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Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne
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Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne
eBook817 Seiten10 Stunden

Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne

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Über dieses E-Book

"Die Probleme der Gewalt sind immer noch sehr dunkel", schrieb Hannah Arendt. Warum sich auch die Soziologie mit den Phänomenen der Gewalt schwer tut, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich Jan Philipp Reemtsma beschäftigt.
Er analysiert, was Vertrauen und vor allem Vertrauen in die Moderne heißt - und in welcher Weise dieses Vertrauen an die besonderen Legitimationsanforderungen gebunden ist, denen der Gebrauch von Gewalt in der Moderne unterworfen ist. Wie kann extreme Destruktivität neben dem modernen Programm der Gewalteinschränkung oder trotz dieses Programms bestehen und warum besteht das Vertrauen in die Moderne ungeachtet der Gewaltexzesse des 20. Jahrunderts fort?
Jan Philipp Reemtsma untersucht die Phänomene der Gewalt in ihrem unterschiedlichen Körperbezug und in ihrem Verhältnis zur Ausübung von Macht, er fragt, aus welchem Grund bestimmte Gewaltformen in der Moderne tabuisiert worden sind, obwohl sie nach wie vor fortbestehen, und in welcher Weise dieses Fortbestehen besondere Wahrnehmungs- und Analyseschwierigkeiten produziert.
Dieser Blick auf die Moderne konkurriert nicht mit anderen, sondern ergänzt sie und bedient sich dabei einer besonderen Beschreibungstechnik. Weiträumige Überblicke über historische, politische, literarische oder philosophische Entwicklungen von der Antike bis in unsere Gegenwart wechseln mit einer Konzentration auf konkrete Ereignisse ab; soziologische Reflexionen und historisches Beispielmaterial werden durch philologische Analysen ergänzt und anhand einer Auseinandersetzung zum Beispiel mit William Shakespeare als einen Theoretiker von Macht und Gewalt oder anhand einer Betrachtung von Friedrich Schillers Konzeption des Desperado im "Wilhelm Tell" verdeutlicht.
Jan Philipp Reemtsma leistet einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der Beziehung, die zwischen Vertrauen, Gewalt und Macht herrscht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Dez. 2013
ISBN9783868545821
Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne

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    Buchvorschau

    Vertrauen und Gewalt - Jan Philipp Reemtsma

    f.

    Vertrauen und Moderne

    Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,

    ätherische Dämmerung milde zu begrüßen.

    Du Erde warst auch diese Nacht beständig

    Und atmest frisch erquickt zu meinen Füßen.

    Johann Wolfgang von Goethe, Faust II

    »Ich las in diesem Roman. Da ist so ein armer Kerl, der wird eines Morgens einfach verhaftet. Man kümmerte sich um ihn, und er wusste nichts davon. Man sprach von ihm in den Amtsstuben, man schrieb seinen Namen auf Zettel. Finden Sie das gerecht? Finden Sie, dass man das Recht hat, einem Menschen so etwas anzutun? […] Sagen Sie mir, Herr Doktor, würden Sie mich in Ihre Abteilung aufnehmen, falls ich eines Tages krank würde?«

    »Warum nicht?«

    Darauf erkundigte sich Cottard, ob es schon einmal vorgekommen sei, dass man einen Kranken im Spital verhaftet habe. Rieux gab zur Antwort, dass sich solches wohl schon ereignet habe, dass es aber ganz auf den Zustand des Kranken ankomme. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, sagte Cottard.

    Albert Camus, Die Pest

    Wenn man sich nicht darauf verlassen kann, daß der andere einen nicht umbringt, kann man sich erst recht nicht darauf verlassen, daß er sein Wort hält.

    Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit

    Krull im Abteil

    Es ist Herbst; Felix Krull besteigt den Zug nach Paris, um dort eine Stelle in einem Hotel anzutreten:

    »Meine Fahrkarte, versteht sich, war in bester Ordnung, und ich genoß es auf eigene Art, daß sie so einwandfrei in Ordnung – daß folglich ich selbst so einwandfrei in Ordnung war und daß die wackeren, in derbe Mäntel gekleideten Schaffner, die mich im Lauf des Tages in meinem hölzernen Winkel besuchten, den Ausweis nachprüften und ihn mit ihrer Zwickzange lochten, ihn mir stets mit stummer dienstlicher Befriedigung zurückreichten. Stumm allerdings und ohne Ausdruck, das heißt: mit dem Ausdruck beinahe erstorbener und bis zur Affektation gehender Gleichgültigkeit, der mir nun wieder Gedanken eingab, über die jede Neugier ausschaltende Fremdheit, mit welcher der Mitmensch, besonders der beamtete, dem Mitmenschen glaubt begegnen zu sollen. Der brave Mann da, der meine legitime Karte zwickte, gewann damit seinen Lebensunterhalt; irgendwo wartete seiner ein Heim, ein Ehering saß ihm am Finger, er hatte Weib und Kinder. Aber ich mußte mich stellen, als ob mir der Gedanke an seine menschlichen Bewandtnisse völlig fernliege, und jede Erkundigung danach, die verraten hätte, daß ich ihn nicht nur als dienstliche Marionette betrachtete, wäre höchst unangebracht gewesen. Umgekehrt hatte auch ich meinen besonderen Lebenshintergrund, nach dem er sich und mich hätte fragen mögen, was ihm aber teils nicht zukam, teils unter seiner Würde war. Die Richtigkeit meines Fahrscheins war alles, was ihn anging von meiner ebenfalls marionettenhaften Passagierperson, und was aus mir wurde, wenn dieser Schein abgelaufen und mir abgenommen war, darüber hatte er toten Auges hinwegzublicken.

    Etwas seltsam Unnatürliches und eigentlich Künstliches liegt ja in diesem Gebaren, obgleich man zugeben muß, daß es fortwährend und nach allen Seiten zu weit führen würde, davon abzuweichen, ja daß schon leichte Durchbrechungen meist Verlegenheit zeitigen. Tatsächlich gab mir gegen Abend einer der Beamten, eine Laterne am Gürtel, meine Karte mit einem längeren Blick auf mich und einem Lächeln zurück, das offenbar meiner Jugend galt.

    ›Nach Paris?‹ fragte er, obgleich mein Reiseziel ja klar und deutlich war.

    ›Ja, Herr Inspektor‹, antwortete ich und nickte ihm herzlich zu. ›Dahin geht es mit mir.‹

    ›Was wollen Sie denn da?‹ getraute er sich weiterzufragen.

    ›Ja, denken Sie‹, erwiderte ich, ›auf Grund von Empfehlungen soll ich mich dort im Hotel-Gewerbe betätigen.‹

    »Schau, schau!‹ sagte er. ›Na, viel Glück!‹

    ›Viel Glück auch Ihnen, Herr Oberkontrolleur‹, gab ich zurück.

    ›Und bitte, grüßen Sie Ihre Frau und die Kinder!‹

    ›Ja, danke – nanu!‹ lachte er bestürzt, in sonderbarer Wortverbindung, und beeilte sich weiterzukommen, strauchelte und stolperte aber etwas dabei, obgleich am Boden gar kein Anstoß vorhanden war; so sehr hatte die Menschlichkeit ihn aus dem Tritt gebracht.«¹

    Im Abteil dritter Klasse gilt der Komment der Moderne oder, um das Schibboleth radikaler Gesellschaftskritik zu verwenden, die Entfremdung. Die Soziologie spricht von funktionaler Differenzierung und von Rollen. Die einander auf diesem Boden begegnen, wissen, was sie voneinander zu erwarten haben. Sie haben auf der Basis dieser Erwartungen Vertrauen zueinander, wenn es auch im Wesentlichen nur darin zu bestehen scheint, anzunehmen, die Rollenerwartung werde nicht enttäuscht werden, und auf solche Weise haben sie Vertrauen in die Solidität des Gesamtunternehmens »Moderne« wie in ein schienengebundenes Transportunternehmen. Dass es dennoch aus den Gleisen zu geraten vermag, deutet das Stolpern des Schaffners an, als mit seiner vorsichtigen Rollentranszendierung Ernst gemacht wird, die signalisiert, dass zur Erfüllung der Rolle gehört, sich auf sie zu beschränken. Diese Versicherung einer Beschränkung impliziert die wechselseitige Erwartung und Versicherung, dass wir nicht aus der Rolle fallen, aber eben auch, deutlich zu machen, dass wir die Rolle nicht sind, dass wir um ihre Äußerlichkeit wissen. Diese Kombination, dass man in seinen Rollen nicht aufgeht, sie aber gleichwohl nicht durch kommunikativen Rekurs auf etwas, was man »hinter« diesen Rollen sei, stützt, macht die spezifisch moderne Form der sozialen Interaktion aus, und sie wird hier im Kleinkosmos des Bahnabteils vorgeführt.

