Kursbuch 175: Gefährdete Gesundheiten
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Wie definieren wir Gesundheit, wenn das Reden über selbige stets von der Suche nach Krankheitsrisiken oder dem Vorhandensein von Krankheit bestimmt wird? Das Kursbuch "Gefährdete Gesundheiten" zeigt auf, warum eine zu gesunde Lebensführung zum Krankheitsrisiko werden kann. Wie sehr Gesundheit und Krankheit von unterschiedlichen kulturellen Erwartungen geprägt sind. Wie stark ökonomische, wohlfahrtsstaatliche und politische Entscheidungen Gesundheiten gefährden können. Und wie sehr sich die Vorstellung von Gesundheit sowie die Akteure ihres Systems gewandelt haben.
Mit Beiträgen von Gunnar Stollberg, Manfred Lütz, Joachim Müller-Jung, Gina Atzeni, Wilhelm Schmid, Peter Wagner, Robert Pfaller, Katarina Greifeld, Michael von Brück, Deborah Lupton, Thomas Gerlinger, Rainer Merkel, Armin Nassehi und Norbert Seitz.
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Kursbuch 175 - Murmann Publishers GmbH
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Inhalt
Armin Nassehi
Editorial
Norbert Seitz
Brief eines Lesers (5)
Gunnar Stollberg
Was ist Gesundheit?
Auf den Spuren eines lädierten Begriffs
Manfred Lütz
Auf Gedeih und Gesundheit!
Über Risiken und Nebenwirkungen einer neuen Religion
Joachim Müller-Jung
Der kranke Gesunde
Die Grenzen der Genmedizin
Armin Nassehi
Eine Kritik des gesunden Menschenverstandes
Oder: Krankheit als Chance
Gina Atzeni
Wer gefährdet hier welche Gesundheiten?
Das Selbstbild der Ärzte
Wilhelm Schmid
Was macht ein Philosoph im Krankenhaus?
Lebenskunst an lebendigen Orten
Peter Wagner
Dreck macht Speck
Über die Unmöglichkeit, vom Essen nicht zu sterben
Robert Pfaller
Lasst euch nicht verführen!
Über Bevormundungspolitik und die Riten der Unterbrechung
Katarina Greifeld
Meine Gesundheit gehört mir!
Lokale Menschenbilder und Medizin in der globalisierten Welt
Michael von Brück
32 Arten des Pulses
Über das interkulturelle Verstehen von Gesundheit
Deborah Lupton
Persönlich verantwortlich
Gesundheit im digitalen Zeitalter
Thomas Gerlinger
Wettbewerb und Privatisierung
Über den Wandel von Gesundheitssystemen
Rainer Merkel
Aschura
Die Leichtigkeit der Körper
Anhang
Autoren
Impressum
Armin Nassehi
Editorial
Gefährdete Gesundheiten – eigentlich ist das ein Pleonasmus. So etwas wie ein alter Greis, ein runder Kreis, ein endgültiger Tod oder kaltes Eis. Aber es ist hier nicht der Ort, die Wahl des Kursbuch-Titels zu kritisieren, wir haben ihn schließlich selbst gewählt, und zwar deshalb, weil Gesundheit tatsächlich stets gefährdet ist. Man sieht es nur nicht so deutlich wie das Alter eines Greises, die Rundung eines Kreises, die Endgültigkeit des Todes oder die Kälte des Eises. Den Ausdruck Gefährdete Gesundheiten einen Pleonasmus zu nennen, verweist dabei weniger auf eine Information als auf Performatives.
