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Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst
Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst
Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst
eBook324 Seiten4 Stunden

Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst

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Über dieses E-Book

Das Leben wäre so einfach, wenn es nicht so schwer wäre. Der Moment, in dem ein Herz bricht, kann kurz sein. Der Weg aus dem Herzschmerz heraus unglaublich lang. Bella Mackie liegt am Boden: Sie ist Ende zwanzig, in ihrer Ehe gerade gescheitert und kämpft mit tief verwurzelten Ängsten und Depressionen. Bis sie eines Tages einfach aufsteht und losläuft. Erst schleppend, dann immer leichtfüßiger.
Schonungslos ehrlich erzählt Bella, wie sie so lange lief, bis ihrer Depression die Puste ausging: Vom erlösenden Moment, wenn man nicht mehr weiß, ob einem nun Tränen oder Schweißtropfen übers Gesicht laufen. Dabei war Sport so ziemlich das Letzte, was ihr zuvor bei all den Zweifeln und Ängsten durch den Kopf ging …

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum18. Feb. 2020
ISBN9783959679237
Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst
Autor

Bella Mackie

Bella Mackie ist eine britische Journalistin. Sie schreibt u.a. für die Vogue, das Vice Magazine und den Guardian. »Läuft bei mir [nicht]« (Jog On«) ist ihr erstes Buch, das es auf Anhieb auf Platz 2 der Sunday-Times-Bestellerliste schaffte – direkt nach Michelle Obama.

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    Buchvorschau

    Läuft bei mir (nicht) - Wie du deiner Depression auf die Nerven gehst - Bella Mackie

    HarperCollins®

    Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Copyright © 2018 by Isabella Mackie

    Originaltitel: »Jog on. How running saved my life.«

    erschienen bei: William Collins, UK

    Published by arrangement with

    William Collins, an imprint of HarperCollins Publishers, UK

    Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

    Coverabbildung: Soloviova Liudmyla, Shutterstock

    Lektorat: Britta Fietzke

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959679237

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für George,

    den mutigsten Menschen, den ich kenne.

    Ich verdanke dir unendlich viel.

    1.

    ALLES IST FURCHTBAR

    Heute bin ich drei Minuten gelaufen. Im Dunkeln, langsam und nicht am Stück. Das ist mehr, als ich je in meinem Leben gelaufen bin. Ich bin außer Atem, habe Seitenstechen und fühle mich schon jetzt besser als in all den letzten Jahren. Das genügt für den ersten Versuch. Jetzt kann ich wieder nach Hause gehen und ein bisschen weinen. Oder Wein trinken.

    Während ich noch auf dem Wohnzimmerboden lag und meinem Mann hinterherschaute, der sich zügig Richtung Tür bewegte, dachte ich darüber nach, was mich nun erwarten würde. Wenn eine Ehe scheitert, folgen eine unerträgliche Traurigkeit, viele unangenehme Fragen, manchmal sogar Scham. All das dürfte bei mir wohl eintreten. Während ich also den Teppich anstarrte, waren meine Gedanken schon einen Schritt weiter und machten sich ein vages Bild von der Zukunft. Ich begann sogar, die ersten furchtbaren Songs für die unvermeidliche Playlist zusammenzustellen, die von nun an wochenlang ab vier Uhr morgens meine Trauer in die Welt hinausschmettern würde.

    Ich weiß nun, dass der eigentliche Moment, in dem einem das Herz bricht, erstaunlich kurz sein kann. Nicht immer zieht sich das Scheitern der Beziehung hin, wie man es sich bei Erwachsenen vorstellt, lösen sich Liebe und Nähe über Jahre auf, bis man sich nichts mehr zu sagen hat. Manchmal passiert es ganz plötzlich, auf einen Schlag und ohne jegliche Vorbereitung. Jemand steht dir gegenüber, sieht dir in die Augen und sagt, dass er dich nun verlasse, dass er dich nicht mehr liebe, dass er jemand anderen kennengelernt habe, dass er ausziehe, dass du nicht genügest, und du denkst: Aha, das ist also der Augenblick, in dem ich sterbe, weil ich das auf keinen Fall überleben werde. Irgendwo in deinem Körper wurde etwas brutal zerstört, und im Moment kannst du dir nichts anderes vorstellen, als auf dem Boden zu liegen und darauf zu warten, dass du den unausweichlichen Gang ins Licht gehen wirst.

