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Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen
Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen
Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen
eBook388 Seiten3 Stunden

Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

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Über dieses E-Book

Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute. Wie haben wir das geschafft? Die Geschichte zeigt, dass der Fortschritt immer wieder in Schüben erfolgte. Neuerungen meist technischer Art haben das Leben verändert – oft mit zunächst schmerzlichen Umwälzungen verbunden, aber schliesslich zum Besseren. Nun scheint es, als hätten wir alles erreicht, was wir erreichen können – wenn nicht sogar zu viel: Man sagt uns, wir konsumierten, als hätten wir drei Erden. Die Rohstoffe gingen zu Ende. Es drohe der Kollaps. Das ist ein Denkfehler. Die Angst vor der Zukunft blendet die Erfindungskraft von uns Menschen aus. Auch heute werden Lösungen gefunden – wir müssen sie nur anwenden. Der Physiker Simon Aegerter zeigt anschaulich und leicht verständlich auf, wie wir das anpacken könnten.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum24. März 2020
ISBN9783038104889
Das Wachstum der Grenzen: Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

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    Buchvorschau

    Das Wachstum der Grenzen - Simon Aegerter

    Noch nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute. Wie haben wir das geschafft? Die Geschichte zeigt, dass der Fortschritt immer wieder in Schüben erfolgte. Neuerungen meist technischer Art haben das Leben verändert – oft mit zunächst schmerzlichen Umwälzungen verbunden, aber schliesslich zum Besseren. Nun scheint es, als hätten wir alles erreicht, was wir erreichen können – wenn nicht sogar zu viel: Man sagt uns, wir konsumierten, als hätten wir drei Erden. Die Rohstoffe gingen zu Ende. Es drohe der Kollaps. Das ist ein Denkfehler. Die Angst vor der Zukunft blendet die Erfindungskraft von uns Menschen aus. Auch heute werden Lösungen gefunden – wir müssen sie nur anwenden. Der Physiker Simon Aegerter zeigt anschaulich und leicht verständlich auf, wie wir das anpacken könnten.

    Simon Aegerter

    Das Wachstum der Grenzen

    Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen

    NZZ Libro

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

    Das E-Book folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-03810-476-6)

    Lektorat: Rainer Vollath, München

    Umschlag: Katarina Lang, Zürich

    Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz

    Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN E-Book 978-3-03810-488-9

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

    Für

    Michael

    Thomas

    Nico

    Amy

    Sie und ihre Generation sollen nicht im Mittelalter leben müssen.

    Vorwort

    Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte. Dennis L. Meadows’ Grenzen des Wachstums (1972) und Paul R. Ehrlichs Die Bevölkerungsbombe über die Bevölkerungsexplosion haben mich bewegt und beunruhigt, weil ich schon vor 50 Jahren um die Bedrohungen des Klimawandels durch das anthropogene Kohlendioxid (CO2) wusste. Ich wunderte mich, dass dieses Problem bei Meadows kaum auftauchte.

    Ich begann, mich vertieft mit diesen Fragen zu befassen, und ich stiess auf Erstaunliches: Nicht Fakten, nicht Forschungsergebnisse, nicht einmal Naturgesetze dienen als Leitlinien politischen Handelns, sondern – ganz profan – materielle Interessen. Ich erhielt sogar den Eindruck, dass wissenschaftliche Fakten – gewissermassen zum Selbstschutz – oft bewusst nicht wahrgenommen werden.

    Was kann man dagegen tun? Man kann die Fakten immer wieder bekannt machen. Aber wie? Leserbriefe schreiben? Ja, aber es ist die Redaktion, die entscheidet, welche Briefe veröffentlicht werden. Und diese entscheidet vorwiegend aufgrund von Geschäftsinteressen. Das Gleiche gilt für Artikel und Gastbeiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Seit etwa 20 Jahren gibt es die Möglichkeit, seine Meinung über das Internet zu verbreiten. Aber auch da ist die Reichweite beschränkt. Drei Jahre vor der Energieabstimmung in der Schweiz am 21. Mai 2017 verfasste ich ein Blog zu Energiefragen. Die höchste Leserzahl lag bei tausend.

    Vielleicht dann doch lieber ein Buch schreiben? Ein Buch kann man immer wieder zur Hand nehmen.