Gesundheit wird erst thematisiert, wenn mögliche Gefährdungen in Betracht kommen. Wer auf einer Speisekarte eine gesunde Speise sucht, muss das schon im Horizont möglicher Gefährdungen tun. Wer sich nach der Gesundheit oder dem Wohlbefinden eines Bekannten erkundigt, erwartet kaum, dass die Antwort die Tage aufzählt, an denen der Befragte gesund war. Er wird sagen: »Mir geht es recht gut, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Nur die Sache mit meinem Blutdruck kriege ich nicht so recht in den Griff. Und da muss ich in meinem Alter schon aufpassen.« Eher unwahrscheinlich wäre die Antwort: »Mein Wohlbefinden ist insbesondere in psychosozialer Hinsicht ganz prima, und ich spüre deutlich, wie toll meine Lebensfunktionen wundervoll koordiniert ineinandergreifen. Überhaupt: Ich glaube, ich bin so richtig gesund.« Ich gebe zu, das ist sehr konstruiert – aber es lässt sich kaum anders als in dieser Weise etwas gestelzt konstruieren, wie wir solche Antworten kaum geben würden. Wenn ich eine solche Antwort hören würde, würde ich womöglich fragen, warum jemand seine Gesundheit so betont, und mich mit der Alltags- und Küchenpsychologie, mit der wir hilfsweise durchs Leben gehen, fragen, was da wohl nicht stimmt, wenn jemand betont, dass er so gesund sei. Wenn das einen solchen Informationswert hat, muss es ja wohl einen Unterschied machen – nur: wovon? Hätte die Antwort auf die Frage nach dem Wohlbefinden einfach gelautet: »Danke, gut!« oder: »Und selber?«, wäre ich mit der Information zufrieden gewesen – nicht obwohl, sondern weil die Antworten letztlich keine Informationen enthalten hätten.
Einen Informationswert hat letztlich nur das, was einen Unterschied macht, am besten eine Störung, denn das lässt die Struktur von Sprache und Kommunikation besonders gut bearbeiten – gerade deshalb befördert Kommunikation stets die Kritik an den Verhältnissen, weil Affirmation kaum einen Informationswert hat (es sei denn, man kritisiert Affirmation). Genau deshalb haben engstirnige Ideologen (wieder ein Pleonasmus!) die größte Furcht vor freier Kommunikation.
Wer über Gesundheit redet, redet stets über ihre Gefährdungen. Sich um seine Gesundheit zu kümmern, ist fast gleichbedeutend mit der Suche nach ihrem Gegenteil beziehungsweise nach Indikatoren ihrer Gefährdung. Darmspiegelungen, Mammografien, genetische Untersuchungen, auch die inzwischen obligatorischen Check-ups suchen nicht nach Gesundheit, sondern nach ihren Gefährdungen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Das soll nicht kritisiert werden, aber es verweist eben doch auf den performativen Gehalt der Rede über Gesundheit, die nur dann vermieden werden kann, wenn sie wirklich da ist. Ein gesunder Körper und eine gesunde Psyche machen letztlich nicht auf sich aufmerksam. Sie sind Grundbedingungen unseres Lebens. All die Prozesse unseres Körpers, die so im Hintergrund ablaufen, bleiben im Hintergrund, und solange wir sie nicht merken, fühlen wir uns gesund.
Die Beiträge dieses Kursbuchs handeln deshalb auch weniger von Gesundheit als von ihren Gefährdungen. Einige zeigen, wie die Fixierung auf Gesundheit womöglich krank macht, wie sehr Gesundheit und Krankheit von kulturellen Erwartungen geprägt sind, wie die einen Ängste durch andere ersetzt werden, wie sich die Akteure im Gesundheitswesen, insbesondere Ärzte, gewandelt haben und nicht zuletzt: wie stark ökonomische, wohlfahrtsstaatliche und politische Entscheidungen Gesundheiten gefährden können.
Deborah Lupton zeigt schließlich in ihrem Beitrag, wie sich die Vorstellungen von Gesundheit durch die neuen Technologien grundsätzlich verändern.
Wie gefährlich wiederum Essen ist, macht Peter Wagner auf eindrucksvolle Weise deutlich: Alle früheren Menschengenerationen hätten mehrmals täglich gegessen – und alle seien sie tot.
