Schattenfamilien: Tief muss man graben, um das Licht hinter euren Schatten zu entdecken
Von Irene Eckwolf
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Über dieses E-Book
Diese Fragen beschäftigen nicht nur die sogenannten "Nachkriegskinder"oder "Nachkriegsenkel", die Jahrgänge 1950 bis 1970, sondern zunehmend auch die heute jungen Menschen.
Durch das Lesen realer Zeit-Dokumente, wie die Briefe eines damals Zwanzigjährigen, gewinnen wir eine neue Sicht auf diese, von Gewalt und Krieg geprägte Zeit in Deutschland.
Sich mit den Spuren unserer Kriegsvergangenheit richtig auseinanderzusetzen ist heute, in den Zeiten von Hass und Terror, wichtiger denn je.
Die Reise in das Schattenreich der eigenen Herkunftsfamilien birgt unfassbar viele überraschende Erkenntnisse ...
Irene Eckwolf
Irene Eckwolf, 1955 als zweites Kind in eine Großfamilie hineingeboren, bereicherte ihr Leben schon früh mit der Welt der Bücher. Nach dem Wiederentdecken historischer Familiendokumente entstand ihr zeithistorisches Projekt "Schattenfamilien". Ihr Motto lautet: Neugierig bleiben, "denn Neugier ist die untrügliche Begleiterscheinung eines tatkräftigen Intellektes."
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Buchvorschau
Schattenfamilien - Irene Eckwolf
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1 - Die Unwissenheit
Kapitel 1.2 - Verdrängungsstrategien
Kapitel 1.3 - Unbeschwerte Kindheit
Kapitel 1.4 - Die eigene Geschichte
Kapitel 2 - Die mütterliche Familie
Kapitel 2.1 - 40 „glückliche" Jahre als Ehepaar
Kapitel 2.2 - Die Familienlügen
Kapitel 2.3 - Aufarbeitung von Familiengeheimnissen
Kapitel 2.4 - Der verlorene Sohn Stephan
Kapitel 2.5 - Stephans Verhängnis
Kapitel 2.6 - Das Vermächtnis - die „Baracke"
Kapitel 2.7 - Das neunte Kind -Gabriele
Kapitel 2.8 - Sexuelle Gewalt im und nach dem Zweiten Weltkrieg
Kapitel 3 - 60 Jahre nach Kriegsende
Kapitel 3.1 - Fazit-Perfekte Verschleierungstaktik
Kapitel 4 - Die väterliche Familie
Kapitel 4.1 - Briefe-Lebensbeschreibungen-Stationen eines Lebens
Kapitel 5 - Pflichten - Der Reicharbeitsdienst
Kapitel 5.1 - So viele Briefe aus Neustadt
Kapitel 5.2 - Ausbildung - Studium
Kapitel 5.3 - Landdienst - Erntehilfe
Kapitel 5.4 - Berlin - 1939
Kapitel 6 - Einberufung zum Heeresdienst
Kapitel 6.1 - Truppenübungsplatz Schwiebus
Kapitel 6.2 - Marschbefehl und Fronteinsatz
Kapitel 6.3 - Frankreich - Erste Verwundung
Kapitel 6.4 - Bemühungen und Sorgen der Eltern
Kapitel 6.5 - Zwei weitere Jahre in Berlin- März 1940 bis Dezember 1942
Kapitel 7 - Erneute Einberufung - Russland
Kapitel 7.1 - Erneute Verwundung
Kapitel 7.2 - Lazarettzeit: Saboroshje / Lemberg / Ratibor
Kapitel 7.3 - Malente: Marine-Lazarett
Kapitel 7.4 - Im Jahr 1944 – Wehrmachtsverwaltungstechnische Einsätze
Kapitel 7.5 - 1945 - Kriegsende und persönliche Verluste
Kapitel 8 - Nach 1945 - Alles auf Neuanfang
Kapitel 8.1 - Ein eigenes Leben- Neues Studium
Kapitel 8.2 - Familiengründung
Kapitel 9 - Historisches - Schleswig-Holstein im Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg
Kapitel 9.1 – Verluste - Der Zweite Weltkrieg in Zahlen und Fakten
Anhang 1 – Orte – Stationen einer Zeitreise
Anhang 2 – Landkarten
Anmerkungen
VORWORT
In den Zeiten von zunehmendem Hass, Terrorismus, Angst und Gewalt, in denen wir alles dafür tun, unsere Unabhängigkeit und Menschlichkeit zu bewahren, kommt die Erinnerung hoch an die unsagbaren Morde, Gewalttaten und den Krieg im Zeichen des Nationalsozialismus hier in unserem Land vor siebzig Jahren. Häufig schon bestand eine Unzufriedenheit damit, zu wenig über die Rolle meiner eigenen Vorfahren im damaligen Unrechtsregime zu wissen. Um mich endlich richtig damit auseinandersetzen zu können, befasse ich mich mit einem schon länger geplanten Projekt, einer familienbezogenen Dokumentation über Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus, dabei gewinne ich Erkenntnisse, die ich so nicht erwartet hätte, obwohl ich sie eigentlich hätte erwarten können.