    Später wird Felix Krull eine weitere Bahnreise unternehmen: von Paris nach Lissabon, diesmal jedoch als Marquis de Venosta, den Adligen dieses Namens, der lieber bei seiner Geliebten in Paris bleibt, auf einer Weltreise vertretend:

    »Der Zug hatte Paris um sechs Uhr verlassen. Die Dämmerung sank, das Licht ging an, und noch schmucker erschien darin meine PrivatBehausung. Der Schaffner, schon höher an Jahren, erbat sich die Erlaubnis zum Eintreten durch sachtes Klopfen, legte salutierend die Hand an die Mütze und wiederholte die Ehrenbezeugung, als er mir meine Fahrkarte zurückgab. Dem biederen Manne, dem eine loyale und bewahrende Gesinnung vom Gesichte zu lesen war und der auf seinem Gang durch den Zug mit allen Schichten der Gesellschaft, auch mit ihren fragwürdigen Elementen, in dienstliche Berührung kam, tat es sichtlich wohl, in mir ihre wohlgeraten-vornehme, das Gemüt durch bloße Anschauung reinigende Blüte zu grüßen. Wahrhaftig brauchte er sich keine Sorge um mein Fortkommen zu machen, wenn ich nicht mehr sein Passagier sein würde. Für mein Teil ersetzte ich die menschliche Erkundigung nach seinem Familienleben durch ein huldvolles Lächeln und Nicken von Hoch zu Nieder, das ihn gewiß in seiner erhaltenden Sinnesart bis zur Kampfbereitschaft bestärkte.«²

    Hier werden keine Rollengrenzen überschritten – weder die komplementären des Passagiers und des Schaffners noch – will man denn das Getue und seine Interpretation durch den Akteur ernst nehmen – die des Herrn und des Knechts. Man kann das Verhalten des Schaffners als Serviceleistungen für die erste Klasse auffassen. Er salutiert, macht Bücklinge, sagt »Herr Marquis« und bekommt Trinkgeld. Es gehört zum Service, dass der Zahlende vergisst, dass es bloß vergüteter Service ist. Gleichwohl bewahrt sich in der Gestik des First-Class-Service die Erinnerung an Zeiten, als in solchen Begegnungen nicht bloße Rollen, die prinzipiell von jedem übernommen werden können, weil sie jedem äußerlich sind, sondern Personen als Repräsentanten ihres Herkommens aufeinandertrafen. Was der falsche Marquis und der Schaffner voreinander exerzieren, ist ein Ritual, das wie dessen Abwesenheit in der dritten Klasse wechselseitiges Vertrauen ineinander und gemeinsames Vertrauen in die Stabilität des Sozialgefüges signalisiert und damit erneut stiftet. Der soziale Abstand wird ausgemessen und beiderseitig bejaht, aber gleichzeitig wird ein Schutzbündnis gegen die Nichtvertrauenswürdigen, die »fragwürdigen Elemente«, gestiftet. Man weiß, was man voneinander zu erwarten hat.

    In beiden Fällen wissen es die Beteiligten (und geraten aus dem Tritt, wenn sie sich möglicherweise täuschen).

    Vormodern wie modern kommt es auf die Stabilität wechselseitiger Erwartungen an, die eine gemeinsame Stabilitätsannahme stiften. Vormodern geht es um eine auf die jeweilige Standesrepräsentanz zugeschnittene, möglicherweise recht komplexe Erwartung, modern hingegen um eine Minimalisierung des unabdingbar Erwartbaren.

    Im einen Fall besteht das Vertrauen in der Erwartung, dass jemand etwas tut, im anderen Fall, dass er etwas unterlässt.

    Vertrauen

    Mit dem Hinweis darauf, dass die Soziologie jenem elementaren Tatbestand des sozialen Lebens, den wir Vertrauen nennen, lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, setzten eine geraume Zeit lang Arbeiten zu diesem Thema ein. Noch 1989 schrieb Niklas Luhmann von dem »leider spärlichen Schrifttum, das sich thematisch mit Vertrauen befaßt«;³ elf Jahre später schrieb Martin Hartmann von einer »Veröffentlichungswelle […], deren Ende vorerst nicht absehbar ist«.⁴ Heute pflegen Aufsätze und Abhandlungen über den Begriff des Vertrauens mit einer Bestandsaufnahme wie dieser, die beinahe beliebig umfangreicher ausfallen könnte, zu beginnen.⁵ Die meisten der Arbeiten über Vertrauen teilen die Ansicht, es handle sich dabei um einen, vielleicht den elementaren Tatbestand sozialen Zusammenhalts, dennoch besteht weitgehende Uneinigkeit bereits darüber, welche Phänomene unter den Begriff des Vertrauens zu subsumieren sind. So wendet sich Claus Offe entschieden gegen die Idee eines Institutionen entgegengebrachten Vertrauens,⁶ während für Anthony Giddens »das Wesen der modernen Institutionen zutiefst mit den Mechanismen des Vertrauens in abstrakte Systeme verknüpft ist«.⁷ Man mag sich darüber wundern, zumal gegen den Satz, der Mensch habe zwar »in vielen Situationen die Wahl, ob er in bestimmten Hinsichten Vertrauen schenken will oder nicht. Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen«, wenig zu sagen ist. »Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn. […] Alles wäre möglich. Solch eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus.«⁸

    Trotz aller Fundamentalität des Vertrauens bestehen die einen darauf, dass es sich um ein rein interpersonales Verhältnis handele, das sich ziemlich komplett mit dem Rüstzeug der Rational Choice Theory erfassen lasse⁹ – auf der anderen Seite wird unter Vertrauen etwas wie ein soziales Äquivalent zum Äther älterer Physik verstanden: ein schwer bestimmbarer Stoff als Trägersubstanz aller Erscheinungen. Doch macht gerade diese Spannweite des Phänomens, die terminologisch zu bewahren wäre, den theoretischen Charme und die intellektuelle Attraktivität dieses Begriffs aus. Reduktionsversuche, Vertrauen in abstrakte Gebilde wie Institutionen, gar in das soziale System als solches, zumindest »letztendlich«, auf personales Vertrauen zurückzuführen,¹⁰ können nicht überzeugen. Vertraut wird in soziale Faktizitäten nicht unter der Hypothese, man könnte, wenn man nur könnte, die Vertrauenswürdigkeit aller überprüfen, die damit zu tun haben. Auch die Vorstellung, soziales Vertrauen baue sich in Sphären einer Art kompakten Nah-Vertrauens in immer gleichsam verdünnterer Weise bis in die Regionen immer abstrakteren Fern-Vertrauens auf, ist nicht plausibel. Dass hier ein Kontinuum vorliege, hat schon David Hume bestritten, der darauf hinwies, dass personales Vertrauen zum Beispiel im Familienkreis von anderer Art sei als Vertrauen in das Funktionieren eines Staatswesens.¹¹ Dass das so ist, ist einer einfachen Überlegung zugänglich: Was hieße im jeweiligen Falle Misstrauen? Das Argument wird unten noch auszuführen sein. Andererseits »gibt es« Vertrauen in Institutionen oder allgemein »soziales« Vertrauen nicht ohne personalen Bezug. Ohne Auswirkungen auf Verhaltenserwartungen anzunehmen, wäre es unsinnig von sozialem Vertrauen zu sprechen. Um dieses Verhältnis soll es im Folgenden gehen.

    Aber nicht schlechthin, sondern unter der Frage nach den Bedingungen sozialer Kohäsion. Man könnte meinen, dass der Soziologe immer wieder von der Unwahrscheinlichkeit sozialen Zusammenhalts ausgehen muss, um herauszufinden, was den anomischen Zerfall verhindert, wohingegen der Bürger, und sei er von Beruf Soziologe, Stabilität unterstellen muss, um handeln zu können. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Unterstellung handgreiflich widerlegt wird, und auch die dann beginnende Zeitspanne wird er, sofern er sie überlebt, an ihrem Ende als Ausnahme zu werten haben, um weiterzumachen – auch wenn dies Weitermachen darin besteht, »das Unerwartete zu erwarten«,¹² denn wenn es so formuliert werden kann, ist es das schlechthin Unerwartete nicht. Thomas Hobbes ist der Erste gewesen, der in dieser Weise auf die Gesellschaft geblickt und das Thema des Vertrauens in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat. Tatsächlich ist dieser Blick ein spezifisch moderner, der erst dann getan werden muss, wenn besondere Arten vormodernen Vertrauens obsolet werden – vor allem, wenn an personale und lokale Begrenztheiten gebundenes Vertrauen sowie die durch verbindliche Traditionen gestützte Prognosesicherheit bezüglich des Verhaltens meiner Mitmenschen nicht mehr ausreicht, damit ich mich mit einem Gefühl angemessener Sicherheit in der Gesellschaft bewegen kann.¹³ Hobbes selbst hat natürlich seinen Entwurf einer Philosophie des starken Staates, ausgezeichnet durch die Monopolisierung der Gewaltmittel, nicht als eine Antwort auf die Anforderungen der Moderne, sondern als eine auf ein universales Problem verstanden: Wie gelingt es dem Menschen, vor seinesgleichen sicher zu sein? – Bekanntlich nennt Hobbes den »Naturzustand« des Menschen einen »Krieg aller gegen alle«, und er umschreibt damit einen Zustand der permanenten Unsicherheit, der »Furcht, gemordet zu werden, [der] stündliche[n] Gefahr«¹⁴ – kurz jenes Gegenteils von durch Vertrauen getragener Vergesellschaftung, den Giddens als Zustand der »existentiellen Angst oder Furcht« bezeichnet und den er – anders als das gerichtete Misstrauen, das anderweitig existierende Vertrauensbeziehungen voraussetzt – als den eigentlichen Gegensatz zum Vertrauen bestimmt.¹⁵