    Dabei stellten sich mir aber verschiedene Fragen. Welche Art von Buch sollte ich schreiben? Kann man Wissenschaft in eine spannende Geschichte packen? Ich hab’s versucht. Es hat mich nicht befriedigt. Vielleicht eine Serie von Comics? Das könnte gehen, aber mein Talent zum Zeichnen reicht nicht aus. Die Blogs aus dem Abstimmungskampf zu einem Buch zusammenfassen? Das wäre das Einfachste, aber wohl nicht besonders spannend, weil unzusammenhängend.

    Also doch ein klassisches Buch mit Text und Illustrationen. Sie halten es in Ihren Händen. Es besteht aus drei Teilen. Falls Sie sich nicht für Geschichte interessieren, können Sie sich den ersten Teil sparen. Allerdings werden Sie dann einige Zusammenhänge verpassen, die Sie vielleicht noch nicht gekannt haben. Der zweite Teil zeigt, was die Menschheit erreicht hat. Was heisst das für die Zukunft? Davon handelt der dritte Teil. Was werden unsere Enkel erleben und was nicht?

    Eine Warnung: Dieses Buch habe ich nicht für Fachleute geschrieben. Fachleute wie Historiker, Ärzte oder Molekularbiologen werden, wenn sie beim Lesen auf ihr Fachgebiet stossen, den Kopf schütteln, sich gar die Haare raufen. Ich habe vieles sehr stark vereinfacht, aber ich habe mich bemüht, nichts Falsches zu schreiben. Manches mag provozierend tönen. Das ist Absicht. Wenn dieses Buch heisse Diskussionen auslöst, freut es mich. Eine zweite Warnung: Meine Zahlenbeispiele verwenden gerundete Zahlen. Es geht mir um Grössenordnungen, deshalb gehen die Stellen nach dem Komma bisweilen verloren. Also bitte nicht nörgeln, wenn meine Zahlen eine Stelle nach dem Komma von Ihren abweichen.

    Vieles sehe ich aus schweizerischer Warte, aber der globale Blick geht nicht vergessen. Die Leser nördlich und östlich des Rheins mögen mir den einen oder anderen Helvetismus nachsehen.

    Die Leser? Und die Leserinnen? Die natürlich auch. Ja, in meinem Deutsch sind sie nicht nur mitgemeint, sondern voll dabei. Sie sind Menschen, und auf Deutsch heisst es «der Mensch». Ich halte es mit Wolf Schneider, dem Doyen des guten deutschen Sprachstils, der einst meinte: «Um ein berechtigtes Anliegen zu unterstützen, ist es nicht nötig, eine Sprache zu zerstören.» Schneider betont immer wieder den Unterschied zwischen dem biologischen und dem grammatikalischen Geschlecht. Die Person kann auch ein Mann sein, der Mensch eine Frau und das Individuum beides. Die kürzlich verstorbene Physikerin Verena Meyer, erste Rektorin der Universität Zürich, zeigte an einem Beispiel, dass geschlechtergerechte Sprache nicht funktionieren kann: «Mein bester Student war eine Frau», sagte sie. Geschlechtergerecht kann man das gar nicht ausdrücken. In gendergerechter Sprache wäre es ein Widerspruch in sich, und «Meine beste Studentin war eine Frau» wäre tautologisch. Das Partizip der Gegenwart funktioniert auch nicht: Die Studierenden studieren ja nicht immer. Manchmal sind sie Schlafende, Essende, Liebende. Gendersternchen, Binnen-I und Unterstriche gehen gar nicht. Nein, gutes Deutsch ist das Deutsch, das sich über viele Generationen entwickelt hat. Es ist das Deutsch, das zu schreiben ich mich bemühe.

    Dieses Buch wäre nicht so geworden, wie es ist, wenn ich nicht die Hilfe meiner Frau Irene gehabt hätte, die mich immer wieder angespornt hat, hier eine lesbarere und dort eine präzisere Wendung zu finden. Danke, Irene. Geschrieben ist das Buch in erster Linie für unsere Enkel. Sie sollen dereinst nicht sagen müssen: «Unser Grossvater hat zwar gesehen, was auf uns zukommt, aber er hat uns nichts gesagt.»

    Einleitung

    Versklavt von Robotern? Verarmt wegen Ressourcenmangel? Auf der Flucht vor dem Krieg ums Wasser? Überrannt von Klimaflüchtlingen? Keuchend in verschmutzter Luft? Verstrahlt vom Atommüll?

    Sieht so das Schicksal unserer Enkel aus? Wird das Leben auf der Erde von nun an immer schlimmer, schwieriger und gefährlicher? Leben wir jetzt und heute in der besten aller möglichen Welten? Oder haben wir diese vielleicht schon hinter uns? War in der «guten alten Zeit» alles besser?

