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NOVA Science-Fiction 28
NOVA Science-Fiction 28
NOVA Science-Fiction 28
eBook302 Seiten5 Stunden

NOVA Science-Fiction 28

Von Dirk Alt, Victor Boden, Tino Falke und

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Über dieses E-Book

Mit Storys von
* Dirk Alt
* Victor Boden
* Tino Falke
* Marcus Hammerschmitt
* Wolfgang Mörth
* Paul Sanker
* Uwe Schimunek
* Volly Tanner
* Tom Turtschi
* Wolf Welling

Mit einer Gaststory von
* Liviu Surugiu (Rumänien)

Mit Essays von
* Dirk Alt
* Michael K. Iwoleit
* Julie Phillips
* Christian Steinbacher

Mit Nachrufen auf Gene Wolfe von
* Tony Daniel
* Michael K. Iwoleit

Mit Illustrationen von
* Dirk Alt
* Uli Bendick
* Christian Günther
* Detlef Klewer
* Victoria Sack
und einem Titelbild von
* Albert Hulm
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum25. Dez. 2019
ISBN9783957659057
NOVA Science-Fiction 28

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    Buchvorschau

    NOVA Science-Fiction 28 - Dirk Alt

    (Hrsg.)

    NOVA Science-Fiction 28

    Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)

    NOVA Science-Fiction

    Ausgabe 28

    NOVA ist ein Projekt des World Culture Hub:

    www.worldculturehub.org

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: Dezember 2019

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild: Albert Hulm

    Redaktion Storys: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de

    Redaktion Artikel/Essays: Thomas A. Sieber, thomas.a.sieber@gmail.com

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de

    Korrektorat: Dirk Alt, Michael Haitel

    Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    www.nova-sf.de

    www.facebook.com/novamagazin

    www.twitter.com/novamagazin

    ISSN: 1864 2829

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 180 8

    ISBN des E-Books: 978 3 95765 905 7

    Dirk Alt: Erwartungen. Editorial

    In Zeiten sich zuspitzender Konflikte ist es faszinierend zu verfolgen, welche Wünsche, Ängste und Erwartungen die Zeitgenossen in ihre Vorstellung von der Zukunft projizieren, und die Versuchung ist groß, diese Erwartungen mit der literarischen Produktion der Science-Fiction abzugleichen. Natürlich stellen sich bei der Erfassung kollektiver Befindlichkeiten methodische Probleme: So ist man zwangsläufig auf ein medial vermitteltes Bild angewiesen, das, da die Medien selbst Meinungsproduzenten sind, blinde Flecken und Verzerrungen aufweist, mit dem man jedoch – mangels eigener Feldstudien – vorliebnehmen muss.

    Wenig überraschend ist zunächst, dass sich nicht nur die Science-Fiction, sondern auch die gesellschaftlichen Erwartungen wesentlich auf die Weiterentwicklung technischer Möglichkeiten konzentrierten, die im Übrigen ja niemals nur Möglichkeiten, sondern stets auch Verpflichtungen sind. Nimmt man nun allerdings an, dass sich die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft, die ihren klimatisch-ökologisch bedingten Untergang fürchtet, in erster Linie den dämonischen Seiten der technischen Entwicklung zuwenden müsste, so erweist sich diese Annahme als ein Irrtum, auf den wir noch näher eingehen werden. Genauso wenig trifft sie, legt man beispielhaft die in dieser Ausgabe versammelten Erzählungen zugrunde, auf die Science-Fiction zu. Denn selbst da, wo sich – in Tom Turtschis Beitrag – künstliche Intelligenz und Waffensysteme gegen die Menschheit verschwören, erscheinen die Ersteren nur als Kontinuation des Zerstörungswillens der Letzteren, bis beide gar ununterscheidbar ineinander aufgehen. Auch in anderen Texten, sei es die Selbstvervielfältigungsposse von Tino Falke, der Mehrfach-Weltenbrand bei Victor Boden oder die Unterwerfung unter eine autoritär gelenkte Bürokratie bei Marcus Hammerschmitt, ist die Katastrophe nicht in der Fehlerhaftigkeit der Technik, sondern in der Fehlerhaftigkeit, wenn nicht Abgründigkeit des Menschen angelegt.

