationalen Organisationen und Jugendlager, die Schule und die LehrerInnen, die Medien oder ein Orts- und Milieuwechsel? In diesem Kontext soll auch kritisch hinterfragt werden, ob ‚1968‘ tatsächlich als Aufstand der Söhne/Töchter gegen die Väter als Täter gedeutet werden kann, wie es gemeinhin getan wird.

    Die zwei folgenden großen Kapitel ‚Vaterbilder‘ und ‚Mutterbilder‘ bilden das zentrale Kernstück meiner Arbeit. Im Kapitel Vaterbilder werden verschiedene Vaterpräsentationen meiner InterviewpartnerInnen in Form von Fallbeispielen vorgestellt und auf folgende Fragen hin untersucht: Wie wird der jeweilige Vater erinnert und welchen Stellenwert nimmt dabei der Nationalsozialismus im Allgemeinen und die potenzielle oder tatsächliche Täterschaft des Vaters im Besonderen ein? Werden die eigenen Väter überhaupt als ‚Täter‘ wahrgenommen und wenn ja, welche der allgemein kursierenden ‚Täterbilder‘ werden mit dem eigenen Vater in Zusammenhang gebracht? Aufgezeigt wird unter anderem auch, welche Strategien es bei den NS-Nachkommen gibt, die eigenen Väter – oft entgegen der historischen Faktenlage – aus dem Täterkreis auszuschließen und sie somit zu entlasten.

    Im Kapitel Mutterbilder soll gefragt werden, welchen Stellenwert die Mütter in den Auseinandersetzungen der Söhne und Töchter mit ihrer NS-Familiengeschichte einnehmen. Auch hier wird anhand von Fallbeispielen aufgezeigt, wie die Nachkommen ihre Mütter (als Erzieherin und Vermittlerin, als politische Akteurin) wahrnehmen und nachträglich bewerten. Wirken die allgemeinen Vorstellungen der Frauen als passive ‚Opfer‘ in der NS-Nachfolgegeneration fort und bleiben die Mütter somit (politisch) weitgehend verschont oder werden auch sie fallweise belastet und mit einer möglichen ‚Schuld‘ in Zusammenhang gebracht? Nicht zuletzt soll in diesem Kapitel auch die tragende Rolle der Mütter im Familiengedächtnis herausgearbeitet und kritisch hinterfragt werden.

    Die NS-Nachkommen bewegen sich im Spannungsfeld von Nichtwissen – Ahnen – Wissen. Dieser zentrale Aspekt soll in einem eigenen Kapitel vertieft werden. Das (Un-)Wissen dieser Generation spiegelt bis zu einem gewissen Grad den allgemeinen Bewusstseins- und Wissensstand und die gesellschaftlich vorherrschenden Vorstellungen über den Nationalsozialismus in Österreich wider. Subjektive, emotionale Faktoren (Abwehr, Schonung) spielen dabei eine ebenso große Rolle wie objektive Möglichkeiten, sich Zugang zum Wissen zu verschaffen und die Schwierigkeiten, mit dem Wissen konkret umzugehen. Mit einem besonders interessanten und berührenden Fallbeispiel, in dem eine Tochter erst in jüngster Zeit erkennen musste, dass ihr Vater entgegen ihrer bisherigen Annahme tief in NS-Verbrechen verstrickt gewesen war, möchte ich aufzeigen, wie schwierig und schmerzhaft die Infragestellung oder gar die Revision eines vermeintlich unumstößlichen Konstruktes ‚Wissen‘ sein kann.

    Im abschließenden Kapitel Negatives Erbe? geht es um die Selbstverortungen und Selbstpräsentationen der NS-Nachkommen, d.h. um ihren eigenen Blick auf sich selbst. Es wird darin aufgezeigt, wie sie mit den Fremd- und Selbstzuschreibungen als ‚Kinder der Täter‘ umgehen und ob sie sich von dieser Kategorie abgrenzen oder ihr auch zuordnen. Gefragt wird auch, inwieweit die NS-Nachkommen ihre belastete Familiengeschichte als ‚negatives Erbe‘ erleben (als Last, Schuld oder moralische Verpflichtung) und welche Konsequenzen sie daraus ziehen.

    Diese grundlegende Frage wird im abschließenden Resümee noch einmal in allgemeinerer Form aufgegriffen. Dabei wird sich zeigen, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Formen der Verarbeitung und des Umgangs mit dem familiären NS-Erbe in der zweiten Generation gibt, die ich noch einmal kurz zusammenfassen werde. Den Abschluss der Arbeit bildet ein kursorischer Ausblick auf die dritte Generation, auf die ‚Enkel der Täter‘, die aufgrund der zunehmenden zeitlichen und emotionalen Distanz vermutlich wiederum andere Zugänge zur NS-Familiengeschichte suchen und finden.

    Jeder Text – und somit auch dieser – ist adressiert an ein (imaginiertes) Publikum, an die LeserInnen. Das vorliegende Buch ist das Produkt einer mehrjährigen wissenschaftlichen Untersuchung (Habilitation)24 und dementsprechend umfangreich und komplex ist auch das schriftliche Endergebnis. Ich gehe aber davon aus, dass die Problematik der ‚Kinder der Täter‘ und des Familiengedächtnisses weit über den engen wissenschaftlichen Kreis, die science community, hinaus von Interesse sein könnte. Mein Buch soll daher auch für ein breiteres interessiertes Publikum ohne spezifische Fachkenntnisse zugänglich sein. Aus diesem Grund habe ich für die hier vorliegende Fassung einige methodische und theoretische Ausführungen gekürzt und/oder vereinfacht, Literaturverweise sparsamer eingesetzt und auch einige inhaltliche Aspekte weggelassen.25 Ich habe versucht, der Doppeladressierung – Fachwissenschaft und interessiertes Lesepublikum – gerecht zu werden und einen Mittelweg zwischen den Erfordernissen von thematischer Komplexität, Differenziertheit und nüchterner Analyse einerseits und der notwendigen Vereinfachung, Veranschaulichung und Verständlichkeit andererseits zu finden. Ob ich meinem Selbstanspruch annähernd gerecht werden konnte, werden letztendlich die LeserInnen dieses Buches entscheiden.