Apropos Tod: Es fällt auf, wie nah viele Analysen an religiöser Sprache gebaut sind: Säkularisierte Seelsorge spendet der Philosoph Wilhelm Schmid im Krankenhaus, rituelle Unterbrechungen schlägt Robert Pfaller vor, von der Tyrannei der Gesundheitsreligion spricht Manfred Lütz, den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheits-/Krankheitserleben zeigen Michael von Brück und Katarina Greifeld auf. Und Rainer Merkel lässt seinen Erzähler in seinem wunderbaren Stück beim Besuch eines Aschura-Festes, einer islamischen Selbstgeißelung in Erinnerung an die Schlacht von Karbala im Jahre 680, von einer »sehnsuchtsvollen Regression« fasziniert sein, die ihn an spirituelle Vergangenheiten mit seiner Großmutter erinnert – nur um am Ende auf den Boden der Tatsachen gebracht zu werden. Es sei nur mehr Show, Geschäftemacherei und Folklore, wird ihm versichert. Welche Gesundheiten hier wohl in Gefahr geraten?
Wir danken Norbert Seitz für den fünften Brief eines Lesers.
Armin Nassehi, im August 2013
Norbert Seitz
Brief eines Lesers (5)
Wenn selbst der Spiegel damit anfange, »überheblich-intellektuelle Bekenntnisse zum Nichtwählen abzudrucken«, laufe es »doppelt gut für die christdemokratische Schlafwagengesellschaft«. So rüffelt der Sprecher des Berliner Senats, Richard Meng, im Kommentar eines SPD-Parteiblatts das Hamburger Magazin, wo in einem Essay von Harald Welzer das Nichtwählen in höchst fragwürdiger Weise als eine »politische Handlung« beschrieben wird. Der Vorgang ist in der Tat etwas peinlich, denn schon wieder hat sich vor einer Bundestagswahl ein prominenter Alarmist gefunden, der aus weltbewegenden Gründen zur Abstinenz aufruft und von der Wahl eines »kleineren Übels« nichts mehr wissen will. Ebenso überflüssig will uns die Reaktion eines Regierungssprechers vorkommen, der in seiner amtlichen Funktion Journalisten und Redakteuren eher Rede und Antwort zu stehen hätte, statt diese in Zensoren-Manier abzuwatschen.
Für das Kursbuch ist das Spiegel-Dropping erst recht ärgerlich, stand doch der Aufsatz Welzers, auf den hier angespielt wird, in seiner letzten Ausgabe (Nr. 174, S. 31–43). Dabei hat dessen Plädoyer nur wenig Aufrührerisches. Er fügt sich in eine eher bieder trotzige Tradition von nachkriegsdeutscher Ohnemichelei oder innenpolitischem Sonderwegsdenken, wie es nach dem KPD-Verbot 1956, der Enttäuschung über die sozialdemokratische Kurskorrektur des Godesberger Programms 1959 und der Ostermarschbewegung an der Grenze zum politischen Sektierertum üblich war.
Wer mit einem Wahlboykott als einzig verbliebener Alternative kokettiert, bestätigt damit ungewollt das TINA-Prinzip der Kanzlerin– getreu der Devise: »Wer mich nicht wählt, soll lieber gleich zu Hause bleiben«. Dies entspricht der bewährten Unionsstrategie einer »asymmetrischen Demobilisierung«, über »Themenklau« SPD-Wähler in die Wahlenthaltung zu treiben und damit die identitätsverdächtigen Inhalte des politischen Gegners in ihrer Harmlosigkeit vorzuführen. Welzer hin, Merkel her, seit geraumer Zeit gilt: Zur Nichtwahl muss nicht erst aufgerüttelt werden, sie findet im größer werdenden »Prekariat« der Gestrandeten und Hoffnungslosen längst statt.
Der erwähnte Rüffel des Berliner Regierungssprechers macht überdies deutlich, dass die Medienverschwörungstheoretiker bereits zum nächsten Gefecht nach der Bundestagswahl am 22. September rüsten. Denn schon 2009 wurde dem Journalisten Gabor Steingart (Ansichten eines Nichtwählers) und dem Schriftsteller Thomas Brussig unterstellt, eine Negativ-Kampagne gegen das Wählen losgetreten zu haben, um gleichsam schwankende SPD-Anhänger zur Abstinenz zu verleiten und Merkel damit gleichzeitig zur konservativ-liberalen Mehrheit zu verhelfen.