Während dieser Arbeit stoße ich auf einige jahrzehntelang bewahrte Familiengeheimnisse, die theoretisch viel früher hätten offenbart werden können, wenn ich nur richtig nachgeschaut hätte, mit offenen Augen. In etlichen Briefen, Unterlagen aus dem Nachlass meiner Mutter, ihre Familie betreffend, sind diese Geschehnisse beschrieben worden, aber ich hatte sie mir nie wirklich genau angesehen. Vielleicht haben andere aus dieser Familie mehr gewusst, aber es besteht eine Hemmschwelle, irgendeinen danach zu fragen, zumal die damals direkt Beteiligten nicht mehr am Leben sind.
Eigentlich wollte ich vorrangig über die Briefe meines Vaters berichten, aber dann entwickelte sich eine Eigendynamik, die dazu führte, dass es notwendig erschien, die Geschichte meiner Mutter-Familie der Vollständigkeit halber mit einzubeziehen.
Bei den Briefen handelt sich um reale Zeit-Dokumente, die von meinem Vater Johannes sowie Angehörigen meiner Mutter in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges verfasst wurden und die uns Nachkommen, sowohl denjenigen meiner Generation als auch den jüngeren, ein besseres Bild vermitteln von der Zeit, über die man inzwischen zwar mehr weiß, als ich es mir in meiner Kindheit und Jugend vorstellen konnte, die aber weiterhin entdeckungsfähig bleibt.
Die Namen der involvierten Personen sind durch Initialen abgekürzt bzw. geändert, damit keiner der Nachkommen der betreffenden Familien mit einbezogen wird.
Denn es ist meine Geschichte, mein Anliegen, in der ich natürlich auch meine Sichtweise zum Ausdruck bringen möchte. Die Recherchen begannen, nachdem ich mit großem Interesse die Bücher „Die vergessene Generation - Kriegskinder brechen ihr Schweigen und „Kriegsenkel
von Sabine Bode gelesen habe. Ausschlaggebend für das Projekt ist die Existenz eines Ordners gesammelter Briefe meines Vaters, Jahrgang 1918, die er an seine Familie als junger Mann vor und während des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat. Sein Vater hatte alle Briefe aufgehoben und abgeheftet (es ist ein recht dicker Ordner), sowie alle Dokumente, die seinen Sohn betreffen. Alle Briefe durchzulesen und anschließend zu dokumentieren war mein erstes Anliegen, das aber nach zwanzig Seiten Dokumentation einer Pause bedurfte, da ich mit dem Gelesenen teilweise nicht umgehen konnte und folgerichtig den Ordner erst einmal ruhen ließ.
