Kursbuch 202: Donner.Wetter.Klima.
Von Kursbuch
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Über dieses E-Book
Mit Beiträgen von Marlen Gabriele Arnold, Franz Josef Radermacher, Joachim Wille, Jörg Staude, Solvejg Nitzke, Berit Glanz u.v.m.
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Rezensionen für Kursbuch 202
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Buchvorschau
Kursbuch 202 - Kursbuch
Impressum
Armin Nassehi
Editorial
Für die Planungszyklen des Kursbuchs ist die gegenwärtige Krisenfrequenz eindeutig zu schnell. Wir wollten mit Donner. Wetter. Klima. die präsenteste Krise unserer Zeit in den Fokus nehmen, nicht eigentlich das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft, wie ihre Kommunikation, wie ihre Begriffs- und Konfliktbildung, wie ihre Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien darauf reagieren. Denn der Gesellschaft fällt die Krise durchaus als eine Art äußerer Veränderung von Klima- und Wetterphänomenen auf, vor allem aber als Störung von Routinen, Selbstverständlichkeiten und Bedrohungsszenarien. Eine Gesellschaft kann auf äußere Einflüsse nur im Modus des Innen reagieren – sie brauchte lange genug, sich die äußeren Veränderungen in ihrem Innenverhältnis selbst zuzurechnen. Diese Prozesse sollte dieses Kursbuch im Blick haben. Wie reagiert die Gesellschaft in ihrem Innenverhältnis auf etwas, das wie etwas Äußeres aussieht und doch alles ist, aber nicht Äußeres, schon weil Gesellschaft nichts Äußeres kennt? Sie kennt die Welt nur als das, was sie sich selbst davon zumutet. Und sie organisiert diese Zumutung nach eigenen Regeln.
Das ist ein gutes Konzept, wie wir finden – und schon wird es, während die Kursbuch-Maschinerie angelaufen ist, von der nächsten Krise gestört, von der Corona-Pandemie, die in statu nascendi der Planungen noch wie ein regionales chinesisches Geschehen aussah. Man sieht diese Störung und Verstörung vielen Texten dieses Kursbuchs an – der gegenwärtige Krisenmodus übersteigt in der Drastik seiner Reaktionsform den Krisenmodus in Sachen Klimawandel um ein Vielfaches. Schon deshalb wird dieses Kursbuch sowohl im impliziten als auch im expliziten Rekurs auf die Corona-Krise ganz anders gelesen, als wir es uns bei der Planung haben träumen lassen. Man kann es auch so sagen: Zu einem passenderen Zeitpunkt hätte ein Kursbuch zur Klimakrise nicht erscheinen können.
Wie komplex die beiden Krisen miteinander gekoppelt sind, lässt sich an vielen Bildern demonstrieren, von denen mir zwei aus Indien und Italien besonders eindrücklich erscheinen, die in den letzten Wochen durch die sozialen Netzwerke zogen. Das eine stammt aus der nordindischen Stadt Jalandhar (Punjab). Man kann dort das erste Mal nach 30 Jahren wieder den etwa 200 Kilometer entfernten Himalaja klar und deutlich sehen. Und in Venedig ist das Wasser der Kanäle nicht mehr grünlich-trüb, sondern so klar, dass man bis zum Boden sehen kann. Schon eine kurze Zeit mit weniger Verkehr und damit weniger Emissionen hat sichtbare Folgen – die Luft wird so klar, dass alte Bilder wiederkommen, der ausbleibende Bootsverkehr in der Lagunenstadt lässt die Sedimente ruhen, und es gibt sogar Meldungen darüber, dass seit den weltweiten Reaktionen auf das Corona-Virus die Erschütterungen der Erdkruste deutlich messbar zurückgegangen sind. Das soll nicht heißen, dass man mit den Mitteln gegen die Pandemie auch den Klimawandel bearbeiten sollte und könnte – aber das unsichtbare Virus mit dem gekrönten Namen führt in geradezu historischer Ironie den sichtbaren Beweis, wie anthropogen die Umwelt- und Naturveränderungen sind, mit denen wir zu tun haben. Für die Frage, wie das zu bewältigen ist freilich, kann das gar nichts beitragen. Es könnte aber ein Hinweis auf verpasste Chancen sein – und womöglich wird auch die Corona-Krise eine Krise durch verpasste Möglichkeiten.