Die Wahlabstinenz wird – wie bei Welzer – auf fehlende problembewusste Inhalte oder einen Mangel an Unterscheidbarkeit der Parteien zurückgeführt. Doch die Demoskopie kann solche Urteile nicht bestätigen: Über 70 Prozent bringen etwa– laut infratest dimap– die derzeit miesen Werte der SPD mit deren politischem Personal in Verbindung, während nur 20 Prozent die von Welzer so vermissten Inhalte für ausschlaggebend halten.
Dabei wird ein wichtiges Enttäuschungsmotiv gerne ausgespart– die stupende Lernunfähigkeit der Parteien und ihrer Kader, Misserfolge bei Wahlen aufzuarbeiten, was für sich betrachtet schon einer Missachtung des Wählers gleichkommt. Dass die SPD bei ihrem 23-Prozent-Debakel 2009 mehr Stammwähler an Union und Liberale verlor als an die Linkspartei, »spielte merkwürdigerweise in der Aufarbeitung des Wahlergebnisses weder in den Medien noch in den Parteigremien eine wesentliche Rolle«, wundert sich Julian Nida-Rümelin im letzten Kursbuch. Offenbar standen die demoskopischen Werte quer zu den identitätsverbürgenden Dolchstoßlegenden der Agenda-Gegner. Das Heft 174 (Richtig wählen) lässt sich von alldem nicht kirre machen und fächert genügend plausible Gründe auf, weshalb es noch immer ernsthaft infrage kommt, wählen zu gehen, statt »intellektuell-überheblich« den Wahlzettel zu zerreißen und sich damit noch in einer Art Retterpose zu brüsten.
Da das Blatt sich in wohltuender Weise nicht mit der Pflege einer avantgardistischen Tradition aufbläst, vermeidet es auch jeden Anflug von Kampagne, auch nicht jener der üblich staatstragenden Art, auf jeden Fall wählen gehen zu sollen, getreu der biografisch verständlichen Maxime unseres Bürgerrechtlers im Bellevue: »Wir haben immer eine Wahl.«
Was da fehlt? Zum Beispiel ein analytischer Blick auf das zusehend wahlentscheidende Segment der unentschlossenen Spätentscheider und hernach doch Daheimgebliebenen. Außerdem: Warum wecken offenbar nur noch das Ausmaß des Merkel-Triumphes und die dramatischen innerparteilichen Konsequenzen im Falle eines weiteren SPD-Debakels Interesse und Neugier? Will sagen, das eigentliche Event wird erst hinterher erwartet, was die Blattmacher des neuen Kursbuch natürlich auch als eine kleine Bestätigung erfahren könnten, haben sie doch »die Krise der Parteien« im Auftaktheft 170 »geradezu als einen Demokratiegenerator« – so bei Jasmin Siri – herausgestellt.
Die »Kultur der Gelassenheit« ist als Gründungsbotschaft des neuen Kursbuchs von Armin Nassehi beschworen worden: »die Dinge erst mal sprechen und aufeinander beziehen zu lassen«. Dafür brauche man »Platz, Raum und Zeit« und vielleicht auch mal »schwierige Sätze«, wie beispielsweise jene Hammerparolen im letzten Heft: »Nichtwähler bilden den Brutkasten für die nächste Diktatur« (Felix W. Weyh) oder »Lynchjustiz ist vollendete Partizipation« (Armin Nassehi).
Doch wer unseren täglichen Alarmismus mit fast schon spielerischer Gelassenheit abtropfen lassen möchte, läuft stets Gefahr, der Abgehobenheit oder Beliebigkeit verdächtigt zu werden. Dies gilt erst recht für die stilisierte Neigung, der Permanenz von Schreckensnachrichten und Untergangsszenarien mit provokanten Bekenntnissen wie jenem, Krisen lieben zu können – so ein früherer Hefttitel –, widerstehen zu wollen.