Nach der Lektüre des Buches „Nachkriegskinder", ebenfalls von Sabine Bode, ist mir einiges klar geworden, so dass ich neuen Mut fasste, um mich wieder mit den Briefen zu beschäftigen. Dabei stellte sich schnell heraus, dass ich ein falsches bzw. eigentlich gar kein Bild von meinem Vater gehabt hatte, denn mit uns wurde nicht über diese Zeit geredet, so dass ich mir meine eigenen Vorstellungen bastelte, in denen meine Vorfahren aller Wahrscheinlichkeit nach nur Opfer des Krieges waren. Nach der Lektüre der ersten zwanzig Briefe hielt ich das Gegenteil für wahr und war komplett überfordert. Nach meinem zweiten Anlauf stellt sich alles viel differenzierter dar und ich bin sehr überrascht, positiv überrascht, dass sich dieser damals junge Mann von zwanzig Jahren so intelligent, gefühlvoll und lebhaft ausdrücken und empfinden konnte.
Meine Vorstellung ist, dass diese Briefe und die Geschichten dahinter, gerade junge Leute, die die damalige Zeit nicht nachempfinden können, sehr interessieren könnten und daher in irgendeiner Art und Weise öffentlich gemacht werden sollten. Diese besonderen Zeit-Dokumente anderen Menschen zugänglich zu machen, ist eine wichtige Möglichkeit zur Erweiterung des zeithistorischen Horizontes. Um alles möglichst zeitlich korrekt wiedergeben zu können, durchforstete ich auch längst vergessene Dokumente aus dem Nachlass meiner Mutter und stieß dabei auf einige Briefe, die die mütterliche Familiengeschichte betreffen. Dabei stellte sich heraus, dass es auch in diesem Ordner einige tiefgreifende Überraschungen und neue Erkenntnisse zu entdecken galt.
Kapitel 1 - Die Unwissenheit
Am Anfang stand eine relativ große Unwissenheit, sie gilt es aufzuhellen, und in Wissen, Erkenntnis und eventuell Verzeihen zu verwandeln - mit Hilfe der Erfassung dieser entdeckten Briefe, die jahrelang in einem Bücherregal der Großmutter in einem alten „Holsten-Ordner" schlummerten und anschließend im Bücherregal meiner Mutter. Sie wurden nach deren Tod allen Nachkommen zur Ansicht zugänglich gemacht und landeten dann bei mir. Ich schaute zuerst nur oberflächlich hinein, aber irgendwann wurde ich mutiger und fing an, richtig zu lesen. Es endete, wie bereits angedeutet, mit einer Art von geschockt sein, weil ich feststellen musste, mit welchem gigantischen Mangel an Kenntnissen über meine eigene Familie ich bisher durchs Leben gegangen war, so dass ich mich fragte, wodurch diese überdimensionale Fehlmenge an Informationen eigentlich entstanden war.
Das Buch „Nachkriegskinder" half mir sehr dabei, diese Konstellationen seit meiner frühesten Kindheit besser verstehen und interpretieren zu lernen, denn ich habe erst dadurch erfahren, in wie vielen Familien damals, in den 50er und 60er Jahren, das Schweigen vorherrschte. Für diese Kriegsgeschädigten, also die Generation meiner Mutter und meines Vaters, war die Fähigkeit Gefühle zu äußern eine sehr schwierige, manchmal auch unmögliche, Angelegenheit. Ich kann mich nicht erinnern, meinen Vater je weinen gesehen zu haben, meine Mutter habe ich ein Mal mit Tränen erlebt und zwar bei der Beerdigung meines Vaters, sie war zu dem Zeitpunkt sechsundfünfzig Jahre alt.
Auf jeden Fall wollte ich die Unterlagen noch einmal durchsehen, auch weil ich die neuen, vielleicht nicht so angenehmen Tatsachen inzwischen besser einordnen kann. Aus dem ursprünglichen Vorhaben, die Briefe meines Vaters als Zeit-Dokumente durchzuarbeiten und allen, die darüber etwas wissen wollen, zugänglich zu machen, wurde zusätzlich eine Art der Aufarbeitung für mich persönlich und vielleicht auch für andere Menschen, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurden und aufgewachsen sind. Je mehr ich mich in diese Geschichte hinein vertiefte, desto mehr wurde mir klar, dass es sich nicht um eine Einzelerscheinung handelt, sondern dass es ein Zeitphänomen ist.