    Dieser Zustand der »stündlichen Gefahr« des »Alles wäre möglich« unterliegt bei Hobbes einer dreifachen Temporalisierung: Er ist das, was vorher war, er ist das, was künftig droht, und er ist das, was anderswo noch der Fall ist. »Aber, möchte jemand sagen, es hat niemals einen Krieg aller gegen alle gegeben! Wie, hat nicht Kain seinen Bruder aus Neid ermordet? Würde er das wohl gewagt haben, wenn schon damals eine allgemein anerkannte Macht, die eine solche Greueltat hätte rächen können, dagewesen wäre? Wird nicht selbst zu unseren Zeiten noch an vielen Orten ein solches Leben geführt? Die Amerikaner leben zum Teil so, bloß, daß sie sich in kleinen Familien gewissen väterlichen Gesetzen unterworfen haben, und die Eintracht dieser Familien dauert nur so lange, als sie von gleichen Absichten beseelt werden. Aus jedem Bürgerkriege erhellt, wie das menschliche Leben ohne einen allgemeinen Oberherrn beschaffen wäre.«¹⁶

    Hobbes benennt also in systematischer Absicht mit dem »Krieg aller gegen alle« das, was beim Versagen der Gewalt begrenzenden Institutionen droht. Dennoch hat der Ausdruck auch einen historischen Sinn. Dieser kann natürlich ernstlich nicht in der Annahme eines Zustands liegen, der durch eine vollständige Abwesenheit von Vertrauen gekennzeichnet wäre. Diese Annahme hat Hume mit dem Hinweis darauf kritisiert, dass niemals jeder jedem gleichermaßen misstraut.¹⁷ Nichtsdestoweniger markiert Hobbes’ Konfrontation des Naturzustands mit dem Gewaltmonopol des Staates eine Zäsur:

    Der Beginn der Moderne bedeutet eine Transformation des sozialen Bindemittels Vertrauen.

    Rekurrieren wir noch einmal auf den allgemeinen Begriff des Vertrauens. Da er, wie gesagt, in seinem Gehalt alles andere als unumstritten ist, muss man zu eigenen Festlegungen kommen. Es scheint hierbei nicht unsinnig zu sein, sich an dem alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes »Vertrauen« zu orientieren, denn immerhin bietet dieser Alltagsgebrauch die unmittelbare Thematisierung dessen, worum es geht.¹⁸ Wann ist eine Person »vertrauenswürdig«? Zunächst dann, wenn sie tut, was sie sagt. Sie hält ihre Versprechen, nicht nur die emphatischen, sondern auch die anderen. Aber das reicht nicht. Wir würden denjenigen, der uns Gewalt androht und, der Drohung gemäß, auch antut, nicht vertrauenswürdig nennen, weil er getan hat, was er gesagt hat. Berechenbarkeit allein macht einen Menschen nicht vertrauenswürdig.

    Es ist für Vertrauenswürdigkeit nicht allein von Belang, dass einer tut, was er sagt, sondern auch, dass er bestimmte Dinge nicht sagt und nicht tut.

    Nicht allein, dass wir wissen, was wir von ihm zu erwarten haben, sondern ebenso sehr, dass wir wissen, was wir von ihm nicht zu gewärtigen haben, zählt. Darum kann unter Umständen bereits die Versicherung, jemand werde etwas unterlassen, vertrauenszerstörend sein. »Es ist unwahrscheinlich, daß man sich sicher fühlt, wenn der andere sagt: ›Ich verspreche dir, dich nicht zu ermorden.‹«¹⁹

    Wir haben nicht allein zu konkreten Menschen Vertrauen – oder nicht. Wir haben zur ganzen Welt Vertrauen – oder nicht. Was heißt das? Wir können es uns durch ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlichen. Nehmen wir an, wir hörten morgens im Radio, die Regierung habe im Zuge einer experimentellen Phase im Prozess der Novellierung des Strafrechts für vier Wochen alle strafbewehrten Gesetze außer Kraft gesetzt.²⁰ Was würden wir tun? Wir würden uns jedenfalls ganz andere Gedanken machen als sonst. Wir würden über Gefahrenpotentiale nachdenken, über die wir – jedenfalls in praktischer Absicht – nie nachgedacht haben und hätten. Welche Folgen kann es unter so veränderten Umständen haben, dass mein Nachbar mich nicht mag? Mein anderer Nachbar schuldet mir eine Menge Geld. Wie gewalttätig sind die Glatzköpfe, die ich morgens immer am Bus treffe, tatsächlich? Mir fällt auf, dass ich keine Waffe besitze. Sollte ich das Küchenmesser mitnehmen? Und so weiter. Das sind Gedanken, die ich mir sonst nicht mache, die ich mir auch nicht machen muss. Sollte ich – den Normalzustand wieder vorausgesetzt – Opfer eines Verbrechens werden, so wird man mir vor Gericht nicht vorhalten, dass ich nicht bewaffnet gewesen bin. Ich weiß zwar, dass die Möglichkeit besteht, Opfer von Gewalt zu werden, aber ich muss damit nicht rechnen. Es wird mir sogar schwergemacht, mich auf solche Situationen einzustellen – und das hat wiederum normative Implikationen: In Europa ist man stolz darauf, andere Waffengesetze zu haben als die USA. Mein Leben in einer Gesellschaft europäischen Typs ist ganz wesentlich davon geprägt, dass ein so beschaffenes Vertrauen – bis hin zur Nötigung zum Vertrauen – besteht.

    Es gibt nicht nur Vertrauen in die soziale Welt, sondern auch in die Welt, sagen wir: als solche. Vertrauen darauf, dass, wie man so sagt, die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Auch hier geht es nicht nur um Berechenbarkeit. Auch wenn ein Bewohner von Kap Hoorn weiß, dass der Dauersturm dort eine verlässliche Größe ist, so reicht doch sein Vertrauen nicht bis aufs Meer hinaus. Es reicht nicht aus, zu wissen, was der Sturm mit mir anstellen kann – zu einer von Vertrauen getragenen Meerfahrt gehört, dass das Meer mich trägt und der Wind mich nicht versenkt. Anders gesagt: Wer in so oder ähnlich riskanten Weltgegenden lebt, muss sich Gedanken machen, die sich jemand, der anderswo lebt, nicht machen muss. In Deutschland muss man nicht morgens seine Stiefel umdrehen, in Gegenden, wo es Skorpione gibt, schon, und zwar weil wir verlässlich wissen, dass Skorpione stechen, wenn man auf sie tritt.

    Nehmen wir all das zusammen, stellen wir fest, dass wir in extrem vertrauensseligen Gesellschaften leben, das heißt in Gesellschaften, in denen Nah-Vertrauen vielleicht nicht überall die Regel ist, aber doch als Regel und gerechtfertigte normative Unterstellung gilt: Wir verlassen uns zumeist auf unsere Familienmitglieder und pflegen in ihrer Anwesenheit sorglos zu schlafen. Gilt das nicht, haben wir einen Problemfall, für den Psychologen, Sozialarbeiter oder Gerichte zuständig sind. Wir pflegen Freundschaften, werden zwar manchmal enttäuscht oder übers Ohr gehauen, aber das lässt uns an der Möglichkeit von Freundschaft nicht zweifeln. Wir mögen zuweilen mit Sorge die Kriminalitätsstatistiken lesen oder nach Mitternacht manche Bahnhöfe meiden, aber in unserer Gesellschaft herrscht kein Krieg aller gegen alle, wir bereiten uns auch nicht auf einen solchen Zustand vor – allenfalls schaffen wir eine Alarmanlage an. Dass diese ordentlich mit Strom versorgt wird, darauf vertrauen wir. Wir vertrauen auf die Funktionstüchtigkeit unserer technischen Einrichtungen und Institutionen – so sehr, dass uns die Verspätungen der Bahn regelrecht in Rage zu bringen vermögen. Und schließlich vertrauen wir auf die Regelmäßigkeit des Wetters und seine Gemäßigtheit so sehr, dass normale Unregelmäßigkeiten uns zu empören und zu beunruhigen vermögen. Aber solche Zustände der Wut, der Empörung und der Beunruhigung zeigen, dass jedes Vertrauen erschütterbar ist.

    Vertrauen bedarf der ständigen und stetigen Bekräftigung, sonst schwindet es.