    Im Laufe der letzten Jahre konnte ich eine gewisse Diskrepanz zwischen dem großen öffentlichen Interesse (bei Vorträgen, in den Medien usw.) und dem wesentlich geringeren Interesse von Seiten der Wissenschafts- und Förderungspolitik an meiner Arbeit beobachten. Wissenschaftspolitisches Interesse drückt sich immer auch in der Ermöglichung und Unterstützung von größeren Forschungsvorhaben durch eine angemessene Finanzierung aus, auf die ich als ‚freie Wissenschafterin‘ angewiesen bin. Die Anfänge des Projektes reichen weit zurück. Im Studienjahr 1998/99 konnte ich im Rahmen eines Junior Fellowship am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), Wien, eine erste Annäherung an die Thematik gewinnen. Ich möchte mich an dieser Stelle für diese schöne und produktive Zeit beim Team des IFK und dem damaligen Direktor Gotthard Wunberg bedanken. Nach einer Pause mit anderweitigen Forschungsarbeiten erhielt ich im Jahr 2002 nach einigen Schwierigkeiten vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) ein zweijähriges Charlotte-Bühler-Habilitationsstipendium für Frauen für mein Habilitationsprojekt: „Generation und Gedächtnis. Tradierung und Verarbeitung des Nationalsozialismus bei den ‚Kindern der Täter‘". Diese zwei Jahre boten mir die Gelegenheit für eine überaus intensive Forschungstätigkeit, die die Grundlage für die vorliegende Arbeit bildet. Bedanken möchte ich mich auch beim Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien (namentlich bei Fritz Stadler und Oliver Rathkolb), das mir in dieser Zeit einen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt hat.

    Leider war das dritte Forschungsjahr (2005), in dem ich das vorliegende Buch fertig stellen wollte, kaum bzw. nur unzureichend finanziert, da mehrere Anträge auf eine Abschlussförderung abgelehnt wurden. Dass dieses Buch trotzdem wie geplant erscheinen kann, verdanke ich der Unterstützung von verschiedenen Institutionen, denen ich sehr zu Dank verpflichtet bin. Da ist zum einen das Institut für jüdische Kulturgeschichte an der Universität Salzburg, namentlich Gerhard Langer und Helga Embacher, die mir durch ihr Entgegenkommen in einer sehr wichtigen Phase die Weiterarbeit am Buch ermöglicht haben. Auch eine kleine Teilförderung von der Kulturabteilung der Stadt Wien hat zur Fertigstellung hilfreich beigetragen, ebenso wie der Theodor-Körner-Förderungspreis, den ich 2005 für die vorliegende Arbeit erhalten habe. Die Zuerkennung dieses Preises hat mich – ebenso wie das anhaltende Interesse an meiner Arbeit bei Vorträgen, Tagungen und in Lehrveranstaltungen – bei der Fertigstellung des Buches zusätzlich motiviert. Der Studienverlag hat mir von Beginn an einen großen Vorschuss an Vertrauen entgegengebracht und mir darüber hinaus gute Arbeitsbedingungen ermöglicht. Namentlich möchte ich mich dafür bei Martin Kofler, Markus Hatzer sowie bei meiner Lektorin Heike Schober herzlich bedanken.

    Mein ganz besonderer Dank gilt meinen InterviewpartnerInnen, die durch ihre Gesprächs- und Erinnerungsbereitschaft die Grundlage für meine Arbeit geschaffen haben. Ich bin ihnen allen dankbar, dass sie ihre Zeit und Energie geopfert und mir das Vertrauen entgegengebracht haben, ihre Erfahrungen und Erinnerungen mit mir zu teilen. Auch bei jenen vielen GesprächspartnerInnen, mit denen ich im Laufe der letzten Jahre Kontakt hatte, die ich aber aus verschiedenen Gründen nicht für ein Interview herangezogen habe, möchte ich mich bedanken, denn auch die Gespräche mit ihnen sind indirekt in meine Arbeit mit eingeflossen.

    Martin Pollack, Wolfgang Neugebauer, Klaus Hoffer, Horst Christoph, Bertrand Perz, Wolfgang Karlhuber und Martin Kofler waren mir dankenswerterweise mit Hinweisen bei der Recherche nach möglichen InterviewpartnerInnen behilflich. Daniela Gahleitner und Ruth Gutermann haben die mühsame Transkription der Interviews mit großem Engagement und professioneller Umsicht durchgeführt, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bei ihnen bedanken möchte. Mein besonderer Dank gilt auch Doris Gödl für ihre Supervision, die durch ihr kritisch-offenes Interesse und ihre umfassende Sachkompetenz eine wichtige Begleitung meiner Arbeit war. Besonders herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Freundinnen und Kolleginnen Ela Hornung, Maria Mesner und Monika Bernold aus der gemeinsamen Habilitationsgruppe, die mich durch ihr anhaltendes Interesse, ihre Diskussionsbereitschaft und ihre kritischen Anregungen während des gesamten Projektes unterstützt und motiviert haben. Bedanken möchte mich auch bei meinen FreundInnen und ‚ProbeleserInnen‘ Monika Bernold, Ela Hornung, Günther Sandner, Uli Rebhandl und Helga Embacher, die mir durch ihr anregendes Feedback und ihren freundschaftlichen Zuspruch beim Schreiben sehr geholfen haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Günther Sandner, der meine Arbeit von Beginn an interessiert begleitet hat und mich durch seine große Diskussionsbereitschaft, seine vielfältigen Hilfestellungen und scharfsinnigen Anregungen immer unterstützt und motiviert hat. Vor allem sein liebevolles Interesse und die vielen gemeinsamen Unternehmungen außerhalb der Arbeit haben dazu beigetragen, dass die letzten Jahre zu einer für mich überaus produktiven und schönen Zeit geworden sind.