Verpasste Chancen sind ein Motiv, das viele Beiträge dieses Kursbuchs begleitet. Franz Josef Radermacher berichtet von vorübergegangenen Zeitfenstern für die Bearbeitung der Klimakrise. Auch Jörg Staude und Joachim Wille stoßen in dieses Horn und mutmaßen, ob der europäische Green Deal nun unter Corona noch weniger Chancen hat als ohnehin schon, und Peter Unfried trauert politischen Engführungen der Klimabewegung nach und beklagt vor allem ihre Staatsfixiertheit. Auch die Kosten-Nutzen-Analyse der Digitaltechnik und der KI als Energieverbraucher und Lösungskonzept von Marc Winkelmann weist auf verpasste Chancen hin, weil auf die Klimafrage stets nur reagiert wurde. Die Überlegungen über Klimadialoge von Simon Weber und Jacques Chlopczyk versuchen sich ebenfalls daran, verpassten Chancen entgegenzuwirken, indem sie auf die Kraft der Kommunikation setzen. Dieser Beitrag folgt unserem Call for Papers für jüngere Autorinnen und Autoren.
Wie erfahren wir vom Klimawandel, welche Informationen stehen zur Verfügung, wie wird Wissen darüber erzeugt? Marlen Gabriele Arnold spürt der Art und der Qualität von Daten nach, die die Krise repräsentieren sollen und zum Teil zu viel, zum Teil zu wenig Eindeutigkeit erzeugen. Sie kommt zu der wunderbaren Schlussfolgerung, dass darin die merkwürdige Antinomie aufscheint, dass wir durch diese vielen Daten und Informationen darüber belehrt werden, dass es sich um einen menschengemachten Wandel handelt, andererseits aber der Illusion menschlicher Allmachtsfantasien unterliegen, die Sache instrumentell steuern zu können. Auch Solvejg Nitzke kommt auf die Repräsentations- und Präsentationsformen des Klimawandels zu sprechen, deren szientoide Form sie vor allem im Blick hat. Und mein eigener Beitrag stellt die Frage, was es denn eigentlich heißt, auf die Wissenschaft zu hören.
Besonders hervorheben möchte ich zwei Beiträge. Der Moraltheologe Christof Breitsameter zeigt, wie stark der heutige Klimadiskurs auf alte theologische und religiöse Argumentationsformen zurückgreift, mit der Schicksalhaftigkeit oder Bedeutsamkeit von Wetter und Klima umzugehen. Ist der Klimawandel Gottes eigener Plan oder eine Herausforderung für den Menschen, mit Gottes Schöpfung angemessen umzugehen? Der Theologe jedenfalls empfiehlt, nicht nur den »lieben Gott« lieber aus dem Spiel zu lassen. Und Berit Glanz erzählt über die Erzählbarkeit der Natur, die spätestens mit der Erzählung keine Natur mehr ist, aber eben doch die vorgängige Möglichkeit, Natur zu erreichen. Sie plädiert dafür, den Spuren der Natur durch die Texte der Menschheit zu folgen.
Wir freuen uns sehr über Oswald Eggers Priameln – und sagen nicht mehr als das, was er uns selbst dazu gesagt hat: »Bei Gedichten ist Verstehen: Wirken.«
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Virus-Bilder von sieben verschiedenen Künstlern. Die Bilder sind in einem 3-D-Verfahren auf Basis von Mikroskopansichten entstanden, also digital optimierte Viren, künstlerisch weiterbearbeitet. Sie können wie eine Parabel gelesen werden – auf beide Krisen. Bilder sind anschaulicher, als sie es wirklich sind, denn das Bild liefert zugleich mit, dass wir uns nur ein Bild von dem Geschehen machen können, das Geschehen selbst aber unerreichbar ist. Das ist das Merkwürdige an bildlichen Darstellungen, die anders als Text so tun, als können das Gezeigte und das Zeigen zur Deckung gebracht werden. Darauf verweist das Bild stets – weil es stets dies bleibt: ein Bild. Es ist aber kein Zufall, dass diese Bilder unter Kunstverdacht geraten, nicht nur weil sie ja künstlerische Darstellungen sind, sondern weil die Grenze zwischen Abbild und Gegenstand verschwimmt, es verschränkt sich hier fast die wissenschaftliche mit der künstlerischen Form – denn die Kunst verweist auf beides: auf die Dinge, wie sie sind, und darauf, dass man sie nicht zeigen kann, wie sie wirklich sind.