Denn in dieser Zeit, zehn Jahre nach dem Krieg, war noch nichts vergessen, aber alles verdrängt. Das Schweigen oder auch die gefühlte Regel, Gefühle nicht zu offen zu zeigen, setzte sich noch lange fort, ich merke es unter anderem daran, dass ich zuerst versucht habe, meine Sätze und Ausführungen möglichst neutral und nicht zu emotional zu formulieren. Persönliche Geschichte bedeutet aber auch, die eigenen Empfindungen zu äußern und verständlich machen zu können.
Verdrängungsstrategien
Ich bin davon überzeugt, dass es einen Unterschied macht, wer sich mit der Deutschen Nazivergangenheit beschäftigt, und zwar im Hinblick auf das Geburtsjahr der betreffenden Person.
Früher habe ich mir tatsächlich nie Gedanken darüber gemacht, dass diejenigen, die zehn Jahre älter waren als ich, am Ende des Zweiten Weltkrieges geboren worden sind, das erschien mir einfach zu weit weg. Es gab die Personen meines Alters, meines Jahrgangs, Freunde, Freundinnen, dann gab es die etwas Älteren, die sogenannte Hippie-Generation, die 68-er, die Studentenrevoluzzer, von denen fühlten wir, also die Leute meines Alters und ich, uns eigentlich doch ziemlich entfernt. Man versuchte vielleicht manchem nachzueifern und beteiligte sich an Demos oder versuchte sich in Unabhängigkeit. Ein geschichtlich eingebundenes Selbstverständnis war jedoch so gut wie nicht vorhanden.
Gerade das Thema „Erinnerungskultur ist für Historiker nicht neu. Zitat Hans Günter Hockerts „Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft
: „Die wissenschaftlichen Publikationen der Zeithistorie können immer nur relativ kleine Teile der Öffentlichkeit erreichen. Die meisten Bürger begegnen der Zeitgeschichte auf andere Weise.
Jeder speichert im Laufe seines Lebens eigene Geschichtserfahrungen. Dabei nimmt jeder andere Ausschnitte der Wirklichkeit wahr und verknüpft sie auf je eigene Weise mit dem subjektiven Beziehungsnetz seiner Lebenswelt. Franz Kafka notierte am 2. August 1914 in sein Tagebuch: ‚Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittags Schwimmschule.‘ So eigentümlich können sich Öffentliches und Privates, Allgemeines und Besonderes vermischen, und im Grunde gibt es so viele Varianten von Primärerfahrung wie es Menschen gibt.
Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bildet seit Jahrzehnten - ungeachtet der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Verdrängungsvorwürfe - eines der beherrschenden Themen im deutschen politischen Diskurs; so sehr, dass unter ‚Vergangenheit‘, wenn nicht eigens anders vermerkt, nahezu automatisch die NS-Vergangenheit verstanden wird. Diese bildet eine Kontrastfolie, einen Prüfstein und einen Reflexionsfilter für die politische Kultur. Dass dabei über das rechte Maß von Erörterung und Erregung gestritten wird, besonders auch über angemessene, für nachwachsende Generationen einsichtige Formen des Erinnerns und Gedenkens, das ist in einer pluralistischen Gesellschaft ganz unvermeidlich. Die Spannweite reicht von Sedimenten einer bornierten Schlussstrichmentalität bis zu geradezu obsessiven Zügen einer ,Vergessensangst‘, einer ‚kollektiven Angst vor einer Vergessensschuld‘, die sich ‚an immer neuen erinnerungskulturellen Projekten abarbeitet‘.¹ In der Mitte der Gesellschaft scheint aber eine bemerkenswert stabile Balance gelungen zu sein, wenn es um die notwendige, doch alles andere als leichte Doppelaufgabe geht, die NS-Epoche als Teil der eigenen Geschichte anzunehmen (also nicht mittels Schlussstrich zum Fremdkörper zu erklären) und sich zugleich von ihr fundamental zu distanzieren."²
Die Ausführungen der beiden Historiker, Hans Peter Hockerts und Peter Reichel, sind eventuell auch im Zusammenhang mit ihren Geburtsjahren, nämlich 1942 und 1944, zu sehen. „Vergessensangst, „gebetsmühlenhaft vorgetragene Verdrängungsvorwürfe
- das wirkt wie: Ich kann es nicht mehr hören. „Die Mitte der Gesellschaft ist nicht so genau zu definieren, aber bekommt eine „bemerkenswert stabile Balance
hin, mit der „Doppelaufgabe „die NS-Epoche als Teil der eigenen Geschichte anzunehmen und sich zugleich von ihr fundamental zu distanzieren.