    Dieser Befund korrespondiert mit dem verbreiteten Gegenwartsphänomen, dass die negativen Zukunftsentwürfe, angefangen beim Klimawandel, sämtlich als menschengemacht apostrophiert werden – auch in dem Sinne, dass sich mit ihnen menschliche Gesichter verbinden wie das des US-amerikanischen Präsidenten, des russischen Autokraten, des nordkoreanischen Diktators oder der europäischen Populisten von Orbán bis Salvini. Wie stark ist dagegen das Ensemble geschrumpft, das die positiven Entwürfe bevölkert – und zurzeit von einer minderjährigen Schwedin angeführt wird. Diese positiven Entwürfe setzen ihre Hoffnungen in zweierlei: erstens in eine technische Evolution, die auf wundersame Weise den Preis unseres Wohlstandes herabsetzt, und zweitens in die globale Durchsetzung von Individualismus, Liberalismus und Menschenrechten, wobei die westlichen Verhältnisse zum unverhandelbaren Minimum erklärt werden.

    Bleiben wir zunächst bei der technischen Evolution. Die oben beschriebene Erwartungshaltung trägt insofern schizophrene Züge, als die Industrienationen den Grad ihrer Technisierung zu einem wesentlichen Teil jener rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen verdanken, die derzeit wie nie zuvor am medialen Pranger steht. Dass ökologische Ausbeutung und Technisierung jedoch meist nur dann miteinander in Verbindung gebracht werden, wenn dies politischen Interessen dient, lässt sich anschaulich an unserem bedenkenlosen, von allen Seiten forcierten Umgang mit dem Digitalen zeigen, den auch der Clemens-Brentano-Preisträger Philipp Schönthaler in Werken wie Der Weg aller Wellen problematisiert hat. Christian Steinbacher widmet dem Autor im Sekundär-Teil dieser Ausgabe einen Schwerpunkt.

    Allen punktuellen Einwänden und Befürchtungen zum Trotz: Eine entdigitalisierte Zukunft mag sich heute kaum jemand vorstellen – am wenigsten jene übersättigte junge Generation, die sich von Eltern und Lehrern zum »Protestieren« geleiten lässt. Diese Generation gebraucht das Digitale wie ein gleichermaßen magisches und selbstverständliches Werkzeug, ohne sich um dessen stoffliche Grundlagen zu scheren. Die Heilserwartungen, die aus dieser Geisteshaltung erwachsen, reichen von der Energieversorgung zum Nulltarif über transhumanistische Unsterblichkeit und virtuelle Himmelreiche bis hin zur Erlösung durch die künstliche Intelligenz, die vollbringen soll, wozu die menschliche nicht imstande war. In diesem Bereich von einer großen Schnittmenge mit der Science-Fiction zu sprechen, wäre eine Untertreibung. Hier herrscht Deckungsgleichheit, und das bedeutet: wenn diese technophil-konsumistisch ausgerichteten Neigungen ihre literarische Entsprechung finden, dann zweifellos in der Science-Fiction.

    Andere gesellschaftliche Themenfelder sind demgegenüber unterbelichtet. Die literarische Auseinandersetzung mit dem westlichen Universalismus und Werteimperialismus, mit widerstreitenden Gerechtigkeits-, Gleichheits- und Teilhabekonzepten scheint mir meist abstrakt, gleichnishaft oder in allzu fantastischer Überformung geführt zu werden. Groß ist jedoch die Anzahl der Akteure, die im Fandom eine politische Agenda im Zeichen von Antirassismus, Antisexismus etc. verfolgen. In den Kontext ihres Wirkens ist auch die jüngst erfolgte bzw. angekündigte Umbenennung zweier US-amerikanischer Literaturpreise, des John W. Campbell Award und des James Tiptree Jr. Award, einzuordnen, die wir im Sekundär-Teil dieser Ausgabe kommentieren.