    Die Durchsage der Schweizerischen Bundesbahn, man möge zwischen Bern und Basel auf Taschendiebe achten, danken wir der umsichtig warnenden Stimme nicht. Wir fühlen uns auf einmal von Schurken umgeben. Statt überhaupt nicht an Taschendiebe zu denken, denken wir (wenigstens eine Zeitlang) nur noch an Taschendiebe. Man kann nicht halbwegs vertrauen.

    Vertrauen erträgt weder Ambivalenz noch Unklarheit.

    Auf die Frage »Vertraust du ihm?« wäre die Antwort »Manchmal« ein Ausweis der Tatsache, dass der Antwortende nicht weiß, was Vertrauen ist. Das Nämliche gilt für den, der antwortet: »Ich weiß nicht.« Wer nicht weiß, ob er vertrauen kann, vertraut nicht.

    Jedes Vertrauen ist erschütterbar,²¹ und ob überhaupt von einem »Urvertrauen« gesprochen werden kann, ist fraglich.²² Aber gleichwohl kann man ohne irgendein Vertrauensverhältnis nicht existieren. Das wiederum aber heißt nicht, dass ein so weit reichendes Vertrauen wie das, was in Gesellschaften unseres Typs herrscht, die historische Regel ist. Unsere Vertrauensgewohnheit, die uns ein ungewöhnlich großes Maß an Enttäuschbarkeit mitliefert, ist so groß, dass wir Schwierigkeiten haben, uns das Leben in Gesellschaften vorzustellen, die mit weniger und ganz unterschiedlich sortiertem Vertrauen verschiedener Reichweite auskommen.

    Die Rede von Vertrauen »unterschiedlicher Reichweite« markiert aber nur eine erste Näherung, weil sich das Vertrauen in unsere Mitmenschen auf den ersten Blick immer sozusagen in Reichweite abspielt, wogegen sich ein anderer Typ von Vertrauen, nennen wir es Hintergrundvertrauen, mit entweder sehr unbekannten Ferngrößen wie dem Kosmos oder theoretisch schwierigen Angelegenheiten wie unserem Währungssystem, das nicht zu verstehen (oder sein Verständnis nicht zu aktualisieren) für die Normalpraxis des Geldausgebens und -empfangens eine Voraussetzung zu sein scheint, befasst. Andererseits prägt das Vertrauen in das Währungssystem unser tägliches Hantieren mit Vertrautestem – dem Geld –, wogegen unser Nah-Vertrauen oft dem Unvertrautesten gilt, dem Fremdling, der an der Tür klingelt und dem ich öffne. Die gewohnten Einteilungen unseres Handelns und Verhaltens nach Nähe/Ferne, bekannt/unbekannt und so weiter sind nicht geeignet, eine Phänomenologie des Vertrauens zu entwickeln.

    Das Vertrauen ist eine eigene Form der Welterfassung und bildet eigene Strukturen, die nicht ohne weiteres in andere zu übersetzen sind. Entscheidend ist zum Verständnis des Welt-Erfassens durch Vertrauen, dass Misstrauen nicht das Gegenteil von Vertrauen ist, sondern Vertrauen und Misstrauen zwei komplementäre Modi der Thematisierung unseres Befindens in der Welt sind, die demselben Ziel dienen: der Reduktion von Erwartungsunsicherheit. Eine einfache Überlegung macht das deutlich. Was wäre Vertrauen ohne komplementäres Misstrauen? Die vollständige Nichtthematisierung eines X, das sich nicht einmal formulieren ließe. Wie Wittgenstein die Behauptung, etwas könne nicht bezweifelt werden, erst dann für zulässig erklärt, wenn klargemacht werden kann, wie denn, im Zweifelsfalle, so ein Zweifel aussähe, so ist es auch erst dann sinnvoll, davon zu sprechen, man vertraue auf die Fortexistenz des Gravitationsgesetzes, wenn man eine Idee davon hat, wie ein Misstrauen in dessen Fortexistenz aussehen könnte.

    Von Vertrauen sollte erst dann gesprochen werden, wenn es eine soziale Praxis des Misstrauens gibt.

    Die gibt es nicht nur dann nicht, wenn sie, wie bei dem Gravitationsbeispiel, für uns nicht recht vorstellbar ist.

    Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auf eine Unterscheidung zu rekurrieren, auf die Niklas Luhmann großen Wert gelegt hat: die zwischen Zuversicht und Vertrauen²³: »Beide Begriffe beziehen sich auf Erwartungen, die in Enttäuschung umschlagen können. Der Normalfall ist jener der Zuversicht. Der Mensch ist zuversichtlich, dass seine Erwartungen nicht enttäuscht werden: dass Politiker versuchen, Krieg zu vermeiden, dass Autos keine Panne haben oder plötzlich die Straße verlassen, sodass man beim Spaziergang am Sonntagnachmittag überfahren wird. Man kann nicht leben, ohne Erwartungen in Bezug auf kontingente Ereignisse zu entwickeln, und man muss die Möglichkeit der Enttäuschung dabei mehr oder minder vernachlässigen. Man vernachlässigt diese, da sie eine sehr selten eintretende Möglichkeit ist, aber auch, weil man nicht weiß, was man sonst tun könnte.«²⁴ Hingegen bedeute Vertrauen zu schenken, in einer unsicheren Situation aktiv zu werden; Vertrauen kann – wie Zuversicht – enttäuscht werden, aber, anders als bei der Zuversicht, entscheide ich mich für das Vertrauen.

    Das Problem der so getroffenen Unterscheidung liegt im Nicht-wissen-was-man-sonst-tun-könnte. Man sieht auf den ersten Blick, dass dieses Problem im Falle des Vertrauens auf die Fortgeltung der Naturgesetze von anderem Schlage ist als in dem des unfallfreien Fahrens, wo ich mich wenigstens versichern kann, dass die Unfallneigung meines Wagens nicht über der Norm liegt, indem ich etwa das Profil meiner Reifen prüfe. Ich schlage vor, den Begriff Zuversicht wie folgt zu verwenden:

    »Zuversicht« sind jene Erwartungen, deren mögliches Enttäuschtwerden nicht – oder kaum je, und wenn doch, so nicht praxisrelevant – thematisiert wird.

    Das ist im Falle der Annahme über das Verhalten von Politikern (dass sie Kriege wirklich vermeiden wollen, dass sie unser Wohl im Auge haben etc.) ersichtlich nicht der Fall. Zwar können wir ein Vertrauensverhältnis zu den genannten Politikern nicht persönlich herstellen, und also können wir das Risiko der Vertrauenszuwendung nicht auf die eigene Kappe nehmen – ich »entscheide« mich nicht für das Vertrauen –, aber dennoch sind wir in ganz anderer Weise »zuversichtlich«, als wir es im Falle des (es sei noch einmal bemüht) Gravitationsgesetzes sind, das wir ebenfalls in seiner Geltung nicht beeinflussen können. Das Gravitationsgesetz halten wir aus einigermaßen diffusen Überzeugungen heraus für »wahr« und darum in seiner Geltung nicht für beeinflussbar, wohingegen wir im Falle der Politiker die Achseln zucken: »Was sollen wir denn machen?« Dieses Nicht-wissen-was-man-sonst-tun-soll ist aber anderer Art. Tatsächlich nämlich »machen« wir in dieser Hinsicht viel, und zwar andauernd. Wir sind, zuweilen als Akteure, meistens als Zuschauer, aber stets als legitimationsbildende Menge Teil jener Praktiken, die gewährleisten sollen, dass Politiker ehrlich für das Wohl der Gemeinschaft arbeiten.

    Wir werden hinsichtlich ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit befragt, wir lesen gerne Zeitungsartikel, die uns über ihre charakterlichen Eigentümlichkeiten Aufschluss geben sollen, wir hören von Untersuchungsausschüssen, sogar von Amtsenthebungsverfahren. Wir glauben »den« Politikern zwar nicht, sind aber dennoch guten Mutes, dass nicht platterdings alles im Argen liegt. Das liegt daran, dass wir Teilnehmer an Praktiken sind, die uns erlauben, möglicherweise kontrafaktischen (und in bösen Stunden lauthals für weltfremd erklärten) Annahmen zu folgen. »Erlauben« heißt dabei buchstäblich: erlauben. Niemand darf uns wegen dieser Annahmen oder weil wir ihnen gefolgt sind, am Zeug flicken, uns für naiv, gar für fahrlässig halten. Das darf man nur, wenn wir absichtlich oder fahrlässig unsere Teilnahmechancen an besagten Praktiken nicht wahrnehmen. Der Staatsanwalt, der deutliche Zeichen für Unterschleif nicht wahrnimmt, kann sich um sein Amt bringen, wir werden für Dummköpfe gehalten, wenn wir den Politiker X auch noch nach seiner Rede vom Soundsovielten für seriös halten. Dass wir die nicht gehört haben, ist keine Ausrede. Wir erkaufen unser Recht auf diese Spielart des Vertrauens mit der Pflicht zur Teilnahme unter anderem an solchen Informationsverteilungen.