    Begriffsklärungen

    Erinnerung – Gedächtnis – Familiengedächtnis

    Seit Anfang der 1990er Jahre ist ein verstärktes Interesse am Phänomen Erinnerung und Gedächtnis im Allgemeinen und am Nach- und Weiterwirken der ‚Erfahrung Nationalsozialismus‘ im Besonderen festzustellen. Fragen nach der Existenz eines kollektiven Gedächtnisses und seinen spezifischen Ausprägungen1, nach den Abweichungen davon (Gegenerinnerungen) und den daraus resultierenden Widersprüchlichkeiten (gespaltene Erinnerung)2 werden dabei ebenso gestellt wie Fragen nach der Instrumentalisierung von Erinnerung – der Politik mit der Vergangenheit – im engeren Sinne.3 Der mittlerweile unübersichtlich gewordene Gedächtnisdiskurs soll an dieser Stelle nicht noch einmal reproduziert werden, sondern ich möchte im Folgenden nur kurz einige zentrale Begriffe erläutern, die dieser Arbeit zugrunde liegen.

    Maurice Halbwachs hat in den 1920er Jahren den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt, auf den bis heute Bezug genommen wird. Das kollektive Gedächtnis ist nicht als ein universales Gedächtnis zu verstehen, sondern es ist ein Teil der Identität einer sozialen Gruppe und somit immer pluralistisch. Es beruht zwar auf einer „Gesamtheit von Menschen, aber es sind immer die Individuen, die sich erinnern. Das individuelle Gedächtnis ist ein „Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis und verändert sich, je nach Standort und Perspektive, von wo aus man es betrachtet.4 Halbwachs spricht von Erinnerungsmilieus und von Gruppengedächtnissen, die durch geteilte Erfahrungen, durch Nähe und regelmäßige Interaktion entstehen und sich immer wieder aufs Neue reproduzieren.5 Das Milieu von ehemaligen NationalsozialistInnen, die ihren Überzeugungen mehr oder weniger treu geblieben sind und in denen viele meiner InterviewpartnerInnen sozialisiert worden sind, kann als ein solches spezifisches Erinnerungsmilieu verstanden werden. Und auch die Familie hat, wie jede andere soziale Gruppe, ein Gedächtnis, das ebenfalls durch Nähe, Kommunikation und Interaktion der einzelnen Familienmitglieder entsteht.

    Jan und Aleida Assmann haben das Gedächtnismodell von Halbwachs weiterentwickelt und das kollektive Gedächtnis in ein kommunikatives Gedächtnis und ein kulturelles Gedächtnis differenziert.6 Das kommunikative Gedächtnis ist demnach die gelebte und in Zeitzeugen verkörperte Erinnerung, die etwa drei bis vier Generationen, also ungefähr achtzig Jahre umfasst. Das kulturelle Gedächtnis hingegen ist ein von Trägern losgelöstes Gedächtnis, das heißt die institutionell geformte und gestützte Erinnerung, wie sie etwa in Gedenkritualen, Denkmälern, der Geschichtsschreibung usw. zum Ausdruck kommt. Die Grenzen zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis sind in beide Richtungen hin fließend. Denn einerseits war gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit das institutionalisierte Gedenken noch stark von den Erfahrungen und Erinnerungen der Akteure und somit vom kommunikativen Gedächtnis bestimmt. Andererseits speist sich das kommunikative Gedächtnis mittlerweile immer mehr aus außerfamiliären, institutionalisierten Quellen (z.B. Medien, Filmen, öffentliche Diskurse) und ist somit bereits teilweise vom kulturellen Gedächtnis überlagert.7

    Über sechzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus stehen wir – erinnerungspolitisch gesprochen – an der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Die ‚Erlebnisgeneration‘, d.h. die unmittelbar in den Nationalsozialismus involvierte Generation verschwindet sukzessive als Erinnerungsträger, wohingegen die nachfolgenden Generationen zunehmend an Einfluss gewinnen. Die hier untersuchten ‚Kinder der Täter‘ bewegen sich genau an dieser Schwelle, in einer definitorisch nicht präzisierbaren „fließenden Lücke" (floating gap) zwischen den Erinnerungen der ‚Erlebnisgeneration‘ und den kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt.8 Sie waren in ihren Familien – mehr als jede andere Generation zuvor und danach – der kommunikativen Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus durch ihre (Groß-)Eltern als primäre Gedächtnisträger ausgesetzt. Sie waren aber auch schon mit kulturellen Formen des Gedächtnisses an den Nationalsozialismus durch sekundäre Gedächtnisträger im außerfamiliären Bereich (Schule, Medien, Öffentlichkeit) konfrontiert, die als Bestätigungen oder Korrektive des Familiengedächtnisses fungieren konnten.