    Zeitungen, das Radio und das Fernsehen sowie die Internetmedien – alle machen es uns leicht, uns vor der Zukunft zu fürchten. Noch geht es uns gut! Eigentlich sehr gut. Wir ernähren uns mit erlesenen Speisen, wohnen geräumig und behaglich. Wir gönnen uns Tauchferien auf den Malediven. Wir verbringen den Lebensabend auf Kreuzfahrten und lernen neue Welten kennen. Und der Lebensabend wird immer länger: Die Lebenserwartung übertrifft die unserer Eltern und erst recht die unserer Grosseltern um viele Jahre. Sie nimmt immer noch zu. In der Schweiz jedes Jahr um fast einen Monat. Die Medizin hat die Geisseln der Menschheit – Pest, Tuberkulose, Syphilis – weitgehend überwunden. Pocken gibt es nicht mehr, Kinderlähmung bald auch nicht mehr. Es mangelt uns an fast nichts.

    Aber so kann es doch nicht weitergehen, lesen und hören wir allenthalben. Wir plündern unseren Planeten. Wir leben, als hätten wir drei Planeten Erde zur Verfügung. Die Grenzen des Wachstums hat man uns schon 1972 aufgezeigt. Wir missachten sie. Wir haben sie überschritten. Der Kollaps sei unausweichlich.

    Ist die Angst vor der Zukunft also begründet?

    Schon immer standen die Menschen an der Schwelle zur Zukunft. Schon immer hatten sie Angst davor. Und fast immer kam es ganz anders, als befürchtet. Besser. Angenehmer. Gesünder.

    Fast immer, aber nicht immer. Um 1913 und 1939, da war die Angst vor der Zukunft begründet. Sie wäre auch 1618 begründet gewesen – aber da erwartete niemand den verheerenden Dreissigjährigen Krieg.

    Hundert Jahre später, 1719 – vor 300 Jahren, da drohte nichts besonders Furchterregendes. Da herrschte einfach die übliche Angst vor der Zukunft. Wie sah die Welt damals aus? In Frankreich war der achtjährige Ludwig XV. König. Der Sonnenkönig Ludwig XIV., sein Urgrossvater, war vier Jahre zuvor verstorben. In Leipzig komponierte Johann Sebastian Bach Kantaten und Fugen. Vornehme Männer trugen Perücken, Königs- und Fürstenhöfe waren prächtig mit Samt und Gold ausstaffiert. Es war das Zeitalter des Barocks.

    Doch der allergrösste Teil der Menschen hatte keinen Anteil an der barocken Pracht. Sie waren Bauern. Sie lebten von der Hand in den Mund und arbeiteten sich dabei buchstäblich zu Tode. Das Land, das sie bebauten, gehörte ihnen nicht. Die Mütter gebaren zehn oder zwölf Kinder, von denen die Hälfte die Kindheit nicht überlebte. Viele junge Männer, die es schafften, erwachsen zu werden, starben als Söldner in fremden Kriegsdiensten.

    Die hygienischen Verhältnisse stanken buchstäblich zum Himmel, besonders in den Städten, wo die Handwerker ein bescheidenes Auskommen suchten. Die Strassengräben waren offene Kloaken, gespeist durch die Ehgräben zwischen den Häusern, in die man das Nachtgeschirr entleerte.

    Die Angst vor der Zukunft bezog sich auf die nahe Zukunft: Würde es gelingen, im Herbst eine gute Ernte einzufahren, oder würden Sturm, Hagel und Hochwasser zu Missernten und Hungersnot führen oder Seuchen das Vieh dahinraffen? Würde der Gutsherr die Abgaben erhöhen oder die Obrigkeit einen Krieg anfangen? Und wann endlich bessert sich Vaters Husten?

    Niemand wusste, dass sich im fernen England eine neue Zeit anbahnte. Selbst wenn man gewusst hätte, dass es im abgelegenen Dudley einem Schmied namens Thomas Newcomen einige Jahre zuvor gelungen war, eine Maschine zu konstruieren, die Feuer in Kraft verwandelte, hätte sich niemand die Folgen ausmalen können. Vor 300 Jahren standen die Menschen in Europa an der Schwelle zur Moderne. Doch niemand ahnte es.