    Praxisgestütztes Vertrauen

    Der Unterschied zwischen der Zuversicht, dass morgen die Steine nicht in den Himmel fliegen, und dem Vertrauen darauf, dass Politiker in Maßen ehrlich sind, liegt aber nicht daran, dass es sich im einen Fall um ein Naturereignis handelt, im anderen um einen komplexen sozialen Zusammenhang. Er liegt darin, dass wir in letzterem Fall solche vertrauensermöglichenden Praktiken kennen, im ersteren nicht. So etwas kann sich ändern und manchmal schnell. Wir sorgen uns nicht darum, dass uns der Himmel möglicherweise auf den Kopf fällt. Weil wir das nicht tun, ist es ein netter Running Gag, dass Goscinnys und Uderzos Comic-Gallier, die sonst vor gar nichts Angst haben, sich davor fürchten. Wir haben aber Teleskopzeugen des Absturzes des Kometen Shoemaker-Levy in die Atmosphäre des Jupiter werden können, und es tauchte hier und dort die Frage auf, ob uns nicht Ähnliches werde blühen können. Solche Befürchtungen sind nicht ganz neu. Seit man Kometen und Meteore nicht mehr für zukunftsweisende Zeichen hält,²⁵ sondern für Naturereignisse, flackern solche Befürchtungen immer mal wieder auf, zumal wir inzwischen – zunächst aus direkter Anschauung ihrer Spuren aus vergangenen Zeiten auf Erde und Mond, dann durch Simulationen in Filmen zum Thema »Warum sind die Saurier ausgestorben?« – recht genau wissen, was für eine Katastrophe der Erde in einem solchen Fall ins Haus stünde. Die Zuversicht hinsichtlich der Stabilität des Himmelsgewölbes ist immer mal wieder brüchig geworden. Aber die Protagonisten solch aktiven Misstrauens haben es (jedenfalls in unseren Zeiten) nie weiter gebracht als bis zu minimalen Ansätzen einer Massenhysterie. Normalerweise blieb es das Thema einer einigermaßen begrenzbaren Gruppe von Sonderlingen, etwa solchen, die sich aus nicht nur akademischem Interesse mit den Prognosen von Edmond Halley beschäftigten. Der hatte die Wiederkehr des dann nach ihm benannten Kometen von 1682 für das Jahr 1795 erfolgreich vorhergesagt, und weitere Berechnungen ergaben ein Wiedererscheinen im Jahre 1834. Ab 1830 ist ein Boom an Kometenliteratur zu beobachten,²⁶ darunter Bücher und Traktate, die das Ende der Welt und die zwischenzeitliche Herrschaft des Antichrist vorhersagen, und solche, die aus naturwissenschaftlichen Gründen eine Kollision des Kometen mit der Erde für harmlos erklären; eine folgenreiche Misstrauenspraxis vermochten sie nicht zu etablieren.

    Nicht, dass eine solche nicht möglich gewesen wäre. So wie Massenumzüge und Selbstgeißelungen als probates Mittel gegen die Pest und Massenumzüge und -gebete als erfolgversprechend gegen einen atomaren Massentod angesehen wurden, so hätten natürlich auch entsprechende Massenbewegungen den Alltag der Jahre vor dem Datum befürchteter kosmischer Kollisionen und – einmal erfolgreich, weil die dann nicht stattgefunden haben – darüber hinaus das Gesicht Europas prägen können. Warum das nicht der Fall gewesen ist, liegt nicht, siehe genannte Beispiele, an unserer besonders rationalen Konstitution. Es liegt vermutlich eher daran, dass die Gestirne im Zusammenhang mit der unsere Kulturentwicklung prägenden Interaktion zwischen griechischem Natur-Rationalismus und hebräischer Frömmigkeit in unseren Glaubenskontexten nur eine geringere Rolle spielen und sich mit einem geduldeten, aber um den Preis öffentlicher Schweigsamkeit, also der Unfähigkeit, eine kollektiv verbindliche Praxis zu etablieren, erkauften Freizeitfaszinosum, das wir Astrologie nennen, begnügen müssen.²⁷

    Als nun, wie gesagt, die Teleskope uns das Verglühen von Shoemaker-Levy präsentierten,²⁸ geriet nicht im Kontext irgendwelcher Buß- und Bittrituale, sondern im Kontext der Weltraumtechnologie die Möglichkeit, auf eine Kometenbedrohung zu reagieren, in die Peripherie öffentlicher Aufmerksamkeit. Es wurde daraufhin ein NASA-Programm zur Analyse der Möglichkeiten, Kometen- und Meteoritendrohungen zu begegnen, aufgelegt. Der Etat für dieses Programm wurde bald sehr stark gekürzt, und das Projekt schien vergessen zu werden. Dann aber veranstaltete man ein erfolgreiches Zielschießen auf einen Kometen, und nun kann sich unsere Beunruhigung, wenn wir sie denn weiter pflegen wollen, auf die technischen Seiten dieser Technologie richten. Die Frage »Kann uns der Himmel auf den Kopf fallen?« könnte nun in Fragen transformiert werden wie: »Wie groß muss eine Kernwaffenexplosion sein, die einen Kometen zerstört, und wie weit von der Erde entfernt muss sie stattfinden, um die Erde nicht in Mitleidenschaft zu ziehen? Und können wir uns wirklich auf die Zielgenauigkeit verlassen, oder brauchen wir, um die Erde zu retten, Suizidhelden?« Und so weiter. Die Drohung aus dem All können wir nun ernst nehmen und müssen dennoch mehr oder weniger weiterleben, als gäbe es sie nicht. Wir verfügen nun über eine Strategie von begrenzter Beunruhigung als Voraussetzung der Erlaubnis weiterhin beruhigten Lebens, über eine spezifische Dialektik von Thematisierung und Dethematisierung.²⁹

    Das Beispiel ist darum alles andere als skurril, weil wir wenigstens eine Kultur kennen, deren öffentliches Leben wesentlich von der Idee der Instabilität des Kosmos bestimmt gewesen ist. Diese Idee hat sich, jedenfalls im eigenen Umfeld, als durchaus nicht entwicklungshemmend, sondern -befördernd erwiesen, was für uns deshalb so schwierig zu verstehen ist, weil wir meinen, dass die zuversichtliche Annahme, der Kosmos sei stabil, sozusagen die Basis für alles andere sei. Darum können wir folgenden Witz machen: »In zehn Milliarden Jahren wird sich die Sonne ausdehnen und die Erde wird verglühen. – Um Gottes willen, in wie viel Jahren? – Zehn Milliarden. – Ach so, ich hatte gedacht, in zehn Millionen.« Versuchen Sie, diesen Witz einem Azteken zu erzählen. Die Azteken erwarteten alle 52 Jahre das Ende der Welt an dem Tag, an dem die Endtage zweier Kalenderzyklen zusammenfielen. Dieser Tag barg die Möglichkeit, dass die Sonnengöttin des fünften (und letzten) Zeitalters vom Gott der Finsternis verschlungen, die Erde durch Erdbeben verwüstet und alles Leben durch Hunger umkommen würde. Am entsprechenden Risikotag löschte man in der Hauptstadt des Aztekenreiches Tenochtitlán alle Lichter und Feuer, man zerstörte in den Privatwohnungen alle Statuen von Göttern sowie einen Teil des Mobiliars, um zu verhindern, dass sie sich während der Dunkelheit wegen vorgängigen Missbrauchs würden rächen können, und schließlich wurde mitten in der Nacht auf der Spitze des Tempels in der offenen Brust eines geopferten Kriegsgefangenen mit Feuerbohrer und Zunder neues Feuer entzündet – zum großen Jubel der Bevölkerung, die nun wieder das Licht anmachen durfte. Diese Zeremonie bewies, dass die Sonne stark genug gewesen war, den Attacken der Finsternis standzuhalten, und zwar aufgrund einer zureichenden Versorgung mit Menschenblut und aus den Körpern lebender Kriegsgefangener herausgeschnittener Herzen. Das bedeutete für die aztekische Gesellschaft weitere 52 Jahre permanenten Krieges, um den Nachschub an Kriegsgefangenen sicherzustellen,³⁰ den angenehmen Nebeneffekt der Anreicherung des Speisezettels durch Menschenfleisch nicht gerechnet.³¹

    Für die aztekische Gesellschaft war also eine Zuversicht in die Stabilität des Kosmos nicht gegeben. Sie musste dauernd etwas tun, damit ihr nicht der Himmel auf den Kopf fiel, und da sich diese Praktiken als immer wieder erfolgreich erwiesen, konnte sie Vertrauen in diese Praktiken entwickeln. Die Bedrohung durch eine Katastrophe wurde zwar beständig thematisiert, aber die Thematisierung der kosmischen Bedrohung konnte verschoben werden auf die Thematisierung der Erfolgskriterien der Abwendungspraktiken: Wie viele Opfer wird man brauchen? Welche Kriege müssen geführt werden? – und es dürften sich die klassischen politischen Probleme zwischen einem diese Praktiken überwachenden Klerus und einer für andere Fragen zuständigen politischen Elite ergeben haben, etwa bei der Frage, wann ein Kriegszug zugunsten eines Friedensarrangements (und seiner spezifischen Kautelen) abgebrochen werden konnte.