In seiner Kolumne FLXX speist Peter Felixberger diesmal mit Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu, der offenbar nicht nur die Gewalten, sondern auch die Klimazonen geteilt hat.
Wir freuen uns über den nunmehr 29. Brief eines Lesers, für den uns Cord Schnibben seinen Beitrag über das Kursbuch 200. Revolte 2020 zur Verfügung gestellt hat, der bereits in seiner Kolumne »Bahnhofskiosk« im Online-Magazin Übermedien erschienen ist.
Cordt Schnibben
Brief eines Lesers (29)
Da steht es, gelb, schmal, kleiner als DIN A4. Wie ein Fels im Meer aus Bullshit, einsam, nur ein Exemplar, während die Zeitschriften rundherum mindestens im halben Dutzend um Aufmerksamkeit betteln. Das Heft steht so, dass man das gesamte Cover erkennen kann, wie von einem Kioskverkäufer inszeniert, der weiß: Dieses Heft ist etwas Besonderes. Kursbuch 200! Und dann auch noch dieses Thema: »Revolte 2020«!
Ich begrüße das Heft lächelnd, wie einen Hund, der weggelaufen war und nun nach Jahren schwanzwedelnd im Garten steht. Kursbuch lesen, das war mal so etwas wie Italowestern schauen und »Beat-Club«.
Mein erstes Kursbuch war das mit der Nummer 11, im Januar 1968. In meinem Bücherregal stehen heutzutage, nach vielen Umzügen, noch drei Kursbücher – und ein Sammelband mit den ersten 20 Ausgaben.
Das Kursbuch sei »der Begleiter aller Revolten seit 1965« gewesen, schreibt Herausgeber Armin Nassehi im Editorial des aktuellen Hefts, das nicht »nostalgisch« zurückblicken, sondern lieber – einmal um die Welt schauend – eine »strenge Gegenwartsanalyse« liefern wolle. Was dann thematisch heißt: Hongkong. Rechtspopulismus. Klimaproteste. Digitale Revolte. Protestsongs. Kirchenfrauenprotest. Mädchenprotest. Und zurückgeblickt wird doch auch: Der Zeichner und Anarchist Gerhard Seyfried, Zeichnungen von eins bis jetzt.
In der ersten Ausgabe, im Juni 1965, schrieb der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, im Heft »wird gehandelt von Grenzübertritten in Berlin, vom Verlust einer Kneipe, von einer Stadt in Finnland, von der Lage der Intelligenz, von den Rechten und den Möglichkeiten der Schriftsteller, vom Frankfurter Auschwitz-Prozess«.
Gelegentlich – beunruhigt von der fortschreitenden Enthemmung, der Müdigkeit intellektueller Debatten, der Kraftlosigkeit von SPD und CDU – schaue ich in die Kursbücher im Regal, die 1968, 1978, 1993 versucht haben, die Gesellschaft zu beschreiben. Sie spiegeln die Themen des aktuellen Heftes wie in einem Hologramm.
Der Journalistin Hannah Lühmann, Autorin des »Briefes einer Leserin«, muss es ähnlich gehen. In ihrem Text erzählt sie von einem Text aus dem Kursbuch 54, Dezember 1978; er ist von Rainald Maria Goetz. Sie blickt, den Goetz-Text kommentierend, zurück auf das Zeitalter der Ironie vor 2014: »Wir wollten uns informieren, uns interessieren, gleichzeitig hatten wir das Gefühl, alles, was man tun könne – in eine Partei eintreten, selber etwas gründen, Politisches posten –, wäre irgendwie aufgesetzt, unauthentisch, unecht. Wir waren noch nicht an dem Punkt, an dem wir, um mit Goetz zu sprechen, ›unsere Wirklichkeit auf diese Abstrakta beziehen können‹.«
Heute sei das Politische zurück, aber damit auch die »Etiketten und Schablonen«, sie sind denkfeindlich wie eh und je, bringen, wie eh und je, Erleichterung. Heute haben wir einen neuen, aus den Gender- und Kulturwissenschaften hervorgegangenen Diskurs, der sich so wunderbar selbst sortiert, dass man ihn nicht mehr durchdenken muss, um in der aus ihm hervorgegangenen Sprache zu sprechen. Etiketten und Schablonen? Ja, gibt es auch, aber sind nicht Druck und Bereitschaft, sie zu überwinden, inzwischen viel bestimmender?