    Die entscheidende Basis für die unmittelbaren Nachkommen, die ‚Kinder der Täter‘, ist das Familiengedächtnis, das durch Kommunikation und Interaktion der einzelnen Familienmitglieder entsteht und somit eine Erinnerungsgemeinschaft verschiedener Generationen ist. Maurice Halbwachs spricht in diesem Zusammenhang vom „lebendigen Band der Generationen"9, ohne aber näher auszuführen, wie diese intergenerationelle und innerfamiliäre Tradierung von Erinnerung in der Praxis funktioniert. Mit der sozialen Erinnerungspraxis hat sich Peter Burke stärker auseinander gesetzt und den Begriff des sozialen Gedächtnisses geprägt.10 Dabei zeigt sich unter anderem, dass es verschiedene Medien der sozialen Erinnerungspraxis gibt und es sich bei der Weitergabe von Erinnerung um Praktiken des Alltags handelt, die absichtslos, nicht-intentional und en passant erfolgen.11

    Wie ich im Kapitel zur familiären Kommunikation über den Nationalsozialismus noch näher aufzeigen werde, funktioniert auch das Familiengedächtnis nach diesen Prinzipien. Das Familiengedächtnis ist kein statisches Konstrukt und keine große Narration, sondern es ist fragmentiert, veränderlich, entsteht beiläufig und ist als ein Rahmen zu verstehen, innerhalb dessen die familiäre Erinnerung gemeinsam ausverhandelt wird. Oder anders formuliert: Das Familiengedächtnis ist eine gemeinsame Verfertigung von Vergangenheit im Gespräch.12 Von Bedeutung ist auch, dass es nicht die eine Familiengeschichte gibt, sondern viele unterschiedliche Blicke darauf, sodass die einzelnen Familienmitglieder letztendlich durchaus verschiedene Vorstellungen von der Familiengeschichte haben können.13

    Daran anknüpfend möchte ich abschließend noch in aller Kürze auf zwei Begriffe verweisen, die für das Familiengedächtnis und auch für die Erinnerungen meiner InterviewpartnerInnen von zentraler Bedeutung sind: die Rekonstruktion und die Nachträglichkeit. Erinnerung ist immer eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Versatzstücken aus der Gegenwart, was nichts anderes heißt, als dass persönliche Erinnerung und historisches Wissen miteinander verschmelzen und sich überlagern können.14 Die Rekonstruktion vollzieht sich aber nicht beliebig, sondern orientiert sich in vorgezeichneten Bahnen der übrigen Erinnerungen und im Rahmen vom Familiengedächtnis. Der Begriff der Nachträglichkeit aus der Psychoanalyse beschreibt die Fähigkeit, zeitlich zurückliegende Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen psychischen Entwicklungsstufe nachträglich umzuarbeiten.15 Auf die historische Erinnerung angewandt ist damit die nachträgliche lebensgeschichtliche Umschrift der eigenen Erfahrungen und Erinnerungen in sich ständig verändernden Konstellationen (Wissen, Alter, Wertesystem usw.) gemeint. Deshalb erscheint es mir wichtig, erstens offen zu legen, in welchem Kontext und von welcher Position aus meine InterviewpartnerInnen sich erinnern, und zweitens diese Erinnerungen als nachträgliche Re-Konstruktionen im Spannungsfeld von Erfahrung, Wahrnehmung und nachträglicher Deutung zu begreifen.

    Generation/en – Die zweite Generation

    Im Zusammenhang mit dem derzeit zu konstatierenden Interesse an familiären Tradierungsprozessen gewinnt die Kategorie Generation zunehmend an Bedeutung. Aufgrund der Geläufigkeit dieser Kategorie scheint sich eine präzise Definition oft zu erübrigen. Meist bezieht man sich unausgesprochen auf das klassische genealogische Generationenmodell mit einer linearen Eltern-Kind-Enkel-Konstellation. Demgegenüber steht das historisch-soziologische Generationenmodell, das auf den bereits 1928 von Karl Mannheim begründeten Generationsbegriff zurückgreift.16

    Karl Mannheim definiert eine historische Generation als eine bestimmte Position im historischen Fluss, aus der sich ein Erfahrungszusammenhang von gleich gelagerten Jahrgängen ergibt, wobei er zwischen einer Generationslagerung, einem Generationszusammenhang und Generationseinheiten differenziert. Mit dem Begriff der Generationslagerung bezeichnet er das Phänomen der verwandten Lagerung ähnlicher Geburtsjahrgänge im sozialen Raum. Ein Generationszusammenhang hingegen ist mehr als die bloße Präsenz in einer bestimmten historisch-sozialen Einheit und Mannheim zufolge nur dann gegeben, wenn es zwischen den Individuen in einer Generationslagerung eine reale Verbindung von sozialen und geistigen Gehalten (Werte, Erfahrungen) gibt. Diejenigen Gruppen, die innerhalb des Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise bestimmte Erlebnisse verarbeiten, bilden verschiedene Generationseinheiten. Generationseinheiten bedeuten demnach nicht nur eine lose Teilhabe verschiedener Individuen am gemeinsam, aber unterschiedlich erlebten Ereigniszusammenhang, sondern sie entstehen durch ein einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Gestalten und Handeln. Anders ausgedrückt: Ähnlich gelagerte Jahrgänge können verschiedene, ja selbst gegensätzliche Konsequenzen aus ihrer Generationslage ziehen und doch als differente Generationseinheiten Bestandteile eines gemeinsamen Generationenzusammenhanges bleiben.

    Die NS-Forschung stützt sich auf das familiale Generationenmodell (Eltern-Kind-Kindeskind) mit dem ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ als zeitgeschichtlichen Bezugspunkt. Dieser genealogischen Zeitrechnung zufolge sind der ersten Generation jene zuzuordnen, die den Nationalsozialismus als Erwachsene miterlebt und oft auch aktiv mitgetragen haben und im weitesten Sinne mit dem Begriff der ‚Kriegsgeneration‘ oder ‚Erlebnisgeneration‘ bezeichnet werden können. Die unmittelbaren Nachkommen, die Söhne und Töchter, dieser Generation gehören demnach zur zweiten Generation, die in der Beschreibung meines Interviewsamples noch genauer definiert werden. Eine klare Grenzziehung zwischen den Generationen erweist sich als schwierig, weil nur wenige Jahre Altersdifferenz eine gänzlich andere genealogische Einordnung mit anders gelagerten Erfahrungen bedeuten können.17 Trotzdem möchte ich versuchen, meine Forschungsobjekte einerseits von der etwas älteren Zwischengeneration, der ‚Flakhelfer-Generation‘ oder ‚skeptischen Generation‘18, und andererseits von der dritten Generation, der Enkel-Generation19, mit einer wiederum anders gelagerten erinnerungspolitischen Ausgangsposition, abzugrenzen.