    Hundert Jahre später war die Moderne da – und die Angst davor. Man hatte schwere Zeiten hinter sich. Die Napoleonischen Kriege waren endlich vorüber, und nach dem Wiener Kongress von 1815 schienen in Europa Frieden und Stabilität eingekehrt zu sein. Aber dann folgte das Jahr 1816, das Jahr ohne Sommer, und mit ihm Missernten und Hungersnöte. Niemand wusste, dass ein gigantischer Vulkanausbruch im fernen Indonesien die Ursache war. Man fürchtete, das könnte das neue Normale sein.

    Noch konnten sich die Bauern mit Weben und Spinnen zu Hause ein Zubrot verdienen, aber aus England hörte man Beunruhigendes: Maschinen in Fabriken nahmen den Heimarbeitern angeblich die Arbeit weg. Auch auf dem Kontinent entstanden Fabriken. Überhaupt hörte man Schreckliches aus England: Es sollte dort maschinengetriebene Wagen geben, die, ohne von Pferden gezogen zu werden, von selbst fuhren, gar schneller als ein galoppierendes Pferd.

    Zumindest in Frankreich war mit Ludwig XVIII. die königliche Ordnung wiederhergestellt. Die europäischen Herrscher von Gottes Gnaden konnten ihre Macht und ihren Prunk beruhigt weitergeniessen. Die absurde Idee, das Volk könne sich selbst regieren, hatte sich erledigt – ausser jenseits des Atlantiks, in den sogenannten Vereinigten Staaten von Amerika. Dort kamen sie seltsamerweise immer noch ohne einen König aus, auch nachdem die Engländer sie sechs Jahre zuvor zur Vernunft hatten bringen wollen und das Weisse Haus niederbrannten. Und dann waren da noch die starrköpfigen Schweizer.

    Ist es die Ruhe vor einem weiteren Sturm? Die meisten waren überzeugt davon.

    Hätten sie hundert Jahre vorausblicken können, sie hätten sich bestätigt gesehen. Das Jahr 1919 war alles andere als erfreulich. Zwar hatte das grosse Sterben in Flandern endlich ein Ende, aber jetzt raffte die Grippe die Menschen dahin. Die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs waren drückend, und wieder kam der Hunger zurück nach Europa.

    Angesichts dieses Elends war es leicht zu übersehen, wie viel besser es den Menschen ging als hundert Jahre zuvor. Die Industrialisierung hatte die Produktivität massiv gesteigert; alle waren wohlhabender geworden. Auf den Weltausstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts hatte man die neuen Wunder der Technik bestaunen können: elektrisches Licht, elektrisch angetriebene Maschinen, selbstfahrende Kutschen. Eisenbahnen transportierten die Güter jetzt viel schneller als Fuhrwerke, und sogar in der Luft sah man neuerdings Maschinen.

    Die Kinder hatten eine grössere Chance, erwachsen zu werden. Man hatte gelernt, was Hygiene bedeutet. Nachrichten verbreiteten sich fast augenblicklich. Anstelle von Schiffen, die wochenlang unterwegs waren, überbrachte der Telegraf die Neuigkeiten. Die Neue Zürcher Zeitung erschien dreimal am Tag.

    Die Nachrichten waren aber nicht dazu angetan, sich auf die Zukunft zu freuen: Der deutsche Kaiser war abgesetzt, ebenso der russische Zar und der österreichisch-ungarische Kaiser. Auch der türkische Sultan klammerte sich mit letzter Kraft an die Macht. Die Welt war in Aufruhr, und niemand wusste, wie es weitergehen würde. Die Zukunft machte Angst.

    Jetzt schreiben wir das Jahr 2020, und wir stehen da, wo wir schon immer gestanden haben: an der Schwelle zur Zukunft. Und wir fürchten uns immer noch davor. Wenn wir 300 Jahre zurückblicken, sehen wir – trotz der Rückschläge und Einbrüche – eine fast unglaubliche positive Entwicklung. Könnte es nicht so weitergehen? Können wir die Zukunft nicht erraten, indem wir die Vergangenheit extrapolieren, weiterschreiben?

    So einfach geht es leider nicht. Aber wir können aus der Vergangenheit lernen. Dazu möchte ich mit diesem Buch anregen.

    Im ersten Teil versuche ich, diese Vergangenheit in komprimierter Form in Erinnerung zu rufen. Wir werden sehen, dass die Entwicklung nicht anhaltend und stetig war. Sie verlief in Schüben, ausgelöst durch Neuerungen, die alles, was zuvor galt, infrage stellten. Ich nenne diese Neuerungen disruptiv.

    Im zweiten Teil wollen wir uns umsehen und zusammenfassen, was wir erreicht haben und wie wir das erreicht haben – im Guten wie im Schlechten.