    Ich schrieb eingangs von sich zuspitzenden Konflikten – dies ist nur einer davon. Dem Eskalationsprinzip folgend, werden sie in den kommenden Jahren noch eine ganz andere Dynamik gewinnen, von der ich erwarte, dass sie auch in der popkulturellen Nische der deutschen Science-Fiction und hier bei Nova fühlbare Wellen auslösen wird.

    Schnallen Sie sich besser schon mal an.

    Dirk Alt

    für die Nova-Redaktion

    Oktober 2019

    NOVAstorys

    Dirk Alt [unter Verwendung einer Schöpfung von Ray Harryhausen aus dem Film »First men in the moon« (UK 1964)]

    Dirk Alt: Meine insektoiden Nachbarn

    Sie mögen mich für undankbar halten, doch frage ich mich häufig, ob mich ein schlimmeres Schicksal hätte treffen können als jenes, das ich Ihnen nun schildern will. Vielleicht, so beantworte ich meine Frage, wenn meine Rakete über einem Vulkan- oder Eisplaneten oder einem namenlosen, vagabundierenden Gesteinsbrocken havariert wäre. Stattdessen habe ich einen geologisch reizvollen, wenn auch nicht übermäßig artenreichen Planeten mit erträglichem Klima und zur Sauerstoffgewinnung tauglicher Atmosphäre erwischt. In diesem Quadranten hätte es sicher keinen geeigneteren Ort für eine Notlandung gegeben. Und doch: Wenn ich nach einer weiteren durchwachten Nacht meinen trüben, feindseligen Blick durch die Panoramafenster der Rakete über die starre Wüstenlandschaft von Insula V schweifen lasse, überfällt mich eine Wehmut, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an die Fliederbüsche, die Rosenstöcke und Hortensien in der Heimat denke. Um ehrlich zu sein, zerreißt es mir schon das Herz, wenn ich an Brennnesseln denke oder an Kletten oder an Pilze, die am Waldboden faulen.

    Das weitgehende Fehlen von Vegetation gehört zu den weniger ansprechenden Eigenschaften des Planeten, auf den es mich verschlagen hat. Als Hinterlassenschaft der Jahrtausende währenden Erosionszyklen seiner Jugend dehnt sich über den Großteil seiner Oberfläche ein gleichförmiges Dünenmeer, aus dem sich hier und dort mehr oder weniger einfallsreiche Felsformationen erheben und, wesentlich seltener, geduckte, eigenartig gewachsene Bäume, die stets in Grüppchen zusammenstehen, als verschaffte ihnen die Gemeinschaft Schutz. Bemerkenswert – ein Touristenführer würde vielleicht sagen: von unvergesslicher Schönheit – ist die Färbung des Himmels, der sich morgens mit einem violetten Dämmerschein überzieht. Während die beiden unterschiedlich großen Monde emporsteigen, erstrahlt er in stechendem Purpur, um schließlich ein mit fortschreitender Tageszeit eindunkelndes Rot anzunehmen, das in den relativ kurzen Nachtstunden der von der Erde vertrauten Finsternis weicht. Ohne Frage, für den Neuankömmling stellt der Himmel von Insula V eine Attraktion dar. Wenn man sich an seinem Farbenspiel einmal sattgesehen hat – wie ja alles sättigt, was im Überfluss vorhanden ist –, findet man es bald ermüdend, um nicht zu sagen: penetrant. Da die einzige markante Wetterveränderung in den unaufgeregt fallenden Niederschlägen besteht, bleiben als Abwechslung, die man dankbar zur Kenntnis nimmt, lediglich die Lichtphänomene, deren bunte Reflexe gelegentlich über dem Dünenmeer eine flüchtige Gestalt annehmen. Das Licht scheint sich am Himmel als farbenfroher Dunst zu sammeln und allmählich zu einem Gewirr pulsierender Schlangen zu verdichten, die einander wie flüssige Amethyste, Rubine, Smaragde und Türkise in kaleidoskopartiger Weise umspielen, bis – nach Minuten oder auch Stunden – ihre Leuchtkraft versiegt. Dann zerfließen sie, zerstreuen sich funkelnd über das Firmament, glühen aus oder verblassen wie die Erinnerung an ein einstiges Königreich – ein Anblick, vergleichbar mit jenem, der im 18. Jahrhundert die Pioniere der Polarforschung in Ehrfurcht und Erstaunen versetzte.