    Die ‚Kinder der Täter‘

    Die Angehörigen der zweiten Generation werden oft mit dem Begriff ‚Kinder der Täter‘ bezeichnet. Gegen diese Benennung werden häufig Einwände vorgebracht, die sich vor allem auf das Begriffsfeld ‚Täterschaft‘ beziehen. So wird darauf verwiesen, dass der Begriff des ‚Täters‘ der Kriminologie entstammt und im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus streng genommen nur auf nachweisbare NS-Straftäter anzuwenden wäre. Darüber hinaus bestünde bei einem pauschalen Täterbegriff die Gefahr, dass die unterschiedlichen Nuancen von Täterschaft nivelliert werden und ein Pauschalverdacht gegen eine ganze Generation ausgesprochen würde. Ich halte diese Einwände für durchaus überlegenswert.

    Warum ich aber trotzdem am Begriff ‚Kinder der Täter‘ festhalte, wenn auch mit der gebotenen Distanz, die unter anderem durch die Anführungszeichen zum Ausdruck gebracht werden soll, möchte ich im Folgenden kurz begründen: Bei dem Täter-Begriff, der dieser Arbeit zugrunde liegt, geht es nicht um einen moralisch oder strafrechtlich legitimierten Begriff, sondern vielmehr um eine bewusst ‚pauschalisierend‘ gebrauchte gesellschaftstheoretische Kategorie, die die Angehörigen der ‚NS-(Mit-)Tätergesellschaft‘ in all ihren Facetten umfasst. Die Palette reicht dabei von prominenten NS-(Straf-)TäterInnen, NS-FunktionärInnen und NSDAPMitgliedern über die große Zahl der Wehrmachtssoldaten und Frauen an der ‚Heimatfront‘ bis hin zu den opportunistischen ‚MitläuferInnen‘, die sich an das NS-System auf unterschiedliche Weise angepasst haben. Das erfordert auch ein erweitertes Verständnis von Täterschaft, das nicht ‚nur‘ auf die konkrete Beteiligung bei NSVerbrechen abzielt, sondern auch viele andere Nuancen von (Mit-)Täterschaft und politischer Verantwortung gedanklich mit einschließt.

    Die zunehmend differenzierte NS-Forschung zeigt, dass es im NS-Regime in der Tat viele Möglichkeiten gab, in das NS-Unrechtssystem ‚involviert‘ gewesen und dabei ‚schuldig‘ geworden zu sein – unabhängig von der NS-Funktion, vom Geschlecht und dem Einsatzort: Sei es als ‚kleiner‘ Blockwart, Ortsgruppenleiter oder Ortsbauernführer an der ‚Heimatfront‘; sei es durch Denunziation oder das Verbreiten von NS-Propaganda; sei es durch das Schmieren von antisemitischen Parolen und das Befolgen des ‚Judenboykotts‘ oder beim Verhöhnen und Demütigen der Juden und Jüdinnen nach dem ‚Anschluss‘ 1938; sei es bei der Administrierung der ‚Arisierungen‘ (der Wohnungen, Geschäfte, Möbel, Vermögen usw.), von denen so viele in Österreich (bis heute) profitier(t)en; sei es als BefürworterInnen, BürokratInnen und NutznießerInnen der ‚Euthanasie‘ und des Zwangsarbeitereinsatzes; sei es als passive Zu- und WegseherInnen bei den so genannten ‚Todesmärschen‘, wo junge Burschen und alte Männer als deren Bewacher sogar zu Mördern werden konnten – die Liste möglicher Täterschaften ließe sich beliebig fortsetzen.

    Dieser breit gefächerte Täter-Begriff wird im bewussten Gegensatz zum Begriff der ‚Opfer‘ verwendet, der ebenfalls in sich different war (Juden, Widerstandskämpfer, ‚Zigeuner‘, ‚Asoziale‘ usw.) und alle umfasst, die aus rassischen oder politischen Gründen aus der so genannten ‚Volksgemeinschaft‘ ausgeschlossen wurden bzw. aktiv dagegen angekämpft haben. Die begriffliche Dichotomie Täter – Opfer bezieht sich in erster Linie auf die unterschiedliche erinnerungspolitische Grundkonstellation von Nachkommen von Opfern und Tätern, die der zentrale Ausgangspunkt meiner Fragestellungen ist. Damit soll aber nicht das Faktum ignoriert werden, dass es viele Grauzonen zwischen diesen Polen gibt und Personen in unterschiedlichen Situationen sowohl als Täter als auch als Opfer agieren bzw. wahrgenommen werden können. So konnte beispielsweise jemand, der beim ‚Anschluss‘ 1938 an den unmenschlichen Schikanen gegenüber Juden beteiligt war oder die Expansionspolitik des NS-Regimes befürwortet hat, wenige Jahre später durch traumatische Kriegserfahrungen, schwere Verletzungen oder Kriegsgefangenschaft im gewissen Sinn auch zu einem ‚Opfer‘ dieses Krieges werden.