    Ich weiß nicht, welche Variante schlimmer ist. Beide sind grässlich; wie nun mal die meisten Trennungen. Einmal hörte ich die Geschichte von einem Paar, das im Restaurant saß und eine Stunde lang schweigend aß. Als der Kaffee serviert wurde, flüsterte der Mann seiner Frau etwas zu, und sie zischte: »Das Problem ist nicht der Kaffee, es sind die letzten fünfundzwanzig Jahre.« Zwar ist ein so langsames Auseinanderbrechen ziemlich schrecklich, aber die überraschende Variante trifft einen auf brutale Weise geradezu körperlich. Trotz des Schocks ist dies verrückterweise der einfachere Teil, weil man irgendwann realisiert, dass man doch nicht sterben wird. Außerdem kann man nicht einmal besonders lang auf den Teppich starren, weil man die Kinder von der Schule abholen, den Hund ausführen oder zur Arbeit gehen muss. Vielleicht muss man auch bloß pinkeln. Dein Schmerz kann es nicht einmal mit den banalsten Anforderungen eines ganz normalen Montags aufnehmen. Und nach dieser unliebsamen Erkenntnis siehst du die Zukunft ziemlich klar vor dir: Du wirst diese Situation irgendwie hinter dich bringen. Aber es dauert. Ein Herz ist schnell gebrochen, aber der Weg aus dem Herzschmerz ist unendlich lang, und manchmal ist einem die ganze Anstrengung einfach nur zu viel.

    Als ich auf dem Boden lag, war mir klar, dass ich bald würde aufstehen müssen. Ich wusste sogar, dass es mit den richtigen Bewältigungsstrategien am Ende vielleicht okay sein könnte. Aber ich wusste auch: Im Gegensatz zu den meisten anderen Erwachsenen kannte ich keine dieser hilfreichen Bewältigungsstrategien.

    Wir lernen zu fühlen, lange bevor wir lernen, unsere Gefühle zu verstehen. Babys lachen, weinen und werden wütend, können uns aber nicht sagen, warum. Wenn wir älter werden, entwickeln wir Methoden, um mit stressigen oder traumatischen Situationen zurechtzukommen. Als Teenager sind wir häufig frustriert und verwirrt, aber irgendwann lernen wir uns besser kennen und gehen allmählich reifer mit Gefühlen um. Als Erwachsene bauen wir diese Fähigkeiten aus und finden mit der Zeit heraus, wie wir unseren persönlichen Herausforderungen am besten begegnen können. Zumindest die meisten von uns. Bis zu diesem Moment auf dem Boden war ich mein Leben lang vor meinen Problemen davongelaufen. Schon als kleines Kind war ich ängstlich; und ich hatte zugelassen, dass meine Sorgen wucherten, die Kontrolle über mich gewannen und mein Leben bestimmten. Psychische Probleme hatten mein inneres Wachstum gehemmt. Ich war zu ängstlich, um mich Herausforderungen zu stellen, und versuchte mit aller Macht, mein Umfeld zu kontrollieren, um so mögliche Verletzungen zu vermeiden. Ich gab auf, wenn es schwierig wurde. Ließ Gelegenheiten sausen, die mich weitergebracht hätten oder durch die ich Unabhängigkeit gewonnen hätte. Ich hielt mich klein.

    Schon früh hatte ich mich daran gewöhnt, den Kopf in den Sand zu stecken und Schlimmes mithilfe magischen Denkens abzuwenden. Anstatt zu erkennen, dass ich krank war, dachte ich mir Tricks aus, um mit meinen Sorgen und irrationalen Gedanken klarzukommen – aber keiner davon war sonderlich erfolgreich. Wenn mir ein beängstigender Gedanke kam, spuckte ich aus oder blinzelte, um ihn zu vertreiben. Ich vermied bestimmte Zahlen, Buchstaben, Farben, Lieder und Orte. Alles »Kompromisse«, die ich mit meinem Gehirn schloss, in der Hoffnung, die schlimmen Gedanken würden verschwinden, wenn ich mich nur streng an meine eigenen Regeln hielt. Nichts von all dem funktionierte, und meine Ängste schossen wie Pilze aus dem Boden. Meine Bewältigungsstrategien waren falsche Freunde, und so hatte ich Platzangst, Panikattacken, intrusive Gedanken, Hysterie und Depressionen. Als mein Mann mich verließ, hatte ich bereits jahrelang so gelebt. Ich konnte (ernsthaft) nicht allein in den Supermarkt gehen, geschweige denn, meinen Weg durch eine derart einschneidende Trennung finden. Ich musste irgendwie vom Boden aufstehen, aber ich wusste nicht, was ich danach tun sollte. Alles war angstbehaftet.