    Auch die Bewohner von Insula V scheinen diesem Schauspiel zugetan zu sein, denn sie kommen häufig in Gruppen zusammen, um den sich in der Ferne entspinnenden Lichterzauber zu beobachten, und gehen, sobald er verebbt, wieder auseinander. Das ist nicht verwunderlich, denn sie befinden sich zweifellos auf einer recht niedrigen Entwicklungsstufe und zeigen auch keine Ansätze, in den kommenden Jahrmillionen darüber hinauszuwachsen. Ich will sie nicht schlechter machen, als sie sind. Auch wenn sie aufrecht gehen, bleiben sie Insektoiden, und an Insektoide sollte man grundsätzlich keine gesteigerten zivilisatorischen Ansprüche stellen. Ihre Spezies erreicht eine Größe von bis zu einem Meter fünfzig, hat einen schmalen, schwarz gepanzerten Körper, an dem die beiden oberen Gliedmaßenpaare meist untätig hinabbaumeln, und einen überdimensionierten Wulstschädel, der von einem Paar über der Stirn gefalteter Fühler gekrönt wird und eine beunruhigende Ähnlichkeit mit einem menschlichen Totenschädel aufweist. Unterhalb der Augen, die tief in den Höhlen verborgen sind, befinden sich gefährlich aussehende Mundwerkzeuge, die sich mechanisch öffnen und schließen, wenn die Insektoiden etwas erkunden oder unerwartet auf einen Artgenossen stoßen. Auf ihren etwas zu lang geratenen Hinterbeinen stolzieren sie mehr, als dass sie gehen. Wenn zwei von ihnen gegeneinanderprallen, kommt es oft vor, dass beide das Gleichgewicht verlieren, umkippen und dann sämtliche Gliedmaßen einsetzen müssen, um sich wieder auf die Hinterbeine zu hieven.

    Ihrem unheimlichen Aussehen zum Trotz ist ihnen ein friedfertiges Naturell zu eigen. Das habe ich bereits unmittelbar nach meiner Ankunft feststellen können, als ich die Schotten öffnete und einen ersten Erkundungsgang vorbereitete. Ein Dutzend von ihnen hatte sich unweit der Absturzstelle versammelt und schien darauf zu warten, dass sich der Zweck jenes ungewohnten Objektes enthüllte, das sich in die Oberfläche ihres Planeten gebohrt hatte. Als ich mit gezückter Strahlenpistole die ausgefahrene Rampe herunterkam, war ich unsicher, ob ich das plötzliche Aufrichten ihrer Fühler als Zeichen von Furcht oder von Angriffslust deuten sollte. Sobald ich meinen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, wichen sie jedoch geschlossen vor mir zurück. Erst nachdem ich stehen geblieben war und eine Weile beschwichtigend auf sie eingeredet hatte, wagten sie sich näher und schließlich ganz nah heran, um mich von allen Seiten mit ihren Fühlern abzutasten. Anscheinend sind sie dabei zu dem Schluss gekommen, dass meine Anwesenheit für sie weder eine Gefahr noch eine Bereicherung darstellt, denn sie gingen nach dieser ersten Begegnung dazu über, mich konsequent zu ignorieren. Nur wenn ich mich sehr weit von der Rakete entferne, kommt es noch gelegentlich vor, dass ich mich von den Fühlern eines Insektoiden abtasten lassen darf, der meine Bekanntschaft noch nicht gemacht hat, aber umgehend das Interesse verliert, sobald dieser Vorgang abgeschlossen ist. Während der gesamten Zeit, die ich hier zugebracht habe, ist es mir nicht gelungen, irgendeine nennenswerte Kommunikation aufzubauen: Sofern ich ihnen nicht im Weg stehe, bin ich praktisch Luft für sie. Das ist von meinem Standpunkt aus natürlich sehr zu bedauern, denn die Zeit auf Insula V verginge schneller, wenn sie mir irgendeine Art von Gesellschaft bieten würden.