    Für Österreich ergibt sich eine besondere Situation, da hier aufgrund des lange Zeit wirksamen Selbstverständnisses als ‚Opfer‘ im Vergleich zu Deutschland das allgemeine Bewusstsein, Bestandteil bzw. Nachkommen einer ‚(Mit-)Tätergesellschaft‘ zu sein, wesentlich geringer ist und sich somit die Opfer-Täter-Konturen stark verwischen.20 Österreich war zwar durch den ‚Anschluss‘ und den damit erfolgten Verlust der staatlichen Souveränität als Staat ‚das erste Opfer Hitlers‘, gleichzeitig muss die österreichische Gesellschaft aufgrund der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz des Nationalsozialismus und der starken Beteiligung am NS-Unrechtssystem strukturell als ‚(Mit-)Tätergesellschaft‘ verstanden werden. Diese Feststellung bedeutet selbstverständlich nicht, dass alle ÖsterreicherInnen als konkrete TäterInnen anzusehen sind und es nicht auch partielle Gegnerschaft, Resistenzverhalten und Widerstand einzelner Personen und Gruppen gegen den Nationalsozialismus gegeben hat. Vor diesem Hintergrund muss Österreich, ebenso wie die BRD und die DDR, als NS-Nachfolgestaat und die österreichische Nachkriegsgesellschaft demzufolge als NS-Nachfolgegesellschaft begriffen werden.21

    Es geht mir aber nicht nur um die Täterschaft als erwiesenes historisches Faktum, als durchgeführte Tat, sondern immer auch um die (potenzielle) Täterschaft als Denkmöglichkeit, als Imagination. Damit eröffnet sich eine zusätzliche Dimension, jene der Wahrnehmung bei den Nachkommen, deren Auseinandersetzungen mit der NS-Familiengeschichte häufig um diese potenzielle Täterschaft der Eltern kreisen. Wie ich noch aufzeigen werde, berührt die Vorstellung/Befürchtung, dass die eigenen Eltern möglicherweise ‚schuldig‘ geworden sein könnten, tatsächlich einen zentralen Punkt der ganzen Problematik. Viele beziehen sich selbst auf diese Kategorie, indem sie sich ihr entweder zuordnen oder sich aber auch von ihr abgrenzen. Da vor allem die Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Vorstellungen der NS-Nachkommen im Zentrum meiner Arbeit stehen, soll sich diese Dimension auch auf der begrifflichen Ebene widerspiegeln.

    Die Problematik des Begriffes ‚Kinder der Täter‘ ist mir bewusst und ich kann die Ablehnung und Abwehr durchaus nachvollziehen.22 Die Gründe der Ablehnung können unterschiedlich motiviert sein: Manche sehen sich durch diese Zuschreibung auf einen bestimmten Aspekt ihrer Biographie (der familiären Herkunft) reduziert, wohingegen andere, für sie möglicherweise wichtigere Identitäten dadurch ausgeklammert bleiben. Andere wiederum – und das ist vermutlich der tiefer liegende Impuls der Ablehnung – sehen darin eine Vorverurteilung des Vaters/der Mutter, denn allein mit dem Begriff steht eine potenzielle Täterschaft im Raum, was Schrecken hervorruft und Abwehr produziert.

    Dieser Abwehr-Mechanismus ist mir durch eine scheinbar banale Beobachtung noch klarer und verständlicher geworden: Im Laufe meiner Arbeit habe ich den Begriff ‚Kinder der Täter‘ wohl hunderte Male getippt. Da ich aufgrund meines hohen Schreibtempos sehr zu Tippfehlern neige, passierte es mir öfters, dass ich mich um eine Taste vertippte und am PC-Bildschirm anstelle dessen ‚Kinder der Töter‘ zu lesen war. Es war diese winzige und doch so verstörende Veränderung, die Verschiebung von der Abstraktion (Täter) zur Konkretion (Töter = Mörder), die mich erschrecken ließ und mir die Brisanz dieses Begriffes drastisch vor Augen geführt hat. Mein Erschrecken darüber – so könnte ich mir vorstellen – spiegelt das Erschrecken und die instinktive Abwehr der Nachkommen wider, weil sie ihre eigenen Väter/Mütter durch die Benennung als ‚Täter‘ assoziativ mit Mord in Zusammenhang gebracht sehen.

    Das Interview als Erinnerungsort

    Pierre Nora hat den Begriff der ‚Gedächtnisorte‘ geprägt.1 Diese zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte angesiedelten Orte der Produktion, Überlieferung und Konservierung von Erinnerung sind nicht nur im topographischen Sinn (Archive, Museen, Denkmäler), sondern auch im symbolischen (Jubiläen, Jahrestage) und funktionalen Sinn (Autobiographien, Historiographie) zu verstehen. In dieser Hinsicht sind auch meine Interviews mit ‚Kindern von Tätern‘ Gedächtnisoder Erinnerungsorte, wo Erinnerung aktiviert, vergegenwärtigt und (neu) arrangiert wird. Es geht dabei vor allem um die unmittelbare Interviewsituation als Ort der Erinnerungsproduktion und als soziale Interaktion zwischen meinen InterviewpartnerInnen als Erinnernde und mir als Interviewerin. Von Bedeutung sind aber auch die Vorbedingungen und das Zustandekommen der Interviews sowie meine spätere Rolle als Interpretin und Arrangeurin der im Interview vergegenwärtigten Erinnerungen.

    Die Recherche

    Die Frage, wie ich zu meinen InterviewpartnerInnen gekommen sei, wurde und wird mir immer wieder gestellt. Es ist in der Tat eine zentrale Frage, denn die erfolgreiche Suche nach möglichen GesprächspartnerInnen war die Grundvoraussetzung für das Gelingen meines Projektes und sie gibt darüber hinaus Auskunft über Interesse und Resonanz auf mein Forschungsvorhaben. Ich verstehe die Recherche und Kontaktaufnahme somit als integralen Bestandteil des Forschungsprozesses.