Kursbücher waren immer Denkbefehle, waren immer anstrengend, auch die 200. Ausgabe fördert Widerspruch, Reflexion, Weiterdenken. Das große Nein von Armin Nassehi schlägt den Bogen von den Ostermärschen der Fünfziger zu den studentischen Protesten der Sechziger, den Alternativbewegungen in den Siebzigern, der Friedensbewegung in den Achtzigern, den Montagsdemos in der DDR über die Pegida-Demos bis zu den aktuellen Klimaprotesten, »die sich anschicken, die Dimension der Achtundsechziger-Proteste zu übersteigen«.
Proteste sind »Themengeneratoren« in der Demokratie, sie unterbrechen den »Machtkreislauf« und zwingen »den Machthaber dazu, sich dazu zu verhalten«. In der Natur von Protesten liegt es, einen Protestkreislauf auszulösen, eine »Steigerungslogik«. Darum gebe es eine direkte Linie von der 68er-Bewegung zur RAF oder von »einer rechten Protestszene zu den Mördern des NSU«. Und es gebe eine »direkte lineare Logik von dem etwas verschrobenen Parteigründer Bernd Lucke hin zu veritablen Faschisten wie Höcke, die das Kampagnengeschäft gelernt haben«.
Die soziale Logik von Protesten sei ähnlich, was man daran sehe, dass der rechte Propagandist Götz Kubitschek in seiner Schrift Provokation mit dieser Logik spiele, »die sich ihre Erfolgsbedingung bei linken Protestformen früherer Generationen abgeschaut hat«. Die »Steigerungslogik des Protestierens« führe in vielen Fällen zur Gewalt. Die Frage ist: Gilt das auch für die Fridays-for-Future-Proteste? Reicht den Klima-Kids irgendwann der 300. Schulstreik nicht mehr? Was kommt nach Extinction Rebellion? Eine Öko-RAF?
Der Therapeut Wolfgang Schmidbauer geht in seinem Text »Die heilige Johanna des Waldbrandes« der Frage nach, warum es zu Gestalten wie Jeanne d’Arc, Katharina von Siena und Greta Thunberg kein männliches Pendant gibt, also warum das Mädchen, das mit einer großen Berufung gegen die Welt der Erwachsenen kämpft, keine Brüder hat. Eine der Antworten: Erwachsenen gelingt es besser als Jugendlichen, Ängste zu verdrängen, sie lenken sich ab, fangen an zu trinken, konsumieren mehr statt weniger. Offenbar gilt das auch für männliche Jugendliche.