    Zeit habe ich nämlich im Überfluss. Zunächst habe ich sie mit der Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Studien zugebracht, derentwillen ich in den Kosmos aufgebrochen war – ein ziemlich dummer Ehrgeiz, wie ich inzwischen finde, aber das ändert nichts daran, dass meine Neugierde und Abenteuerlust seit Jugendtagen der Raumfahrt gegolten hatten. Sollten Sie zufällig Kinder haben, deren Fantasie ebenfalls von den romantischen Stereotypen unerforschter Weiten und kühner Raumfahrer verseucht wurde, so rate ich Ihnen dringend, alles zu unterlassen, was diese Schwärmerei nähren könnte – dazu gehören auch Verbote. Versuchen Sie stattdessen unaufdringlich, Ihren Sprösslingen bewusst zu machen, dass nur der allergeringste Teil jener fremden Welten, deren Zahl dem Meersand entspricht, überhaupt die Erforschung lohnt. Was dazwischen liegt, sind finstere Tiefen, über die ihr Schöpfer selbst erschrecken müsste. So wie ich erschrak, als ich durch einen unbehebbaren technischen Defekt aus dem Kurs geworfen wurde und mir der Bordrechner eine Anzahl möglicher Zielplaneten vorschlug, auf denen ich in der kurzen, noch zur Verfügung stehenden Zeit eine manuelle Notlandung versuchen konnte. Meine Alternativen hatten darin bestanden, das vollständige Versagen der Antriebssysteme und den infolge meiner dann einsetzenden Irrfahrt unabwendbaren Tod durch Ersticken oder Langeweile abzuwarten – oder aber mich in Kryostasis versetzen und im stählernen Sarg einer Rettungskapsel dorthin schießen zu lassen, wo schon mancher Schiffbrüchige sein Heil gesucht hatte: in der eiskalten, ewigen Nacht, in der die Gestirne ihre Bahnen ziehen und die Chancen, einer solchen Bahn jemals wieder entzogen zu werden, bei einer Million zu eins stehen. Vielleicht auch etwas besser: Ich erinnere mich dunkel an einen brabbelnden Greis aus dem vorvergangenen Jahrhundert, den sie aus dem Weltraummüll gefischt und mittels Frischzellenkur ins, euphemistisch gesprochen, Leben zurückgeholt hatten. Nein, diese Option war mir unheimlich, obwohl mir im Rückblick scheint, ich hätte in der Kryostasis erholsamer geschlafen als hier. Damals war ich jedenfalls noch der Meinung, etwas Besseres als den Tod überall finden zu können. Also versuchte ich mich zunächst an der Notlandung und, nachdem ich diese gemeistert hatte, an den Herausforderungen des Robinson-Schicksals, dem ich mich auf Insula V ausgeliefert sah. In den ersten Wochen imponierte ich mir selbst mit heroischer Gelassenheit. Als Entdecker war ich aufgebrochen, und wenn mir der Weg zurück in den Weltraum versperrt war, so wollte ich mich wenigstens als Ergründer und Bezwinger meines Gastplaneten verewigen. Ich ging sofort an die Arbeit, machte Beobachtungen, Messungen und Aufzeichnungen aller Art und berichtete darüber so gewissenhaft und umfassend in die Heimat, wie es die dürre Datenübertragung erlaubte. Unter anderem fand ich heraus, dass es mindestens dreißig verschiedene Unterarten der insektoiden Spezies gibt, deren Unterschiede allerdings so geringfügig sind, dass ich sie hier nicht aufzählen muss. Das Interessanteste an ihnen ist wahrscheinlich ihr Lebenszyklus, der eine recht originelle Pointe hat. Zunächst beginnen sie, nachdem sie aus den Eiern geschlüpft sind, als eine Art großer, schwarzer Ameisen, die auf den Felsen herumwuseln. Wenn sie etwa die Länge eines menschlichen Unterarmes erreicht haben, bilden sich ihre Hinterbeine aus, sodass sie sich nach einer Weile darauf erheben und aufrecht fortbewegen können. Neben allerlei unscheinbaren Moosen und Flechten kennt die Flora des Planeten eine einzige größere Pflanze, die ich Schattenpalme getauft habe, weil sie die ungefähre Wuchsform einer niedrigen Palme mit einem sehr bauchigen Stamm aufweist, aber von oben bis unten schwarz und knorrig ist, als hätte sie jemand aus erkaltender Lava geformt. Solche Schattenpalmen trifft man in verstreut stehenden Gruppen von je drei oder vier Exemplaren an. Sie produzieren aus ihrem Stamm eine gallertartige, türkisblaue Masse, die von den Insektoiden verspeist wird. Bemerkenswert ist, dass die Schattenpalme nun ihrerseits jene Insektoiden verspeist, die ein gewisses Alter erreicht haben oder sich aus anderen, dem irdischen Betrachter verborgenen Gründen der Pflanze zum Fraß anbieten. Sie tun das, indem sie ihre wulstigen Schädel mit den tief hängenden, starren Ästen der Pflanze in Kontakt bringen, worauf sie in einem langwierigen, von mir ausgiebig dokumentierten Prozess ausgesogen werden, bis die getrocknete Körperhülle schließlich in sich zusammenfällt. Nur die geschrumpften Schädel hängen noch eine Weile von den Astenden herab, was der Schattenpalme im Allgemeinen ein ziemlich gruseliges Aussehen verleiht. Wir haben es hier also mit dem zwar nicht singulären, aber bizarren Fall einer Pflanze zu tun, die eine primitive tierische Lebensform nährt und mästet, um sie anschließend selbst, und zwar in beiderseitigem Einverständnis, zu verzehren. Ich habe endlose Stunden stereoskopischer Filme von diesen Vorgängen aufgenommen, bis mir zu Bewusstsein kam, dass ich den verdienten Forscherpreis vermutlich nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn persönlich entgegennehmen werde. Dieser Gedanke hat die Freude an meiner Arbeit nachhaltig getrübt.