    Meine Erwartungshaltung vor Beginn des Projektes war eine ‚optimistische‘, mussten doch in einem Land wie Österreich, das strukturell und personell tief in den Nationalsozialismus verstrickt war, viele NS-Nachkommen leben, denen ich mich auf verschiedenen Wegen annähern wollte: Einige ‚Kinder der Täter‘ waren mir bereits vor Projektbeginn durch meine Vorarbeiten und aus den Medien bekannt.2 Zum anderen kannte ich aus meinem persönlichen Umfeld einige ‚Kinder der Täter‘, sowohl im beruflichen Kontext, da viele HistorikerkollegInnen dieser Generation aus einem NS-Elternhaus stammen, als auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Im Laufe des Projektes sollte sich herausstellen, dass sich dieser Pool noch erheblich erweitern sollte und die Suche nach den NS-Nachkommen tatsächlich nicht schwierig war. Nicht nur einmal passierte es mir, dass ich beispielsweise bei einem Fest mit mir nicht bekannten ‚Freunden von Freunden‘ ins Gespräch kam, wir uns über unsere beruflichen Tätigkeiten austauschten und eine kurze Erwähnung meines Forschungsthemas in ein langes lebhaftes Gespräch mündete, wo sich der/die interessierte GesprächspartnerIn schließlich als ‚Betroffene/r‘ herausstellte.3 Das offensichtliche Interesse an meinem Thema hat mich nicht nur stark motiviert, sondern brachte mir auch viele interessante Einblicke in individuelle Kindheitserinnerungen und den unterschiedlichen Umgang damit.

    Meine ersten konkreten Recherchen nach Interviewpersonen begannen mit Hinweisen von KollegInnen, die zum Nationalsozialismus arbeiten, sowie mit einer systematischen Lektüre von (biographischer) Literatur über den Nationalsozialismus in Österreich. Gleichzeitig wurde mein Forschungsprojekt in einem Artikel in der Tageszeitung Der Standard (erschienen am 23.11.2002) vorgestellt, wobei ich eine kleine Hoffnung hegte, dass sich als positiver Nebeneffekt eventuell der/die eine oder andere GesprächspartnerIn melden könnte. Ausgehend davon, dass im Rahmen des christlich-jüdischen Dialoges in Österreich (ähnlich wie in Deutschland) möglicherweise AnsprechpartnerInnen zu finden seien, habe ich einen kurzen Aufruf im E-Mail-Verteiler eines christlich-jüdischen Dialogforums platziert (der ohne mein Zutun auch in der jüdischen Zeitschrift Die Gemeinde erschien).

    Während sich auf den Aufruf im christlich-jüdischen Bereich nur vereinzelt Interessierte meldeten, übertrafen die Reaktionen auf den Standard-Artikel alle meine Erwartungen. Die enorme Resonanz ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass dieser von der Redaktion mit dem auffordernden Titel „Suche nach den Kindern der Täter" versehen wurde und – für alle Fälle gewissermaßen – eine Kontaktadresse angegeben war. Die vielen Reaktionen verdeutlichten aber auch ein auffallend großes Interesse am Thema und eine große Gesprächsbereitschaft bei den ‚Betroffenen‘ selbst. Der erste Anruf erreichte mich bereits am frühen Samstagvormittag (der Artikel erschien in einer Wochenendausgabe) unter meiner Privatnummer, die der Anrufer offenbar selbst recherchiert hatte. Dieser Anrufer blieb übrigens der Einzige, der mein Forschungsvorhaben aufs Heftigste kritisierte (nach dem Motto: einmal müsse endlich Schluss sein) und bei dem eine von latenter Aggression getragene Abwehr zum Ausdruck gekommen ist.

    Zu Beginn der Arbeitswoche setzte schließlich eine Flut von Reaktionen ein, mit deren Beantwortung ich in den darauf folgenden zwei Wochen beschäftigt war. Unter den AnruferInnen waren beispielsweise einige TherapeutInnen, die sich beruflich für das Thema interessierten, teilweise aber auch persönlich davon betroffen waren; es meldete sich ein Regisseur/Produzent, der eine filmische Verarbeitung des Themas überlegte, wobei auch bei ihm die persönliche Familiengeschichte eine Rolle spielte; und schließlich meldeten sich einige, die mich in meinem Projektvorhaben einfach nur bestärken wollten, wie etwa der Wagner-Urenkel, Gottfried Wagner, der sich selbst seit Jahren mit seiner Familiengeschichte auseinander setzt.4 Die meisten der AnruferInnen waren aber ‚betroffene‘ Kinder mit (mehr oder weniger) nationalsozialistischem Familienhintergrund, die sich von dem Artikel persönlich angesprochen fühlten. Das heißt: Sie waren mögliche InterviewpartnerInnen, mit denen ich Vorgespräche führte, biographische Daten abklärte und sie in ein breit angelegtes Interviewsample aufnahm (eine Entscheidung über die endgültige Auswahl wollte ich erst nach dem Sammeln aller Informationen treffen). Unter den AnruferInnen waren aber auch viele, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in mein Interviewsample passten. Sie gehörten der etwas älteren Zwischengeneration (HJ, BDM, Flakhelfer) oder der dritten Generation (Enkel) an, oder es stellte sich heraus, dass es doch keine direkte familiäre Verstrickung gab, weil der Vater ihrer Darstellung nach ‚nur‘ bei der Wehrmacht und ‚kein Nazi‘ war. Ich habe mich oft gefragt, warum sich diese AnruferInnen trotz ihrer Verneinungen und Versicherungen von der „Suche nach den Kindern der Täter" angesprochen gefühlt hatten. Spricht daraus nicht auch eine gewisse Unsicherheit, ein Unwissen, eine Ahnung, ja vielleicht ein insgeheimer Verdacht, dass es doch anders gewesen sein könnte?