    Im dritten Teil wage ich einen Blick in die Zukunft. Nein, ich wage keine Prognosen, ich zeige bloss Möglichkeiten auf. Möglichkeiten, die wir aufgrund des heutigen Wissens haben. Ob wir diese Möglichkeiten nutzen werden, wer sie nutzen wird und ob man sie missbrauchen wird – all das wage ich nicht vorauszusagen. Natürlich weissage ich nichts, was heute noch unbekannt ist. Aber technische Entwicklungen kann man mit einiger Sicherheit voraussagen, vor allem vermag man mit Sicherheit zu sagen, was es auch in hundert oder mehr Jahren nicht geben wird: Zum Beispiel freie Energie aus dem Nichts. Oder die Flucht der Menschheit auf einen anderen Planeten. Oder lauter Menschen, die nur lieb, gut und fürsorglich sind.

    Gar nicht absehbar ist das gesellschaftliche und politische Umfeld, in dem sich diese Möglichkeiten darbieten werden. Eine Extrapolation ist in diesem Fall völlig unmöglich. Da herrscht im mathematischen Sinn Chaos: Eine kleine Begebenheit kann eine grundlegende Umwälzung auslösen. Man denke an den Mord von Sarajevo. Oder an den Fenstersturz von Prag, der den Dreissigjährigen Krieg auszulösen half. Und es kann ja auch negative Disruptionen geben.

    Ist vielleicht der technische Fortschritt, wie wir ihn heute erleben, so eine negative Disruption? Steuern wir nicht sehenden Auges in eine Katastrophe? Sind Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Energieverschwendung und Bevölkerungsexplosion nicht Wege in den Untergang? Sollten wir nicht wieder natürlicher leben, auf Technik und Wachstum verzichten?

    Ja, die technische und gesellschaftliche Entwicklung ist rasant, und sie kann beängstigend sein. Sie ist zurzeit für eine Mehrheit der Menschen offenbar eher beängstigend als vielversprechend. Diese Mehrheit gleicht einem Menschen, der erstmals fliegt, und das gleich auf dem Sitz des Kopiloten. Er sieht, wie das Flugzeug beim Start beschleunigt, er hört den Lärm der Motoren und spürt die Vibrationen. Alles wird immer schlimmer, und er sieht mit Entsetzen, wie das Flugzeug, in dem er hilflos ausgeliefert sitzt, immer schneller auf das Ende der Piste zurast, auf den Zaun, die Strasse mit dem dichten Verkehr und den Wald dahinter. Panik ergreift ihn, er möchte mit voller Wucht auf die Bremse treten – und würde damit eine Katastrophe verursachen, denn das Flugzeug lässt sich in dieser Phase des Startvorgangs nicht mehr rechtzeitig abbremsen. Es knallt in den Zaun, in die Autos und in die Bäume.

    Der Pilot weiss das. Die kritische Geschwindigkeit ist überschritten. Was auch passiert, er hebt ab. Er fliegt. Er überfliegt das Ende der Piste, den Zaun, die Strasse und den Wald.

    Wir, die Menschheit, sind in dieser Situation. Wir haben einen kritischen Punkt überschritten. Zum Bremsen ist es zu spät. Jeder Versuch, den Start abzubrechen, schlägt nicht nur fehl, sondern endet in einem Desaster. Jetzt sind Wissen und Können gefragt.

    Noch nie in der Geschichte wussten wir so viel, hatten wir so viele technische Möglichkeiten und so viele Chancen, das Leben aller Menschen zu verbessern. Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, dieses Wissen, diese Technik und diese Chancen zu nutzen, damit unsere Enkel ihr Leben meistern und geniessen können.

    Woher kommen wir?

    Leben: eine sprunghafte Karriere

    Leben ist unvermeidlich

    Lebendig scheint wie fest, flüssig und gasförmig eine Form der Materie zu sein: Unvermeidlich, wenn die Bedingungen stimmen.¹ Leben erschien auf der Erde, kaum hatte sie ihre Glut mit einer dünnen Kruste überzogen. Man findet es heute im Wüstensand wie unter dem Eis der Antarktis, in kochenden Quellen und im Gestein 500 Meter unter der Erde. Seit die Astronomen Dutzende von Planeten entdeckt haben, die um fremde Sonnen kreisen und dabei einen Abstand halten, der flüssiges Wasser erlaubt,² können wir annehmen, dass Leben im ganzen Universum vorkommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es nachgewiesen wird.