    Angst ist schwer zu fassen. Eine Angststörung äußert sich so unterschiedlich, dass sie häufig erst diagnostiziert wird, wenn man bereits vollkommen verzweifelt ist. Man kann jahrelang unter Panikattacken leiden, ohne sie als solche zu erkennen. Vielleicht glaubt man, man sei schwer krank, erleide einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt (so wie ich mit achtzehn in einem Club, zur Erheiterung meiner betrunkenen Freunde) oder man recherchiert obsessiv die Symptome hohen Blutdrucks. Vielleicht schämt man sich seiner Gedanken so sehr, dass man nie jemandem davon erzählt. Erst recht würde man nicht in Erwägung ziehen, dass sie auf eine Zwangsstörung schließen lassen. Anstatt mit den schrecklichen Bildern und Gedanken fertigwerden zu wollen, die einem plötzlich in den Kopf kommen, und sie als bloße und vor allem harmlose Gedanken zu identifizieren, verbringt man unter Umständen Jahre damit, sie zum Schweigen zu bringen. Und als wäre das nicht schon genug, kann all dies zu schweren Depressionen führen. Ich hatte Weinkrämpfe und blieb stundenlang im Bett. Ich verschlief ganze Tage. Ich sah mehr fern, als ein zufriedener Mensch es tun sollte oder würde. Ich war noch viel zu jung, als ich bereits jegliche Hoffnung verloren hatte.

    Wenn man dieses Stadium erreicht, hat man als Mensch mit einer Angststörung wahrscheinlich bereits eigene Mechanismen entwickelt, um mit diesen beängstigenden Gedanken und Empfindungen umzugehen. Diese Bewältigungsstrategien sind in der Regel strikt und unveränderlich. Und so gut wie nie helfen sie wirklich – erst recht nicht auf lange Sicht. Sie verschaffen einem kurzfristig Erleichterung, aber letztendlich verstärken sie nur die eigentlich zu bekämpfenden Ängste.

    Eine meiner Taktiken war, nie an einen Ort zurückzukehren, an dem ich eine Panikattacke gehabt hatte. Das war für mich ein vernünftiger Weg, um nicht erneut in diese Situation zu geraten. Bloß führte dies dazu, dass am Ende ein Großteil Londons für mich tabu war, unter anderem die nächste Einkaufsstraße, der Park und die meisten Geschäfte. Und es weitete sich aus auf Flugzeuge, Aufzüge, Autobahnen, auf alles, was zu weit von einem Krankenhaus entfernt war, selbst auf die Tube (ich war ein echter Partykracher). Die gewonnene Beruhigung war trügerisch, denn bald saß ich in der Falle – ich musste alle Orte meiden, die mein Geist für »unsicher« hielt. Heute weiß ich, dass ich jahrelang mit einer Angststörung lebte, aber damals war ich so an meine lausigen Deals gewöhnt, dass ich erst Hilfe suchte, als diese Methoden mich absolut beherrschten und mir keinerlei Spielraum mehr ließen.

    Und gibt es einen besseren Grund für eine Veränderung als eine Trennung im ersten Ehejahr? Da sich die Menschen in Deutschland in der Regel erst nach fünfzehn Jahren scheiden lassen, fühlt es sich an wie eine besondere Meisterleistung, wenn das eigene Ehegelübde nicht einmal ein Jahr hält. Etwas länger, und es wäre vielleicht traurig, unvermeidlich oder »typisch für die jungen Leute, die sich auf nichts mehr einlassen können« gewesen, aber nach acht Monaten? Vielleicht keine schlechte Gelegenheit, sein bisheriges Leben einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

    Selbst ohne die zusätzliche Unannehmlichkeit einer gescheiterten Ehe wusste ich damals, dass ich an einem kritischen Punkt angekommen war. Zu lange hatte ich alles, was mir Angst machte, vermieden. Meine Welt war derart geschrumpft, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Trotz meiner sorgfältigen Strategien und Vorsichtsmaßnahmen (im Klartext: absolute Kontrolle über alles und irrationales Denken an allen Ecken und Enden – wie gesagt, eine echte Spaßkanone auf Partys) war nun das Schlimmste eingetreten. Das System, das ich mir seit meiner Kindheit aufgebaut hatte, hatte mich weder vor Schmerz noch vor Demütigung geschützt. Im Gegenteil, es hat sie sogar in hohem Maße befördert.