    Interessant waren auch die unterschiedlichen Formen der (telefonischen) Gespräche, viele AnruferInnen waren sehr emotional, einigen war anzumerken, welche Überwindung es sie gekostet hatte, sich bei mir zu melden, und manche konnten/wollten nur sehr zögerlich-vorsichtig über ihre Familiengeschichte sprechen. Andere wiederum hatten keine Scheu, mir bereits im Vorgespräch detailliert ihre persönliche Geschichte anzuvertrauen. Bemerkenswert ist auch, dass selbst noch lange Zeit nach dem ersten Ansturm Kontaktaufnahmen erfolgt sind, mit der Begründung, dass sie erst später durch Bekannte auf den Artikel aufmerksam gemacht worden wären, oder dass sie den Artikel „verlegt oder sich schlicht nicht früher „getraut hätten. Insgesamt werte ich diese vielen, fast ausschließlich positiv-zustimmenden Gespräche als Ausdruck eines offensichtlich existierenden Bedürfnisses, sich mit der eigenen ‚belasteten‘ Familiengeschichte zu beschäftigen, und sie sind für mich vor allem eine unschätzbar wichtige Erfahrung, die – so hoffe ich – indirekt in meine Arbeit eingeflossen ist.

    Nur mit einigen dieser GesprächspartnerInnen habe ich später Interviews durchgeführt, da ich bewusst nicht nur Personen, die sich von sich aus gemeldet hatten, sondern auch schwerer zugängliche NS-Nachkommen für ein Interview gewinnen wollte. Dazu gehören jene Söhne und Töchter, die sich nicht kritisch mit der Familiengeschichte auseinander setzen, sondern ihren NS-Eltern (oft auch dem Nationalsozialismus) sehr affirmativ gegenüberstehen und sich manchmal auch politisch ‚rechts‘ engagieren. Als bekanntestes Beispiel dafür kann der langjährige FPÖ-Obmann Jörg Haider angeführt werden, der mich allerdings weniger als persönlicher Einzelfall interessiert, sondern vielmehr als Vertreter seiner Generation, der als politisches Sprachrohr einer affirmativen Haltung zur ‚Kriegsgeneration‘ fungierte.5 Auch von vielen anderen mehr oder weniger bekannten FPÖ-PolitikerInnen wusste ich, dass sie aus ehemaligen nationalsozialistischen Familien kommen, aufgrund der Vagheit der Informationen und den Zugangsschwierigkeiten habe ich letztendlich niemanden davon interviewt. Denn oft erweist sich die ‚Prominenz‘ bzw. Exponiertheit von GesprächspartnerInnen als Nachteil, z.B. durch Schwierigkeiten bei der Anonymisierung oder durch ein routiniertes Sprechverhalten, das oft kaum über bereits in der Öffentlichkeit Gesagtes hinausgeht. Schwierigkeiten bei der Recherche ergaben sich auch im rechtsextremen Milieu, wo ich ebenfalls von einigen NS-Nachkommen wusste, zu denen ich allerdings keinen Zugang fand, wobei ich nicht verhehlen möchte, dass ich von einer gewissen Scheu und Unlust, mich diesem Milieu auszusetzen, nicht frei war. In dieser Hinsicht kam mir der Zufall zur Hilfe, denn unter jenen AnruferInnen, die sich auf den Standard-Artikel gemeldet hatten, war auch ein Mann, der nach eigenen Angaben diesem rechten Umfeld (schlagende Burschenschaft, deutschnationaler Flügel der FPÖ) zugeordnet werden kann und der mir später als Interviewpartner (Pseudonym: Hans Cerny) zur Verfügung gestanden ist.

    Parallel zu meinen Recherchen hat sich – wie so oft bei Oral History Projekten – das so genannte ‚Schneeballsystem‘ bewährt. Dabei handelte es sich meist um Hinweise meiner Gesprächs- oder InterviewpartnerInnen, die mir Bekannte aus ihrer Kindheit oder ihrem derzeitigen Umfeld nannten, die ebenfalls aus nationalsozialistischen Familien stammten und möglicherweise für ein Interview in Frage kommen könnten. Diese persönliche Vermittlung bei der Kontaktaufnahme hatte den Vorteil, dass sie oft als ‚Eintrittsbillett‘ zu diesen Personen fungierte und ich auf diese Weise zu InterviewpartnerInnen gekommen bin, zu denen ich sonst keinen Zugang gehabt hätte.

    Die Kinder der prominenten NS-Täter

    Eine sehr spezielle Gruppe möglicher InterviewpartnerInnen bilden die Nachkommen von ‚prominenten‘ Nationalsozialisten (d.h. bekannten NS-Kriegsverbrechern, hochrangigen NS-Funktionären wie Gauleiter usw.), denen zwar nicht mein Hauptinteresse gilt (darin unterscheide ich mich bewusst von Interviewsammlungen wie von Dan Bar-On oder Gerald Posner6), die ich aber zu Beginn des Projektes nicht von vornherein ausschließen wollte. Die Recherche nach diesen ‚Kindern der Täter‘ im engeren Sinne kam einer Detektivarbeit gleich, die sich sehr langwierig, aber auch spannend gestaltete. Bei meiner Recherche konnte ich zwar auf mein Vorwissen als Zeithistorikerin zurückgreifen, das aber durch eine zielgerichtete Lektüre (auto-)biographischer Literatur zum Nationalsozialismus bzw. NS-Fachliteratur mit biographischen Hinweisen ergänzt werden musste. Während ich bisher bei meiner Suche von den ‚Kindern‘ ausgegangen war, wählte ich nun den umgekehrten Weg, d.h. ich ging von bekannten ‚Tätern‘ aus (beispielsweise von den Gauleitern

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