Das hört sich distanziert an, müssen Wissenschaftler auch sein. Es könnte aber auch durch eigene Erfahrungen unbewusst mit geprägt sein.
Unbeschwerte Kindheit
Dass wir, die Kinder der Nachkriegszeit, so unwissend aufgewachsen sind, hat etwas damit zu tun, wie unsere Eltern und Großeltern mit uns umgegangen sind und was uns vermittelt wurde. Ich selbst bin 1955 als zweites Mädchen von fünf Kindern geboren, es gab eine ältere Schwester und drei jüngere Brüder. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Hausfrau, wir wohnten ziemlich idyllisch in einem Badeort an der Ostsee, die Praxis meines Vaters befand sich auch dort.
Wir haben zuerst in einem Mehrfamilienhaus in Strandnähe gewohnt, im Erdgeschoss lebte unsere Großmutter väterlicherseits, darüber die Praxis und unsere Wohnung. Als unser dritter Bruder, also das fünfte Kind, zur Welt kam, wurde es langsam eng in der Wohnung und wir zogen um in ein Einfamilienhaus, das sich etwas weiter weg vom Strand befand. Dieses Haus mit großem Garten hatte den Großeltern mütterlicherseits gehört, die inzwischen beide verstorben waren.
Uns ging es doch gut, materiell gut, denn sparsam sein war wichtig, genauso wie nach außen und innen die heile Familienwelt zu schätzen und zu wahren. Es gab Ausflüge, Urlaube und Besuche bei Verwandten, den Sommer verbrachten wir im Garten oder am Strand, denn dazu mussten wir nur über die Promenade laufen, später einen kleinen Weg gehen. Unsere Erziehung beinhaltete damals auch körperliche Strafen, das galt aber als völlig normal und notwendig, es wurde Außenstehenden gegenüber nicht erwähnt und war dennoch für uns Kinder demütigend. Anscheinend war es zu der Zeit auch üblich, Kinder in ein Heim zu schicken. Mir wurde als Grund mitgeteilt, ich wäre zu dünn und sollte dort, in dem Kinderheim in St. Peter-Ording, mal ordentlich zulegen, über einen Zeitraum von immerhin nur sechs Wochen. Über die Zustände, die in solch einem Kinderheim herrschten, hat man schon in anderen Publikationen einiges erfahren. Manches davon kommt mir sehr bekannt vor: Der Nachttopf, der mitten im Mehrbettzimmer stand, denn keiner durfte nachts zur Toilette gehen, sondern sollte diesen Topf benutzen. Der Zwang, zu essen, was auf den Tisch kam oder warme Milch mit Haut zu trinken. Andere, bereits erfahrenere Kinder gaben Tipps: Die Haut unauffällig an die Becher-Innenseite kleben! Ich erinnere mich an mein Heimweh, meine Bauchschmerzen und die dazugehörende Strafpredigt der Heim-Leiterin: „Stell dich nicht so an, das bildest du dir nur ein." Immerhin war meine Schwester mitgeschickt worden, als Unterstützung, sie durfte aber nicht im selben Raum schlafen wie ich, wir würden zu laut sein, die anderen würden von uns gestört werden.
Der wahre Grund für den Aufenthalt dort wird gewesen sein, dass meine Mutter zu diesem Zeitpunkt im Herbst 1962, ich war sieben Jahre alt, gerade das fünfte Kind bekommen hatte. Sie wird überfordert, vielleicht auch krank gewesen sein und brauchte etwas Entlastung, so dass zwei Kinder weniger zu Hause ihr die mütterlichen Aufgaben wesentlich erleichtert haben werden, so vermute ich es aus heutiger Sicht.