    Zwischen Zuversicht als nur potentiell durch Misstrauen thematisierbarem Vertrauen auf der einen Seite und personellem, an individuelle Entscheidungen (zu vertrauen oder nicht) gebundenem Vertrauen auf der anderen existiert ein praxisgestütztes, soziales Vertrauen, das zu den wesentlichen Parametern der Kultur gehört, über die man gerade spricht.

    Was geschieht, wenn eine vertrauenssichernde oder wenigstens stabilisierende Praxis in die Krise gerät, muss nicht aus exotischen Beispielen wie dem aztekischen herausgelesen werden. Das Lissabonner Erdbeben von 1755 und seine theodizeeschädigende Wirkung wird bis heute als einer der großen Krisenmomente europäischen Weltvertrauens gewertet,³² doch vor allem war es eine Krise der Praktiken, mit denen sich die Einwohner Europas der Stabilität ihrer Lebensweise versichern wollten. Große Katastrophen sind immer unerhört, aber sie sind nichts genuin Neues und per se nichts Welterschütterndes, wie die Tsunami-Katastrophe zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigte, die die wohlhabenden Bürger Europas und Amerikas nichts weiter als spendabel machte. 1755 war tatsächlich ein Ereignis, das eine Epochenwende markierte. Es gelang weiträumig nicht mehr, den Schock des Ereignisses durch religiöse Deutung abzufedern, im Gegenteil: Die Deutungshoheit der christlichen Religion hatte bereits einen derartigen Kernschaden aufzuweisen, dass das bloße Faktum des Bebens als Einwand gegen sie gewertet werden konnte. Tatsächlich waren die vertrauenserhaltenden Praxen nicht mehr akzeptiert. Der im Zuge der Katastrophe zum ersten aufgeklärten Diktator Europas avancierende Premierminister Portugals, der Marquis von Pombal, reagierte modern auf die Frage seines Königs, was zu tun sei. Er ließ keine Messe lesen, sondern soll geantwortet haben, man möge die Toten begraben und die Lebendigen füttern. Dann verbot er, das Erdbeben für religiöse Zwecke zu gebrauchen, das heißt, es zum Thema irgendwelcher Bußpredigten zu machen. Kleist hat dieser Verordnung des Marquis von Pombal im »Erdbeben von Chili« indirekt ein Denkmal gesetzt, indem in dieser Erzählung vorgeführt wird, was geschehen kann, wenn man es anders macht.

    Der Schock des Bebens hatte sich bis in entfernte Kinderstuben fortgepflanzt:

    »Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde […] die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen miteinander zu Grunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. […] Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; […] um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im Allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. […] Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preis gab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.«³³

    Ja, da liegt’s, denn sonst wäre der Zweifel am väterlichen Wesen der Gottheit auch dem Gemüt des Knaben als recht ketzerhaft erschienen. Die Gerechten mit den Ungerechten? Da vermisst sich also der Knabe desselben Überblicks über die Weltverhältnisse wie Gott selbst? Und das nur wenige Jahre nach Abfassung der Leibnizschen »Theodizee«, deren zentrales Argument eben ist, dass wir mangels göttlicher Überblickskapazität nicht urteilen können?³⁴ Sic transit gloria fidei; die Atheisten und Konterrevolutionäre aller Zeiten haben immer ähnlich argumentiert: »Man darf die Unschuldigen nicht mit den Schuldigen treffen.« (Und die Antwort der Revolutionäre und Theologen ist immer dieselbe: »Wer sagt dir denn, daß ein Unschuldiger getroffen worden sei?«³⁵)

    Aber die Stelle aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« zeigt uns nicht nur den verwirrten Knaben, sondern den die Maßstäbe nach Maßgabe der nunmehr zweifelsfrei angebrochenen zweiten Hälfte des Säkulums adjustierenden. Gott-Vater hat abdanken müssen, an seine Stelle tritt der leibliche Vater, ausgestattet mit den Tugenden des Marquis von Pombal:

    »Der folgende Sommer gab eine nähere Gelegenheit, den zornigen Gott […] unmittelbar kennen zu lernen. Unversehens brach ein Hagelwetter herein und schlug die neuen Spiegelscheiben der gegen Abend gelegenen Hinterseite des Hauses unter Donner und Blitzen auf das gewaltsamste zusammen, beschädigte die neuen Möbel, verderbte einige schätzbare Bücher und sonst werte Dinge, und war für die Kinder um so fürchterlicher, als das ganz außer sich gesetzte Hausgesinde sie in einen dunklen Gang mit fortriß, und dort auf den Knieen liegend durch schreckliches Geheul und Geschrei die erzürnte Gottheit zu versöhnen glaubte; indessen der Vater ganz allein gefaßt, die Fensterflügel aufriß und aushob; wodurch er zwar manche Scheiben rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regenguß einen desto offnern Weg bereitete, so daß man sich, nach endlicher Erholung, auf den Vorsälen und Treppen von flutendem und rinnendem Wasser umgeben sah.«³⁶

    Es ließ sich aufwischen. Die Gebete der Dienstboten blieben eine unangenehme Erinnerung. Vor allem blieb die Erinnerung eine an das Geheul der hilflosen Kreatur, nicht eine der sich höherem Schutz befehlenden. Mit dem Erdbeben von Lissabon und dem Hagelschlag in Frankfurt wird offenbar, dass die transzendentale Obdachlosigkeit (Georg Lukács) längst Einzug gehalten hat, aber mit ihr auch die Diesseitigkeit des Selbst-ist-der-Mensch. Man gerät seitdem immer wieder mal metaphysisch ins Trudeln, aber nicht tatsächlich. Die Praxen der Vertrauenssicherung haben gewechselt, man benimmt sich ganz anders, wird zwar nass wie eh und je, fällt aber nicht mehr aus der Welt.

    Vertrauen als Ernstfall – Die Gretchenfrage

    Durch die Praxen sozialen Vertrauens gewinnen wir Kriterien für Normalität, Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit:

    Zuversicht und praxisgestütztes, soziales Vertrauen bilden den Rahmen, in dem individuelles Vertrauen erst funktionieren kann, weil jenes die Maßstäbe abgibt, nach denen dieses gewertet und gewichtet werden kann.

    Die individuellen Vertrauensverhältnisse, die ein Mensch eingeht, geben Auskunft über seinen Charakter, die Teilnahme an den Praktiken des sozialen Vertrauens über Art und Festigkeit seiner sozialen Verortung,³⁷ das Maß an Zuversicht, das er mit anderen teilt, darüber, ob er verrückt ist oder nicht.

    Verrückt nennen wir ihn, wenn wir, weil er zu bestimmten Dingen kein Zutrauen hat und dies praktisch zeigt, mit ihm weder ernsthaft reden können noch irgend verlässlich interagieren. Er ist für uns dann, »als wäre er aus einer anderen Welt«. Der individuell so oder so Veroder Misstrauende ist dies durchaus auch (wenn auch nur tendenziell), weil er nach deutlich anderen Maßstäben handelt als wir. Ist die Abweichung von der Normalität moderater, nennen wir ihn leichtsinnig oder übertrieben misstrauisch. Er scheint die Welt nicht so zu kennen, wie wir das zu tun voraussetzen, und wir schreiben diese Abweichung einem kognitiven Defizit zu: Der Vertrauensselige ist »für jede Belehrung taub«, er ist politisch »auf einem Auge blind« oder »sieht alles durch die rosa Brille« oder »macht beide Augen zu«; der zu Misstrauische »legt alles auf die Goldwaage« und jeden Fehler »sieht er unter dem Vergrößerungsglas an«. Demjenigen, der an den Praktiken der sozialen Vertrauenssicherung nicht – oder falsch – teilnimmt, bescheinigen wir, wofern wir ihn nicht für gefährlich leichtsinnig, gar schlechthin gefährlich halten, mangelnden Ernst und halten ihn für einen Bruder Leichtfuß.

    Die Praktiken sozialer Vertrauensbildung bestehen ja nicht für sich. Es sind Praktiken, deren Semantik mannigfaltig sein kann und die im Zuge der Beschreibung anderer Kontexte auch in anderer Hinsicht verstanden werden können. Wenn wir von Vertrauenssicherung sprechen, bezeichnen wir einen bestimmten, allerdings wesentlichen, Aspekt dieser Praktiken: Objektiv beschreibt er ihre Bedeutung weit über das hinaus, was jeweils getan wird, subjektiv das Moment der Ernsthaftigkeit der Teilnahme. Anders gesagt:

    Das Moment der Vertrauenssicherung in sozialen Praktiken ist gleichbedeutend mit einem Ironieverbot.