    Nachdem mein Mann weg war und meine Schwester mich aus der Embryonalhaltung holte und mich zum Aufstehen zwang, ich weinte und betrank mich mehrere Tage lang. Ich erinnere mich an nichts aus dieser Phase. Dafür bin ich meinem Gehirn dankbar – dieses eine Mal hat es mir einen echten Gefallen getan. Wahrscheinlich habe ich viele Gespräche über Schlafen und Essen geführt, aber sicher weiß ich nur noch, dass ich mir eine ganze Staffel Game of Thrones ohne meine Schwester reingezogen hatte und sie deshalb sauer war.

    Ich nahm mir einen Tag frei, aber dann ging ich wieder zur Arbeit, wo ich abwechselnd auf der Toilette weinte (mein Mann arbeitete für dasselbe Unternehmen – was für ein Spaß), stumm an meinem Schreibtisch saß und Dudelsackmusik über meine Kopfhörer hörte, um es zu ertragen, wenn er vorbeilief. Das hat übrigens eigenartigerweise funktioniert – ich kann es allen empfehlen, die für irgendetwas Mut brauchen. »Highland Laddie« ist ein guter Einstieg.

    Ich war wie gelähmt. Mir war klar, ich musste diese schmerzhaften, schwierigen Gefühle durchstehen, aber gleichzeitig machte ich mir Sorgen, dass ich mich nie davon erholen würde. Das Leben um einen herum geht weiter, egal, wie sehr die eigene Welt aus den Fugen geraten ist. Ich sah diese Normalität, aber ich wollte sie gar nicht. Bei der Arbeit ging ich davon aus, dass ich in ein paar Monaten die Trennung überwunden haben würde, befürchtete aber gleichzeitig, dass ich nach wie vor in meinem engen Zirkel eingesperrt sein würde, mit Angst und Depressionen als einzigen Wegbegleitern.

    Es ist nicht schwer, so zu tun, als wäre alles in Ordnung – selbst wenn man an einer überwältigenden psychischen Krankheit leidet. Sogar zu meinen schlimmsten Zeiten schaffte ich es, meinen Job zu behalten, Witze zu reißen und gerade so häufig auszugehen, dass ich nicht als Einsiedlerin galt. Viele Menschen werden Experten darin und tricksen sich sogar selbst aus. Wahrscheinlich hätte ich ewig so weitermachen, mein reduziertes Leben führen und so tun können, als wäre das okay für mich. Aber etwas war zerbrochen, es ging nicht mehr. Ich hatte zu lange auf diese Weise gelebt, und nun war ich erschöpft.

    Ich glaubte, als Versagerin entlarvt zu sein – ein feiges Kind, das so tut, als wäre es erwachsen, das in der Welt der Erwachsenen aber eigentlich nichts zu suchen hat. J. K. Rowling sagt, ihr Tiefpunkt sei der Grundstein für ihr heutiges Leben gewesen – weil ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt wurden, gab es keine andere Richtung mehr als aufwärts.¹ Ausnahmsweise verzeihe ich ihr das Klischee und gebe sogar zu – wenn auch etwas widerwillig –, dass etwas dran ist. Rowling hat eine magische Welt voller Zauberer erschaffen und ist auf diese Weise eine der reichsten Frauen der Welt geworden. Mein persönlicher Tiefpunkt hat mich dazu gebracht zu joggen.

    Nach einer Woche Singledasein hatte ich die Idee, ich könnte laufen gehen. In Der Fänger im Roggen² gibt es eine Stelle, in der Holden Caulfield plötzlich losrennt und achselzuckend erklärt: »Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt gerannt bin – wahrscheinlich war mir einfach danach.« Vielleicht hatte ich einfach nur die Schnauze voll davon, mich so verdammt elend zu fühlen, oder vielleicht wusste ich da schon, dass ich versuchen musste, etwas anderes auszuprobieren – auf jeden Fall hatte ich an dem Tag einfach Lust zu laufen.

    Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich in meinem Kummer ausgerechnet für diesen Weg entschieden habe. Ich hatte noch nie zuvor freiwillig irgendwelche körperlichen Anstrengungen auf mich genommen. Stattdessen hatte ich mein Leben lang den Drang wegzulaufen im Zaum gehalten – weg von meinem Geist, meinen negativen Gedanken, von den Sorgen, die sich auftürmten und verhärteten, Schicht für Schicht, bis ich nicht mehr gegen sie ankam. Vielleicht war das plötzliche Bedürfnis zu rennen ein körperlicher Ausdruck des Wunsches, meinem eigenen Gehirn zu entkommen. Ich wollte es diesmal wohl wirklich durchziehen.

    Außerdem wollte ich unbedingt vermeiden, eine dieser stereotypen Frauen zu sein, die man mit einer Trennung verbindet und die eimerweise Eiscreme in sich reinschaufeln – ich war schon immer ein Fan schneller Lösungen. Die schlechten Gefühle und der Liebeskummer sollten sofort verschwinden. Und eine Trennung ist ein guter Zeitpunkt, um etwas Neues auszuprobieren. Mein zusätzlicher Antrieb war, dass ich die Ängste loswerden wollte, die mich mein Leben lang begleitet hatten. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass mir langsam die Zeit davonlief, in der ich dies schaffen könnte. Ich stand kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag und fürchtete, ich könnte die Trennung als Ausrede nehmen, mich noch mehr zurückzuziehen und mich aus Angst vor dem Leben noch mehr einzuschränken.

    Ich war aber keinesfalls bereit, einfach in der Öffentlichkeit loszulaufen. Wenn man zu viel Angst hat, um in den Supermarkt zu gehen, werden einem solch grandiose Ideen rasch ausgetrieben. Ich rannte auch nicht – wie auf dem Höhepunkt eines Films – über eine Steppe oder durch strömenden Regen. In Wirklichkeit wusste ich nicht, was ich da tat, und fragte mich flüchtig, ob ich dabei war, den Verstand zu verlieren. Es war so ungewöhnlich für mich, so etwas zu wollen – aber während ich noch mit mir haderte, steckte ich den Schlüssel ein und band mir die Turnschuhe zu.

    In ausgeleierten Leggings und T-Shirt ging ich zu einer dunklen Gasse, die eine halbe Minute von meiner Wohnung entfernt ist. Sie erfüllte zwei wichtige Kriterien: nah genug an meinem sicheren Zuhause und ruhig genug, dass mich dort keiner auslachen würde. Es war ein absurdes, leicht beschämendes Gefühl – als würde ich etwas Perverses tun, bei dem mich niemand beobachten sollte. Glücklicherweise war das einzige Lebewesen dort eine Katze. Verächtlich starrte sie mich an, als ich all meinen Mut zusammennahm, um mich in Bewegung zu setzen. Ich war dankbar, dass die Katze sofort verschwand. Und jeder Hinweis auf einen sich nähernden Menschen hätte mich sofort stoppen lassen. Bei dieser Art von Selbstbestrafung war ich zu verletzlich, um mich den Blicken Fremder auszusetzen.

    Ich setzte die Kopfhörer auf, suchte nach passender Musik und entschied mich für einen Song mit dem Titel »She Fucking Hates Me« von einer Band namens Puddle of Mudd. Eigentlich nicht mein Geschmack, aber der Text war angemessen wütend und ich wollte nichts hören, was mich zum Weinen bringen würde (alles brachte mich zum Weinen). Der Song ist drei Minuten und einunddreißig Sekunden lang und die Zeile »She fucking hates me« wird so oft wiederholt, wie man es erwarten würde. Ich glaube, ich schaffte es, etwa dreißig Sekunden zu joggen, bis ich stehen bleiben musste, weil meine Waden schmerzten und meine Lunge brannte. Aber der Song kurbelte meine Adrenalinausschüttung an, also machte ich eine Minute Pause und startete einen neuen Versuch. Irgendwie gelang es mir, im Takt zu laufen, während ich stumm die vom Sänger gebrüllten Worte mitsang und mit verzerrtem Gesicht weitertrampelte. Ich schaffte unglaubliche drei Minuten in Etappen (fast den ganzen Song!), bevor ich aufgab und nach Hause ging. Fühlte ich mich besser? Nein. Hat es Spaß gemacht? Auch nicht. Aber ich hatte mindestens eine Viertelstunde lang nicht geweint, und das war schon eine ganze Menge für mich.