Dezember 1956
Dezember 1960
1962: im Kinderheim
Es gab keine Gespräche über Krieg und Notzeiten, wir hatten so gut wie nichts darüber erfahren, wir sollten in einer Art „heilen Welt" aufwachsen, die durch möglichst wenig Problematisches erschüttert werden sollte.
Unsere Mutter war absolut perfekt in der ihr eigenen Form der Ablenkung, die ihr so zur Routine geworden war, dass wir uns später darüber lustig gemacht haben. Wenn zum Beispiel irgendeiner von uns ein ihr unangenehmes Thema ansprach oder eine missliebige Sache zur Sprache kam, wendete sie den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster mit den Worten: „Oh, schaut mal dort, ein ganz großer Vogel landet gerade eben auf dem Komposthaufen!"
Das erstickte alle Fragen im Keim, denn das war ja aufregender als alle anderen unausgesprochenen und komplexen Sachverhalte. Diese Methode wurde ziemlich häufig angewandt, es gab dann keine weiteren Kommentare oder Antworten mehr. Natürlich war auch sie gefangen in ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Erziehung, genauso wie unser Vater, beide konnten sich nicht wirklich davon befreien, es war ihnen nicht möglich.
Zu unserer Erziehung gehörte auf jeden Fall nicht die Aufklärung, es gab zwar minimale Ansätze dazu, aber keine Gespräche. Anstelle von Informationen, welche heute völlig selbstverständlich sind, wurde mir ein Buch mit dem Titel „Woher kommen die kleinen Jungen und Mädchen in die Hand gedrückt. Da war ich aber bereits im späten Teenie-Alter und hatte mich durch Freundinnen oder auch Artikel in Zeitungen, die zum Beispiel beim Friseur auslagen, informieren können, was natürlich auch nicht komplett umfassend war, aber immerhin aussagekräftiger als die kleine „Aufklärungs-Broschüre
. Man war auf sich selbst angewiesen, auch der Besuch bei einer Frauenärztin erfolgte auf eigene Initiative und vermittelte mir dann weitere notwendige Informationen.
Bei meiner Mutter waren die Aufklärung und auch die Verhütungsmethoden natürlich noch eingeschränkter. Ihre ersten vier Kinder kamen recht dicht nacheinander, so war ich erst anderthalb, als mein erster Bruder geboren wurde, der dazu noch ein Frühchen war, das heißt, er wurde zwei Monate vor dem eigentlichen Geburtstermin geboren. Das muss nicht einfach für meine Mutter gewesen sein, obwohl sie sich nie darüber beklagt hatte. Dennoch hat es auch bei den Kindern Spuren hinterlassen, ich weiß, dass es für mich in dem Alter auch nicht so einfach war, eine nicht ganz existente Mutter zu haben, es bedeutete auch Gefühle von Einsamkeit.
Es hatte allerdings den Vorteil, dass ich früh selbstständig sein wollte und gleichzeitig auch immer Verantwortung für die jüngeren Brüder, die anderthalb, drei und sieben Jahre jünger als ich waren, übernahm. Ich fühlte mich ihnen sehr verbunden, dachte mir viele Spiele und Abenteuer für uns aus, wie zum Beispiel „Verkleiden", denn das war gelebte Phantasie, zudem spielten wir oft draußen und erkundeten unser Umfeld.
Viel später, als ich schon erwachsen war, hat meine Mutter mal erwähnt, dass es bei ihr eine Fehlgeburt oder Abtreibung gegeben hatte, was sie dann allerdings so umschrieben hat, dass man nicht genau wusste, was es wirklich gewesen war.
Noch später hat sie sich einmal zu ihren eigenen Geburten geäußert, als sie anlässlich der Geburt meiner ersten Tochter mit ins Krankenhaus gekommen war, denn ich wollte sie gerne dabei haben. Sie saß die ganze Zeit auf einem Stuhl im Patientenzimmer und strickte, dann sagte sie plötzlich, dass es ihr früher auch so ergangen sei, als sie mit Wehen in das Krankenhaus XYZ gekommen sei und sie zu sich selbst gesagt hätte: „Nun bist du Idiotin schon wieder hier!. Das wirkte natürlich ziemlich ernüchternd und traurig und ist mir im Gedächtnis hängen geblieben, denn es hörte sich an wie: „Wenn ich darauf Einfluss gehabt hätte, wären es weniger Kinder geworden!