    Dass eine Rettungsmission für mich zusammengestellt wird, ist aufgrund der hohen Kosten leider sehr unwahrscheinlich. Ich habe auf meine Anfragen bislang nur ausweichende Antworten erhalten. Überhaupt macht mich das ausgedehnte Schweigen der Kommunikationssysteme glauben, die Erde hätte mich längst vergessen, wenn ich mich ihr nicht durch meine Statusberichte beharrlich ins Gedächtnis rufen würde. Ich versuche, solche Gedanken nicht zuzulassen. Es gibt wahrscheinlich viele Dutzend Gestrandete wie mich, die in allen Winkeln des menschlicher Raumfahrttechnik zugänglichen Universums ihr einsames Dasein fristen, und unter ihnen wiederum nicht wenige, die dringender als ich der praktischen Ratschläge oder psychologischen Betreuung aus der Ferne bedürfen. In meinem Fall hat die Basis die Gewissheit, dass ich durchhalte, solange die Apparate ihre Energiezellen erneuern und die Replikatoren für mein leibliches Wohl Sorge tragen. Noch funktioniert alles einwandfrei – wenn man vom Antrieb absieht, der mir in der jetzigen Lage der Rakete ohnehin keinen Start ermöglichen würde. Ihr Bug ist tief im sandigen Untergrund versunken, der Rumpf wird von einer sich glücklicherweise an dieser Stelle erhebenden Felsenkette gestützt, und das Heck ragt als futuristisches Denkmal in den Himmel hinein, vor dem sich meine ausgefahrenen Triebwerke abzeichnen wie nutzlose Geschützrohre.