    Zu meiner eigenen Überraschung beließ ich es nicht dabei. Ich wollte nicht weitermachen, es war schließlich ziemlich grauenhaft gewesen, aber irgendetwas in mir übertönte all meine Ausreden. Am nächsten Tag ging ich wieder zu der Gasse. Und am übernächsten auch. Diese ersten Versuche waren wirklich erbärmlich. Ein paar Sekunden, schlurfen, stoppen. Warten. Wieder los. Wenn jemand aus dem Schatten auftauchte, erstarren. Sich lächerlich fühlen. Trotzdem weitermachen. Immer im Dunkeln, immer im Geheimen, als wäre es etwas Verbotenes.

    Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat oder was ich mir von diesen Läufen in der Gasse versprach. Das Ergebnis war, dass ich in den darauffolgenden Wochen zu ehrgeizig wurde und sich viele kleinere Katastrophen ereigneten. Ich hatte Shin splints, was höllisch wehtat. Ich lief zu schnell, röchelte unkontrollierbar und musste stehen bleiben. Ich versuchte, einen Hügel hinaufzulaufen, musste mich aber geschlagen geben und den Bus nehmen, als klar war, dass der Hügel gewonnen hatte. Ich erlitt eine Panikattacke in einer dunklen Ecke des Parks bei mir in der Nähe, weil ich den Zeitpunkt des Sonnenuntergangs falsch eingeschätzt hatte und mir unvermittelt bewusst wurde, dass ich ganz allein war. Ich fiel hin und weinte wie ein Kind. Laufen fühlte sich an wie eine Sprache, die ich nicht beherrschte – und das nicht nur, weil ich extrem unsportlich war. Es schien etwas zu sein, das nur fröhliche, gesunde, muntere Menschen taten, keine neurotischen Raucher, denen alles Angst einjagte.

    Mein Leben lang hatte ich dazu geneigt, alles, was ich nicht beim ersten Anlauf hinbekam, wieder zu lassen. Mir war peinlich bewusst, dass ich nicht gut lief. Ich wurde nicht einmal besser. Zu meinem eigenen leisen Erstaunen machte ich dennoch weiter. Zwei Wochen lang trottete ich die dunkle Gasse auf und ab. Und als ich schließlich gelangweilt statt verängstigt und atemlos war, lief ich ein Stückchen weiter. In den ersten Monaten blieb ich in den Straßen, die sich unmittelbar um meine Wohnung herum befanden – mein Gehirn war ständig damit beschäftigt, Fluchtwege auszumachen –, drehte meine Runden durch stille Straßen und zuckte zusammen, wenn Autos vorbeifuhren. Ich war langsam, traurig und wütend. Aber mir wurden zwei Dinge klar. Erstens: Wenn ich lief, war ich etwas weniger traurig. Mein Geist wurde ruhiger – ein Teil meines Gehirns schien abzuschalten oder zumindest für ein paar Minuten die Kontrolle abzugeben. Ich dachte nicht über meine Ehe nach oder über meinen Beitrag zu ihrem Scheitern. Ich fragte mich nicht, ob mein Mann glücklich war, gerade ein tolles Date hatte oder überhaupt nicht mehr an mich dachte. Die Erleichterung, die mir das bescherte, war gewaltig.

    Zweitens, und noch wertvoller: Mir fiel auf, dass ich weniger verängstigt war. Bald gelangte ich in Teile der Stadt, die ich seit Jahren nicht hatte besuchen können, vor allem nicht allein. Ich rede hier nicht von Soho und den Menschenmengen dort, aber innerhalb eines Monats konnte ich immerhin über den Camden Market laufen, ohne mich zu fühlen, als würde ich in Ohnmacht fallen oder zusammenbrechen. Ich hätte das nicht gekonnt, wenn ich bloß langsam gegangen wäre – ich hatte es viele Male probiert, aber dann überfiel mich die Angst, ich bekam schweißnasse Hände und die Panik übernahm die Kontrolle. Irgendwie war es beim Laufen anders. Wenn das eigene Gehirn einem stinknormale Ausflüge verweigert, die andere ständig machen, streicht man sich den Tag rot im Kalender an, an dem man an Ständen vorbeilaufen konnte, wo »Nobody knows I’m a lesbian«-T-Shirts verkauft werden. Indem ich mich auf den Rhythmus meiner Füße auf dem Gehweg konzentrierte, achtete ich weniger zwanghaft auf meine Atmung, auf die vielen Menschen oder darauf, wie weit ich von zu Hause entfernt war. Ich konnte mich in einer Gegend aufhalten, die mein Gehirn eigentlich als »unsicher« abgespeichert hatte, ohne das Gefühl zu haben, jeden Augenblick umzukippen. Das war ein Wunder.