Die Wissenschaftlerin Cornelia Koppetsch kritisiert den »Hashtag-Feminismus« (#Aufschrei, #MeToo) als Medienaufstand auf Nebenkriegsschauplätzen: »Lohnungleichheiten und ökonomische Ausbeutung, Karriereblockaden, Altersarmut und alltägliche Form der Diskriminierung sind gesellschaftlich bedeutsamer, können medial aber kaum Aufmerksamkeit erzielen.« Und sie fragt: »Worin besteht der politische Nutzen, öffentliche Kunstwerke, wissenschaftliche Klassiker und prominente Persönlichkeiten öffentlichkeitswirksam anzugreifen und zu diskreditieren?«
»Sind Frauen die besseren Revolutionäre?« Das fragt logischerweise die Historikerin Hedwig Richter, räumt aber ein: »Die Frau als Hort der Demokratie, der Mann als Despot – so klar lagen die Dinge eher selten zutage«; sie erinnert an den Aufstand der 68er-Frauen gegen die aufständischen Männer und den hilflosen Vorschlag von Fritz Teufel, alle »Genossinnen auszuschließen, weil sie noch entfremdeter und blöder daherquatschen als die Genossen«; sie streift die feministische Revolutionshymne »The Pill« von Loretta Lynn aus dem Jahr 1975 (»All the years I stayed at home while you had all your fun«); um mit Mao Tse-tung zu enden, nicht mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, oder Sahra Wagenknecht: »Die Revolution ist keine Stickerei.«
Was kommt nach der Revolution? Die Konterrevolution. In seinem Manifest »Wider die Schönfärberei« gesteht der Schriftsteller Gert Heidenreich: »Lasst uns Tacheles reden. Die neue Gegenreformation ist gelungen, die Täuscher haben es geschafft: Sie sind zur Macht gelangt. Gewohnheitsmäßige Lügner mit Amt und ohne Würde bestimmen den öffentlichen Diskurs.« Die Revolution gegen das Fremde werde von den Schönfärbern als Rechtspopulismus euphemisiert. »Populisten sind Leute, die dem Volk nach dem Maul reden. Das ist auf Dauer eine ermüdende Strategie … Faschisten aber sind Leute, die dem populus so lange ihre scheinbar vaterländischen Parolen einhämmern, bis das Volk ihnen nach dem Maul redet und sich an den Parolen so begeistert, als habe es sie selbst erfunden.« Euphemismen und Fake News seien der Boden, auf dem solches Unheil gedeiht.
Im ersten Kursbuch 1965 skizziert Hans Magnus Enzensberger das Programm seiner Neugründung: »Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.« Was bedeutete das für die Ausgaben in den verschiedenen Jahrzehnten?
In meinem ersten Kursbuch, dem von Januar 1968, wurde Che Guevara – er war gerade in Bolivien erschossen worden – von Peter Weiss begraben: »Wir sind Optimisten. Wir glauben an die eingeborene Kraft, die den Menschen dazu befähigt, seine Unterdrücker zu stürzen.« Der Dramatiker beschreibt, ganz Superoptimist, »den Tag, an dem Millionen Arbeiter die Fabriken und Werkstätten verlassen und fordern werden: Schluss mit der Schlächterei – dieser Tag wird der Anfang vom Ende sein, vom Ende des Imperialismus.« 150 Seiten später, im Text »Berliner Gemeinplätze« allerdings räumt Hans Magnus Enzensberger ein: »Das Gespenst der Revolution flößt Millionen unserer Mitbürger sinnlose Angst ein.«
Am Ende des Kursbuchs 20, wir sind im März 1970, also fünf Jahre später, entwickelt Hans Magnus Enzensberger seinen Baukasten zu einer »Theorie der Medien«, einen erstaunlich weitsichtigen Blick, der bis in die Gegenwart 50 Jahre später reicht. »Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseinsindustrie zum Schrittmacher der sozioökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden.« Und: »Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Masse selbst befinden.«
Die Kursbücher der ersten beiden Jahrzehnte waren viel stärker als heute auch eine literarische Zeitschrift, offen für »neue Prosa und neue Poesie«. Und wo die literarische Vermittlung versagt, »wird das Kursbuch den unvermittelten Niederschlag der Realien zu fassen suchen: in Protokollen, Gutachten, Reportagen, Aktenstücken, polemischen und unpolemischen Gesprächen«.
Im Kursbuch 54, Dezember 1978, reiht sich Reportage an Reportage, Essay an Essay, Gespräch an Gespräch. Mittendrin der sehr subjektive, sehr erschöpfte Blick eines Einzelgängers, mitten im Deutschen Herbst aufgeschrieben vom Medizinstudenten Rainald Maria Goetz, zu Papier gebracht in seinem ersten Text:
»Und so sitze ich, während ich dies schreibe, in meiner Studentenbude mitten in Schwabing, allmonatlich überweist der Vater die Miete. Ich habe mir den anerzogenen Weg gewählt, das Medizinstudium also, ein geordnetes, höchst braves Privatleben, ohne Alkohol, ohne Drogen, ganz ohne Studentenboheme. Ich werde das Soll erfüllen, Ausbrüche, Einbrüche, Abbrüche, nein, Brüche irgendeiner Art, sichtbar nach außen, erwarte ich