Natürlich frage ich mich, inwieweit die familiären Begebenheiten wichtig für das Verständnis der geschichtlichen Zusammenhänge und Auswirkungen sind bzw. ob diese Geschichten und Erinnerungen vielleicht doch zu persönlich sind, um sie aufzuschreiben und offen zu legen. Die Befürchtungen haben etwas damit zu tun, dass wir in einer Atmosphäre des Verschweigens aufgewachsen sind. Wenn von unserer Familie die Rede ist, so gibt es natürlich nicht nur eine, sondern zwei, die sich auch sehr unterschiedlich dargestellt haben. Es wurden zeitweise Familienbande beschworen, die aber, besonders von mir, wahrgenommen wurden als ein aufgesetztes Ritual der Mutter-Familie. Die Vater-Familie umfasste weniger Mitglieder und zeigte weniger Zusammenhalt und Gemeinsamkeiten.
Es gab viele Ungereimtheiten, sporadisch wurden Kriegs-Folgen erwähnt, allerdings nicht in unserer frühen Kindheit, sondern erst in der Schule. Ich erfuhr erst in den 60er und 70er Jahren historische Tatsachen zu dem Thema Zweiter Weltkrieg. Inwieweit das damals auch historisch korrekt war, kann ich nicht mehr beurteilen. Insgesamt zog sich dieses allgemeine Gefühl der Verschwommenheit und Unsicherheit über viele Lebensjahrzehnte hinweg.
Wenn ich mich jetzt damit befassen will, mit Aufarbeitung und Darlegung, werde ich auch meine persönliche Geschichte, das heißt, meine Erfahrungen, meine Sichtweise dieser familiären Besonderheiten meiner direkten Vorfahren und die damit verbundenen Auswirkungen, mit einfließen lassen müssen. Andernfalls könnte es nicht klar verständlich sein, warum ich diese Brief-Story überhaupt aufschreiben möchte.
Die eigene Geschichte
Ich habe einmal, vor ungefähr zehn Jahren, unter dem Titel „Familienbande" aufgeschrieben, was ich von den damaligen Familientreffen der zahlreichen Mitglieder der Mutter-Familie hielt. Ich habe es erst vor kurzem wieder gefunden, es trägt ein damals noch nicht aufgelöstes Zeit-Unwohlgefühl in sich und hört sich für mich, aus heutiger Sicht, sogar etwa vorausschauend an. Inzwischen sind etliche Abläufe für mich tatsächlich verständlicher geworden.
Mit meiner persönlichen Darstellung werde ich wohl die direkt betroffenen Personen nicht mehr belasten können, denn alle älteren Familienmitglieder, wie die Geschwister meiner Mutter und die Schwester meines Vaters sind mittlerweile verstorben, meine Eltern ebenfalls, beide im Alter von 65 Jahren, der Vater 1984, die Mutter 1994.
Ich war früher teilweise unglaublich naiv, zu meiner Konfirmation, das muss 1970/71 gewesen sein, wünschte ich mir beispielsweise von meinem Patenonkel, dem Bruder meiner Mutter, ein bestimmtes Buch. Laut meiner Mutter war mein Onkel sehr erstaunt über meinen Wunsch, ich erklärte ihr aber, warum ich dieses unfassbare „Werk haben wollte: Es handelte sich nämlich um ein damals herausgekommenes, kommentiertes Exemplar von Hitlers „Mein Kampf
. Ich war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt und hatte nun endlich in der Schule etwas über den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken erfahren, was mir alles sehr weit weg zu sein schien. Gleichzeitig hatte ich gelesen/gehört, dass Adolf Hitler in diesem Buch seine rassistische, menschenverachtende und kriegerische Weltanschauung bereits 1933 dargelegt hatte. Hätten alle Menschen, besonders die, die sich nicht dem Nationalsozialismus verschrieben hatten, das Buch damals gelesen, wären sie vielleicht