    Das Reich der Algen und Bakterien

    Die Einzeller beherrschten die Erde während 3000 Millionen Jahren. Zuerst waren es einfache Eiweissklümpchen; später trennte sich der Bauplan vom «Gebäude»: Die in der DNA sitzenden Gene – die DNA ist ein Riesenmolekül in Form einer Doppelspirale – bestimmen seither bei allen Lebewesen, wie die Zelle aufgebaut ist. Die DNA bildet die Chromosomen. Diese sitzen bei allen höheren Lebewesen, den Eukaryoten – also den Pflanzen und Tieren –, im Zellkern. In Zellen ohne Zellkern schwimmt die DNA im Zytoplasma, der Zellflüssigkeit. Sie heissen Prokaryoten. Davon gibt es zwei unterschiedliche Versionen: die Bakterien und die Archaeen. Beide gibt es seit mehr als drei Milliarden Jahren.

    Schliesslich lernten die Zellen, das Sonnenlicht als Energiequelle zu nutzen: Die Algen waren die ersten Pflanzen. Sie nutzen das Sonnenlicht, indem sie aus Wasser und Kohlendioxid die Substanzen herstellen, die ihre Körper aufbauen. Dabei produzieren sie Sauerstoff, eine neue Substanz in der Atmosphäre. Sauerstoff «vergiftete» die Uratmosphäre.³ Die bisherigen Lebewesen waren darauf nicht vorbereitet. Sie entwickelten Abwehrstrategien, zogen sich in sauerstofffreie Nischen zurück oder starben aus. Es war der erste Ökokollaps.

    Die erste Revolution

    Vor 540 Millionen Jahren erfand das Leben einen genialen Trick: Viele Zellen arbeiteten zusammen und spezialisierten sich. Sie bildeten vielzellige Lebewesen. Innerhalb von kaum zehn Millionen Jahren entstanden die Vorläufer der Schnecken, der Krebse und der Säugetiere.

    Doch was heisst: «Das Leben erfindet»?

    Es ist eine Metapher. Klar: Das Leben ist nicht eine Person, die Erfindungen macht. Wir sprechen von der Evolution. Die Evolution ist ein Prinzip, ein Vorgang. Er wurde erstmals 1859 von Charles Darwin (1809–1882) beschrieben. Evolution benötigt drei Voraussetzungen: Mutation, Fortpflanzung und Selektion.

    Unter Mutation verstehen die Biologen eine spontane Veränderung der Erbmasse. Das kann durch einen Fehler beim Kopieren der DNA, also bei der Zellteilung, passieren oder bei einer Veränderung der DNA durch chemische Einwirkungen. Wenn die DNA verändert wird, entsteht ein Lebewesen mit leicht veränderten Eigenschaften. In den meisten Fällen sind diese neuen Eigenschaften nachteilig, und das Lebewesen stirbt und kann sich nicht fortpflanzen. In einigen wenigen Fällen ist die Mutation vorteilhaft und gibt dem Träger der Mutation eine bessere Chance, sich fortzupflanzen. Das ist die Selektion. Brutal vereinfacht gesagt: Was überlebt, überlebt. Und pflanzt sich fort. Fortan gibt es eine neue Lebensform.

    So einfach das Prinzip ist, so machtvoll ist es, wenn man ihm genügend Zeit lässt. Gegen das Prinzip der Evolution wird etwa eingewendet, es beruhe ausschliesslich auf Zufall. Das sei, als ob eine Horde Affen auf Tastaturen herumtippe und man erwarte, dass dabei irgendwann einmal Schillers Lied von der Glocke entstehe. Das ist ein doppeltes Missverständnis. Erstens übersieht dieses Bild die Selektion: Bei jedem Anschlag müsste überprüft werden, ob der neue Buchstabe sinnvoll ist. So kann in der deutschen Sprache auf ein «D» nur ein Vokal oder ein «R» folgen. Auch Buchstabenkombinationen, die keine gültigen Wörter bilden, müssten abgelehnt werden. Auf diese Weise kann nach langer, aber absehbarer Zeit durchaus etwas Sinnvolles entstehen. Es muss nicht – und das ist das zweite Missverständnis – ein bestimmtes Gedicht sein. Es kann etwas sein, das noch niemand aufgeschrieben hat. Evolution ist nicht teleologisch, das heisst, sie hat kein Ziel vor Augen.

    Nichts in der Biologie macht Sinn – ausser im Licht der Evolution. Theodosius Dobzhansky⁴ hat es eingängig formuliert. Die geniale

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