    Wenn ich dieses Bild astronautischen Bankrotts betrachte, erscheint es mir immer unverständlicher, weshalb die Menschheit überhaupt in den Kosmos drängt. Ausbeutbare Bodenschätze mögen ein Anreiz sein, gewiss, aber doch in erster Linie für die Daheimgebliebenen … und ganz besonders für diejenigen, die von marmorweißen Karibikstränden aus die Aufwärtskurven ihrer Wertpapiere beobachten, während eine Bikininixe ihnen die Nägel manikürt. Aber Sie und ich, die wir diesen exklusiven Kreisen nicht angehören? Was treibt uns an, trotzdem die Begegnung mit der Leere, mit der Unendlichkeit zu suchen? Ich glaube inzwischen, dass die Sehnsüchte, die wir daran knüpfen mögen oder geknüpft haben, auf falschen Vorstellungen beruhen, auf einer Mischung kulturell vererbter Heilserwartung, die in Jahrtausenden der Entbehrung wurzelt, und jener Bewährungslust, die junge Männer schon immer dazu trieb, als Matrosen und Legionäre anzuheuern. Uns davon freizumachen, dürfte unsere Kräfte wohl übersteigen. Nichtsdestoweniger bin ich der Überzeugung, wir sollten, statt Eroberer, Entdecker und Feldherren zu bewundern, einmal die Überlegung zulassen, ob die menschliche Zivilisation nicht in Wahrheit unserer Faulheit mehr zu verdanken hat als unserem Wagemut, der beständig nach einer Verschiebung der Grenzen und Möglichkeiten strebt … Lange, bevor wir die Schwelle zur Weltraumfahrt überschritten hatten, kolonisierten wir schon leblose Räume mit unseren Gedanken und vertrauten dabei blind auf den Sieg unserer Einbildungskraft. Kein Zweifel, dass sich darin der Größenwahn ausdrückte, der sich unübersehbar in unsere geschichtliche Signatur eingeschrieben hat. Gewinnen können wir nämlich, zumindest meiner Einsicht nach, einzig solche Erkenntnisse, die ebenso gut auf der Erde zu erlangen wären. Das glauben Sie nicht? Dann versuchen Sie mal, einer Ameise Ihre seelischen Nöte zu vermitteln … Oder werben Sie von mir aus um die Anteilnahme von Korallen, Krähen und Kaulquappen. Und kommen Sie mir bitte nicht mit Haus- oder Nutztieren, mit denen uns eine Jahrtausende überspannende gemeinsame Geschichte verbindet! Lassen wir die Säugetiere, in deren Verhalten und Lebensweise sich unsere Spezies spiegelt, einmal aus dem Spiel und konzentrieren uns auf den großen Rest, der bleibt. Ich frage Sie, wenn selbst die industriell malträtierte Fauna und Flora unseres Heimatplaneten mangels Befähigung, aber auch mangels Interesses keine Anstalten macht, eine Verständigung mit uns anzustreben, mit welchem Recht erwarten wir diese Bereitschaft dann von den Bewohnern fremder Gestirne? Ehrlicherweise sollten wir uns eingestehen, dass auch wir uns erst dann ernsthaft um Verständigung bemühen, wenn wir von unseren Artgenossen abgeschnitten sind. Dann zählen auf einmal alle Faktoren, die von außen auf uns einwirken. Ich musste erkennen, dass man sich gegen das Außen nicht wirksam abschotten kann, selbst wenn man sich zurückzieht und – wie ich nach einem arbeitsreichen Jahr auf Insula V – tagelang Musik hört, Filme schaut, virtuelle Museen besucht und sich mithilfe der Replikatoren betrinkt. Sie ahnen es schon: Allen Versuchen, mich in mein irdisches Dasein zurückzuversetzen, folgte ein böses Erwachen. Zunächst studierte ich philosophische, religiöse und weltanschauliche Schriften und suchte Zerstreuung in den Werken der Weltliteratur, bis sie mich zu langweilen begannen – denn es erwies sich bald als unbefriedigend, dass mich kaum ein Buch zur Identifikation mit seinen Figuren bewegen konnte. Dies galt auch für den Klassiker

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