    Es geht hier nicht um Innerliches, sondern darum, ob die reservatio mentalis irgendwo handlungsfärbend durchschlägt. Wer weiß, was ein Bundestagsabgeordneter denkt? Aber vor der Abstimmung sichtbar sein Votum von der Zahl der Knöpfe an seinem Hemd abhängig zu machen, geht nicht. Er beleidigt das Parlament, er stellt das politische System aufs Spiel. Oft reicht das bloße Ob der Teilnahme (an einer kollektiv abgeleisteten Vereidigung etwa). Da mag einer denken, was er will, aber er darf keine Narrenmütze dabei tragen. Aber es kann auch anders gehen: Joseph Fischers symbolische Leistung ist es gewesen, die scheinbare Missachtung einer Eidesformel durch traditionell unangemessene Kleidung in eine Bekräftigung umzuformulieren. Gerade weil er sie nicht trug comme il faut, demonstrierte er, dass es ihm bis in die Sohlen ernst war, und das war wiederum mehr als die bloße Bekräftigung seiner Selbstverpflichtung als Minister einer Landesregierung; die Beteiligung einer ehemaligen Partei des institutionalisierten Misstrauens an einer Regierung wurde auf diese Weise beglaubigt, und die betreffenden Schuhe sind heute – zu Recht – Museumsexponate ohne ironische Konnotation. Zwar lässt sich mit Luhmann von vielem tatsächlich sagen, dass wir es nur darum tun, weil »wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen«, aber wenn wir es in dem demonstrierten Bewusstsein tun, dass wir es wirklich nur darum tun, tun wir es eigentlich nicht. Denn wir demonstrieren auf diese Weise, dass es unerheblich ist, ob wir es tun oder ob es (durch uns) unterbleibt. Dann kann es auch unterbleiben. Und wenn dieser demonstrative Unernst appellativ verstanden wird, wird er zum aggressiven Akt, zum Angriff auf die Stabilität unserer sozialen Welt. Ein solcher Angriff wird mit Wut oder Angst beantwortet. Man entzieht sich ihm oder weist ihn zurück und den Provokateur in die Schranken. Wenn einer während der Nationalhymne Kaugummiblasen bläst, singt sein Nachbar umso lauter. Er muss den Unernst durch Pathos kompensieren. Das zeigt, wozu das massenhafte und routinierte Teilnehmen an vertrauenssichernden Praktiken da ist: damit wir uns nicht dauernd anstrengen müssen. Die Masse machts. Wären es nur wenige, es würde sichtbar, dass es sehr anstrengend ist, an die Stabilität zu glauben, um nicht durcheinanderzulaufen wie Ameisen in einem aufgegrabenen Nest.

    Die Demonstration des Ernstes (oder manchmal wenigstens die eindeutige Abwesenheit von Unernst) macht soziale Praktiken zu Ritualen des Vertrauens.

    Das geht natürlich auch einzeln:

    »Margarete: Versprich mir, Heinrich!

    Faust: Was ich kann!

    Margarete: Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?

    Du bist ein herzlich guter Mann,

    Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.

    Faust: Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;

    Für meine Lieben ließ ich Leib und Blut,

    Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

    Margarete: Das ist nicht recht, man muß d’ran glauben!

    Faust: Muß man?

    Margarete: Ach, wenn ich etwas auf dich könnte!

    Du ehrst auch nicht die heil’gen Sakramente.

    Faust: Ich ehre sie.

    Margarete: Doch ohne Verlangen.

    Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen.

    Glaubst du an Gott?

    Faust: Mein Liebchen, wer darf sagen,

    Ich glaub’ an Gott?

    Magst Priester oder Weise fragen,

    Und ihre Antwort scheint nur Spott

    Über den Frager zu sein.

    Margarete: So glaubst du nicht?

    Faust: Mißhör’ mich nicht, du holdes Angesicht!

    Wer darf ihn nennen?

    Und wer bekennen:

    Ich glaub’ ihn.

    Wer empfinden

    Und sich unterwinden

    Zu sagen: ich glaub’ ihn nicht?

    Der Allumfasser,

    Der Allerhalter,

    Faßt und erhält er nicht

    Dich, mich, sich selbst?

    Wölbt sich der Himmel nicht dadroben?

    Liegt die Erde nicht hierunten fest?

    Und steigen freundlich blinkend

    Ewige Sterne nicht herauf?

    Schau’ ich nicht Aug’ in Auge dir,

    Und drängt nicht alles

    Nach Haupt und Herzen dir,

    Und webt in ewigem Geheimnis

    Unsichtbar sichtbar neben dir?

    Erfüll’ davon dein Herz, so groß es ist,

    Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,

    Nenn’ es dann wie du willst,

    Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!

    Ich habe keinen Namen

    Dafür! Gefühl ist alles;

    Name ist Schall und Rauch,

    Umnebelnd Himmelsglut.

    Margarete: Das ist alles recht schön und gut;

    Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,

    Nur mit ein bißchen andern Worten.

    Faust: Es sagen’s aller Orten

    Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,

    Jedes in seiner Sprache;

    Warum nicht ich in der meinen?

    Margarete: Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen,

    Steht aber doch immer schief darum;

    Denn du hast kein Christentum.«³⁸

    Die »Gretchenfrage« – bekanntlich keine kleine, sondern eine entscheidende, und Faust zieht sich aus der Affäre, weniger recht als schlecht, wie man leider zugeben muss. Zwar ist seine Rede ein feines Zeugnis der Eloquenz eines religiösen Skeptikers, der doch die Verbindungen zum vom Grunde her Angezweifelten nicht ganz kappen möchte (einem mag der Ausspruch des alten Wieland einfallen, am Ende könne man auch müde werden, gar nichts zu glauben), auch ist sie eine wunderbare Nutzung des poetischen Potentials solcher Theologie, die sich in ihrer Unendlichkeitsemphase in die Unverbindlichkeit stiehlt, aber eben auch die Eloquenz des Verführers, von ebenso hoher »subjektiver Wahrhaftigkeit« wie »verlogen«.³⁹

    Historisch markiert Goethe hiermit eine entscheidende Stelle im Funktionswandel der öffentlichen Rede von Gott: diese wird privat, ein subjektives Bekenntnis, verliert den Charakter des Bekenntnisses in der Funktion einer weitreichenden öffentlichen Festlegung, verbunden mit daraus folgenden Verpflichtungen. Faust pocht auf den inneren Sinn, Margarete darauf, dass es auf ihn nicht ankomme, denn käme es auf ihn an, wäre auch die unterschiedliche Terminologie von Pfarrer und gelehrtem Skeptiker bedeutungslos – eine Ansicht, die Faust für sich in Anspruch nimmt. Das Bekenntnis, um das es Margarete geht, ist aber nicht die private Bekundung einer Befindlichkeit oder Stimmung, sondern eine ernste Verpflichtungserklärung, mit der sich ihr Gegenüber selbst sozial verorten soll. Es geht um einiges. Er will mit ihr ins Bett, sie ist bereit – aber ist er einer, auf den man bauen kann, oder nur der reiche Durchreisende, der eine Geschwängerte ihrem Schicksal überlässt? Sie will ihm zu Willen sein und gern: »Margarete: Ich ließ dir gern heut Nacht den Riegel offen!«⁴⁰ – möchte aber zuvor herausbringen, inwieweit sie ihm, subjektiv, vertrauen kann. Um dieses herauszufinden, nötigt sie ihn, sich jenseits allen Liebesbekundens zu erklären: Ist er ein verantwortungsvoller Mensch, i. e.: ehrt er die Sakramente (not least: das der Ehe), glaubt er an Gott (eine Instanz, der gegenüber man sich zu verantworten hat), ist er bereit, sich als Mitglied einer christlichen Gemeinschaft zu bekennen, deren Werte und Normen zu teilen und zu befolgen? Sie wählt den Weg, persönliche Vertrauenswürdigkeit über ein Bekenntnis zur Verbindlichkeit der Verkehrsformen einer Gemeinschaft zu überprüfen. Faust besteht den Test nicht. Goethe hat Margarete für ihren Test in eine Situation gestellt, in der das, was sie will, nicht mehr aufgeht. Darum kann Faust subjektiv ehrlich antworten, auch poetisch-theologisch kompetent, und dennoch als verlogener Schwätzer dastehen. Für ihn sind religiöses Bekenntnis und soziokulturelle Verortung tendenziell voneinander abgekoppelt.⁴¹ Für ihn gibt es rein individuelle Wege zum Transzendenten, und in der Vielfalt des Individuellen ergibt sich der große Zusammenklang eines kultur-, ja speziesübergreifenden Pantheismus. Margarete aber hat nicht nach der Möglichkeit solcher Theologie gefragt. Wäre sie Theologin, sie hätte die Möglichkeit von Transzendenz ohne Verantwortung in Zweifel gezogen.⁴² Sie ist keine, will nur wissen, ob er sie möglicherweise sitzenlässt, und möchte etwas Verbindlicheres als die schnelle Beteuerung des »Aber woher denn!«. Darum fragt sie, wie er es mit der Religion halte.