Intellektuelle Köpfe nach legitimen Gründen Ausschau halten zu lassen, die für die Wahl etablierter Parteien (noch) sprechen könnten, mag als staatserhaltende Idee ganz gut wirken. Von einem »Spagat zwischen kritischer Distanz und solidarischer Nähe« sollte man freilich mehr erwarten. Den empfohlenen Parteien wäre weiß Gott etwas mehr zuzumuten, als ihnen nur die hehren programmatischen Ideale ins Gedächtnis zu rufen. Denn im Grunde müssten sich doch fast alle Parteien neu formieren, um nicht zu sagen neu erfinden, da sie mit ihren alten Formaten den Herausforderungen der globalisierten Welt gegenüber eher hilflos erscheinen.
Dies setzte einen Mut zur intellektuellen Zuspitzung voraus, der nicht die Sache von Enzensbergers Blattenkeln ist. So bleibt denn auch der Leser mit einem eigentümlichen Gefühl an souverän bewältigter Leere zurück. Schade, dass auch das intellektuelle Wahlkampf-Highlight schlechthin nicht gestreift wurde: Die letzte Hoffnung des fast entmutigten Sozialphilosophen Jürgen Habermas auf ein wachrüttelndes Wahlergebnis der trotzigen Anti-EU-Recken von der »Alternative für Deutschland«. Eine Art »Sonthofen-Strategie« von links – bestehend aus der vagen Aussicht, durch die Nacht populistischer EU-Gegner doch noch zum Licht eines nach wie vor visionär gedachten Europa zu gelangen.
Gunnar Stollberg
Was ist Gesundheit?
Auf den Spuren eines lädierten Begriffs
Vor einem Vierteljahrhundert, im Jahre 1987, erschien das letzte Kursbuch zum Thema »Gesundheit«. Einige seiner Beiträge sind heute noch erstaunlich aktuell: Gesundheit werde in der Industriegesellschaft individualisiert, wozu auch die Präventionsideologie beitrage. Sie werde so zu einer nicht mehr kritisierbaren Kategorie sozialen Handelns, vielleicht sogar zu einem »Fetisch«. Jedoch seien »Verbesserungen im Gesundheitssystem« nicht »ohne umfassende Änderungen seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen« zu haben. Wenn auch manche Sätze dem damaligen Zeitgeist geschuldet sind: »Die Machteliten manipulieren die unbewußten Unsterblichkeitswünsche der Subjekte, um davon abzulenken, daß sie selbst zur vorzeitigen Sterblichkeit so wirkungsvolle Beiträge leisten«, bleibt doch die Thematisierung von natürlicher Lebensführung, gesundheitlicher Selbstverantwortung (»Krankheit als Metapher«) und heterodoxen Medizinformen aktuell (die seit damals »alternative Medizin« genannt, obgleich sie meist komplementär verwendet werden).
Doch was ist Gesundheit? Die WHO (World Health Organization)-Definition aus dem Jahre 1948 erscheint trotz aller Kritik, die ihr in mehr als sechs Jahrzehnten zuteilwurde, noch immer wegweisend: »Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« In dieser Tradition steht auch eine modernisierte Definition gesundheitswissenschaftlicher Provenienz. Gesundheit ist, wenn man Klaus Hurrelmann¹ folgen will, der »Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet«. Hurrelmann ergänzt also die WHO-Definition um Aspekte von Gesundheitsverhalten und -verhältnissen. Kurzum, es geht ihm mehr um die Frage, wie gesellschaftlich bedingt und beeinflusst sich Gesundheit darstellt.