    Joyce Carol Oates hat einmal beschrieben, wie das Laufen ihr das Schreiben ermöglicht, da »der Geist mit dem Körper fliegt.«³ Ich verstehe das so, dass der Körper das Gehirn auf eine Reise mitnimmt. Der Geist sitzt einmal nicht am Steuer. Man konzentriert sich auf die brennenden Beine, die Bewegung der Arme. Man spürt den eigenen Herzschlag, den Schweiß, der einem in die Ohren tropft, die Art, wie der Oberkörper bei jedem Schritt hin und her schwingt. Hat man seinen Rhythmus gefunden, registriert man Hindernisse oder Menschen, denen man aus dem Weg gehen muss. Es springen einem Details an Gebäuden ins Auge, die einem nie zuvor aufgefallen sind. Man beschäftigt sich mit dem Wetter. Natürlich ist das Gehirn an all dem beteiligt, aber es ist nicht seine übliche Tätigkeit. Mein Geist, der es gewohnt ist, mir mit endlosen »Was, wenn«-Gedanken Angst zu machen oder mich voller Vergnügen mit ständigen Flashbacks meiner schlimmsten Erfahrungen zu quälen, hatte schlicht und einfach keine Chance gegen die Notwendigkeit, sich bei diesem Tempo zu konzentrieren. Ich hatte ihn wohl ausgetrickst, zermürbt oder ihm einfach eine neue Beschäftigung gegeben.

    Viel wurde darüber geforscht, weshalb Laufen den Kopf freimacht. Das finde ich gut – ich würde gern genau wissen, weshalb es mein Leben verändert hat, aber ehrlich gesagt bin ich vor allem froh, dass es so gekommen ist. Studien zeigen, dass bei Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen und älteren Menschen nach Bewegung die Aktivität im Frontallappen – dem Bereich, der für Konzentration zuständig ist – ansteigt.⁴ , ⁵ Bei der Forschung an Tieren wurde festgestellt, dass durch Bewegung neue Neuronen erzeugt werden – Zellen im Hippocampus, die mit Erinnerung und Lernen assoziiert sind.⁶ Das alles ist faszinierend. Aber für mich kann nichts davon adäquat den Rausch wiedergeben, den der Sport einem verspricht – und der für die meisten von uns das Wichtigste daran ist –, das sogenannte Runner’s High . (Menschen mit mehr Drogenerfahrung als ich können besser beurteilen, ob es mit einem eher … äh … entspannenden Rausch vergleichbar ist.) Dass etwa eine Stunde dynamischer Bewegung am Tag unsere gestressten, düsteren Gehirne beruhigen kann, ist eine verheißungsvolle Vorstellung, besonders für diejenigen, die seit Längerem anhaltend (sprich, schon unerträglich lang) mit Depressionen oder Ängsten zu kämpfen haben.

    Das ist es, was ich gerade zu entdecken begann. Auch Wochen, nachdem meine Ehe zerbrochen war, litt ich immer noch. Bei der Arbeit ging ich regelmäßig auf die Toilette, um leise zu weinen. Sobald ich zu Hause ankam, schlüpfte ich in den Schlafanzug und ließ mich gleichgültig von allem berieseln, was im Fernsehen lief. Wenn ich ausging, trank ich zu viel und weinte wieder (weniger leise, sehr zur Freude meiner Freunde). Aber wenn ich lief, ließ ich all das hinter mir. Niemand legte voller Mitgefühl den Kopf schief oder machte mich mit einer Umarmung fertig. Man bemerkte mich nicht einmal. Ich verschmolz mit der Stadt – nur eine weitere lästige Läuferin in Neonklamotten. Zu Hause fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich hatte mir angewöhnt, so ausgebreitet wie ein Seestern zu schlafen, damit ich nicht am Morgen auf die Seite rollte, die kalt und leer war und mich an alles erinnerte, was ich verloren hatte. Aber wenn ich morgens zu meinem ersten Lauf aufbrach, fühlte

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