    Dass er die Sakramente »ehre«, beteuert er, aber das ist Wortspielerei. Er ehrt sie wie einen Aberglauben, den man respektiert, weil man die Freiheit seines Mitmenschen respektiert, zu glauben, was er will.⁴³ Sein Gebrauch von »ehren« bezieht sich auf die Höflichkeitsformen einer bereits säkularisierten Gesellschaft, ihr Wortgebrauch auf den Ernst der Teilnahme an den vertrauenssichernden Ritualen. Sein »ehren« offenbart einen diesbezüglichen Unernst, den sie bemerkt, den er nicht bemerkt, weil er an einem anderen Ritual teilnimmt, dem des friedenssichernden wechselseitigen Respekts beim Umgang miteinander. Man verletzt Mitbürger nicht in ihren religiösen Überzeugungen – und, beteuert er, wie viel weniger doch die, die man liebt. Faust und Margarete leben in verschiedenen Zeiten bzw. in einer Bühnenzeit, in der unterschiedliche Praktiken sozialen Vertrauens noch nebeneinander existieren und zuweilen miteinander ins Gehege kommen. Jedenfalls die Frage nach persönlicher Vertrauenswürdigkeit lässt sich in solchen Zeiten der Kollision oft nicht mehr eindeutig beantworten.

    Margarete versteht und zieht keine Konsequenzen; sie resigniert sogar und lässt sich von Faust jenes Schlafmittel für die hellhörige Mutter aufschwatzen, das diese später umbringen wird. Faust versteht gar nichts; er ist gerührt. Den Begleiter Mephistopheles, der – Ironiker, der er ist – versteht, weist er zurecht:

    »Faust: Du Ungeheuer siehst nicht ein,

    Wie diese treue liebe Seele

    Von ihrem Glauben voll.

    Der ganz allein

    Ihr selig machend ist, sich heilig quäle,

    Daß sie den liebsten Mann verloren halten soll.«

    Er möchte auch das privatisieren, und jedenfalls so fassen, dass für ihn keine Verpflichtung entsteht, nur jene zusätzliche erotische Lockung genießen, die für ihn dem, wie er meint, noch einmal offenbarten Stand der schlechthinnigen Unschuld erwächst. Mephistopheles hat solche Flausen nicht, er ist, wie gesagt, Ironiker, hier auch Psycho- und Soziologe:

    »Mephistopheles: Ich hab’s ausführlich wohl vernommen,

    Herr Doktor wurden da katechisiert;

    Hoff’ es soll Ihnen wohl bekommen.

    Die Mädels sind doch sehr interessiert,

    Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch.

    Sie denken, duckt er da, folgt er uns eben auch.«⁴⁴

    Er ist nicht nett, nicht nur Ironiker, sondern auch Zyniker und kompensiert damit die schwärmerischen Ekstasen seines Vertragspartners und späteren Freundes, aber darum soll es hier nicht gehen. Er gibt Faust die Interpretation der Gretchenfrage an die Hand, aber Faust kann sie nicht akzeptieren, denn sonst müsste er sowohl die Schäbigkeit der eigenen Einlassungen als auch das notwendige Missverstehen der eigenen Motivlage einsehen: Die Verführung würde misslingen oder allenfalls eine kalkulierte Operation à la »Liaisons dangereuses« sein. Dann aber könnte Faust nicht mehr verliebt sein. Genau dieses Gefühl ist es jedoch, auf das (ob nun toxischen Ursprungs oder durch den Ennui induziert) es ihm ankommt. Es geht nicht. So fragt man sich ja auch, ob ein Freudianer, der gelernt hat, Verliebtsein sei (nichts weiter als) Sexualüberschätzung, sich verlieben könne. Nun, natürlich kann er, aber die Stimme seines Wissens wird leiser werden dabei.

    Man muss nur zu trennen wissen, was wo hingehört. Auch Soziologen können wählen gehen oder Zeitung lesen. Dennoch bleibt die Frage wenigstens latent virulent, die Luhmann so formuliert hat: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir über die Massenmedien.« »Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?«⁴⁵ Man kann das leicht missverstehen. Es geht nicht darum, dass einer »Bescheid weiß« oder »hinter die Kulissen gesehen« hat, obwohl ein Teil der soziologischen Forschung, speziell der sich gesellschaftskritisch verstehende, das so aufgefasst hat. Vielmehr geht es um die mit bestimmtem Verstehen einhergehende Hemmung, dem Ernst der Sache gerecht zu werden. Dass die Neue Linke der 1960er Jahre den Eindruck gemacht hat, sie sei die praktische Verkörperung der Soziologie – so haben es wenigstens einige ihrer Protagonisten und einige ihrer erbitterten Gegner aufgefasst –, kam nicht von ungefähr. Vorgängig war aber die Weigerung, an den vertrauenssichernden sozialen Praktiken teilzunehmen, und das soziologische Vokabular war eine Möglichkeit, dem Affekt eine nicht affektgeladene Sprache zu geben. Adornos Weigerung, seine Theorie auf Praxis verpflichten zu lassen, ist Ausdruck der Einsicht in die begrenzte Lebbarkeit von Theorie; seine ethische Melancholie Ausdruck eines durch diese Einsicht nur noch forcierten Wunsches nach Konsonanz von Theorie und Leben. Habermas’ Versuch, dem dilemmatischen Denken zu entkommen, war die Einführung der theoretischen Figur der kontrafaktischen Unterstellung. Aber auch diese kann nicht im vollen Bewusstsein ihres Status gelebt werden. Margarete hat recht: »man muß d’ran glauben!« – wenigstens teilweise: »So I have heard and do in part believe it«, wie Horatio es formuliert.⁴⁶ Der Ernst der Teilnahme muss den theoretischen Ernst der Einsicht wenigstens auf den zweiten Platz verweisen. Er muss es deshalb, weil der Teilnehmer seine Teilnahme nicht sub specie ihrer Kontingenz praktizieren kann respektive darf. Er muss insofern für sich und für den Akt der Teilnahme die Beobachtung zweiter Ordnung suspendieren. Täte er es nicht, er würde weder der Teilnahme noch der von der Teilnahme als solcher abgelösten, nur in Standby-Position mit ihr koexistenten Theorie gerecht. Die Theorie als solche verlangt nur ein Bild der Sache und die Verwandlung des Theoretikers in den Nurtheoretiker, der als Beobachter erster bis n-ter Ordnung in ihr vorkommt. Die Teilnahme verlangt eine Anschauung der Welt nebst Gruppenbild mit Selbstporträt als Teilnehmer, anders gesagt:

    Die Praktiken sozialen Vertrauens sind permanente Entwürfe der Welt und unseres Lebens.

    Vertrauen und Wir-Konstruktion

    Die Frage ist nicht: Stellen wir uns richtig dar?, sondern: Glauben wir einander und aneinander? Dass soziale Sachverhalte Konstruktionen sind, ist die intuitive Grundlage solchen Verhaltens, und die Abwehr, der soziologische Theorien begegnen, die solche Intuition allzu offensiv in Theorie verwandeln, hängt mit der ebenso intuitiven Gewissheit zusammen, dass allein die Trübung des diesbezüglichen Bewusstseins eine erfolgreiche vertrauenssichernde Praxis ermöglicht. Damit diese erfolgreich sein, das heißt auch ohne permanente Überforderung der Teilnehmer praktiziert werden kann, muss sie das repräsentieren (und also dauernd reproduzieren), was »normal« ist, das heißt durch die dauernde Normalität dieser Praxis normal bleibt. Das kann sich ändern; wenn es sich ändert, so stets mehr oder weniger krisenhaft, wie das anhand der »Faust«-Passage Ausgeführte zeigt. Dies- oder jenseits der Krise aber gilt:

    Soziales Vertrauen ist ein permanent praktisch vor Augen geführtes Konglomerat von Annahmen über die Welt als Normalfall,

    die unterstellt werden müssen, damit diese Praxis durchgeführt werden kann. Dieses Konglomerat ist flexibel, in Teilen änderbar, ohne dass das Ganze fragwürdig wird und zu funktionieren aufhört, und kann Detailkrisen unangefochten überstehen –

    soziales Vertrauen führt permanent Antworten auf die Fragen »Wer bin ich?«, »Wer bist du?«, »Wer sind wir?« mit sich.

    Auch solche Antworten sind mit Ironie nur begrenzt kompatibel, da aber seit je ein unreflektiertes Selbstbild als Inbegriff der Dummheit gilt,⁴⁷ muss es Reservate geben, in denen man der Gefahr praktischer Verdummung begegnen und die Kontingenz des eigenen Soseins gefahrlos schätzen kann. Dieser Bereich ist traditionellerweise die Kunst, vor allem die Literatur.⁴⁸ Dies soll aber hier nicht weiter ausgeführt werden.

    Der Versuchung, das Konglomerat in Richtung System zu ordnen, sollte man, wie gesagt, widerstehen. Allerdings wird in der Wirklichkeit um die Priorität der vertrauenssichernden Praktiken gestritten – oder anders formuliert: Mancher politische Streit lässt sich in seiner Schwere erst dann recht verstehen, wenn man ihn hinsichtlich dieser, möglicherweise existentiellen, Dimension versteht. Sophokles’ »Antigone« ist der poetische Bericht eines solchen Streits. In der Rezeptionsgeschichte dieses Stückes haben sich zwei Interpretationen durchgesetzt.

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