Um den aktuellen Debattenstand zu skizzieren, werde ich zunächst auf Basis eines Schicht- oder Klassenmodells die gesundheitlichen Ungleichheiten benennen. Danach werde ich der Frage nachgehen, ob Gesundheit durchweg als höchstes Gut in einer Gesundheitsgesellschaft begriffen wird, und mich dabei des Milieu-Modells bedienen. In der Folge werde ich kurz erörtern, ob es eine Klassenmedizin in dieser Gesellschaft gibt, sowie die Asymmetrie des Arzt-Patienten-Verhältnisses und die Entwicklung von gut informierten Patienten debattieren. Schließlich werde ich das Verhalten von Patienten als aktive Konsumenten und den Pluralismus medizinischer Konzepte/Programme, die Ökonomisierung des Gesundheitswesens umreißen und zu guter Letzt auf Gesundheit und Krankheit als Beobachtung eingehen. Die Auswahl dieser Themen ist ihrer Aktualität geschuldet. Ihre Nähe zu den Themen des damaligen Kursbuchs ist auffällig. Hat sich tatsächlich seither nichts geändert?
Gesundheitliche Ungleichheiten
Zwar ist häufig von »Klassenmedizin« die Rede, von Gesundheits- oder Krankheitsklassen spricht indes niemand, obgleich es dazu Anlass gäbe. Soziale Ungleichheiten werden klassisch nach Einkommen, Beruf und Bildung (der »meritokratischen Triade«, so Reinhard Kreckel² ) mit einem Schicht- oder Klassenmodell gemessen. Dies gilt auch für gesundheitliche Ungleichheiten. Andreas Mielck und Uwe Helmert haben diesbezüglich einen Überblick über eine Großzahl empirischer Studien gegeben. Hier die wichtigsten Ergebnisse:
• Hinsichtlich Morbidität und Mortalität insgesamt weisen nur zwei von insgesamt 72 Studien »eine höhere Prävalenz mit höherem sozioökonomischem Status auf (bei Scharlach und Psoriasis); neun zeigen keine eindeutige Beziehung und die Übrigen deuten auf eine höhere Mortalität oder Morbidität mit niedrigerem sozioökonomischem Status hin. … (Es) ergibt sich … ein relativ deutliches Bild höherer Mortalität und Morbidität bei Personen aus den unteren sozioökonomischen Gruppen.«³
• »Die Beziehungen zwischen dem sozioökonomischen Status und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sind auf den ersten Blick weniger eindeutig … Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch relativ eindeutige Tendenzen unterscheiden. So nehmen offenbar mit höherem sozioökonomischem Status die Besuche beim Allgemeinarzt ab und beim Facharzt zu; eine Abnahme ist auch z. B. bei der Medikation zu erkennen; die Selbstmedikation nimmt dagegen mit dem sozioökonomischen Status zu …«⁴
• »Mit zunehmendem sozioökonomischem Status nimmt die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft offenbar ebenso zu wie die Teilnahme an Früherkennungs-Programmen für Kinder … Die Teilnahme an Früherkennungs-Untersuchungen weist dagegen keine eindeutige Beziehung zum sozioökonomischen Status auf …«⁵
• »Personen mit höherem sozioökonomischem Status rauchen weniger, leiden seltener an Übergewicht, treiben häufiger Sport und weisen häufiger Typ A Verhalten auf« (einem von Unruhe, Nervosität usw. gekennzeichneten Verhalten, das mit höherem Herzinfarkt-Risiko einhergeht).⁶
Diese gesundheitlichen Ungleichheiten eröffnen das Bild einer Schichten- oder gar Klassengesellschaft. Sie haben sich über Jahrzehnte hin kaum verändert. Was ihnen gemeinsam ist? Sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Strukturen der meritokratischen Triade und bauen auf der Erwerbssphäre auf. Das heißt, Nichtberufstätige, wie Studierende, Rentner, Arbeitslose, Hausfrauen usw., können in dieses Modell nur schwer subsumiert werden. Es wird auf die Verhältnisse, nicht aber auf Werte, Orientierungen und Verhalten abgestellt. Daher hat man die Modelle erweitert.
Eine andere Struktur sozialer Ungleichheit stellt die Geschlechterdifferenz dar. Johannes Siegrist und Anne Maria Möller-Leimkühler haben deren gesundheitliche Aspekte zusammengefasst und dabei die These von der übermäßigen Belastung der Frauen, aber auch von Defiziten der weiblichen Sozialisation kritisiert. Epidemiologische Daten zeigen bei vielen Erkrankungen