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Meine angebetete Louise!: Das Tagebuch des Architekten 1915-1918
Meine angebetete Louise!: Das Tagebuch des Architekten 1915-1918
Meine angebetete Louise!: Das Tagebuch des Architekten 1915-1918
eBook454 Seiten6 Stunden

Meine angebetete Louise!: Das Tagebuch des Architekten 1915-1918

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Über dieses E-Book

Wagners Tagebuch seiner letzten Jahre. Erstmals publiziert!

Der 26. 10. 1915 ist ein Schicksalstag für Otto Wagner. Seine um 18 Jahre jüngere Ehefrau Louise stirbt an Krebs. Schon nach der Diagnose hat der Architekt ein Tagebuch zu führen begonnen, das er regelmäßig mit Erinnerungen an bessere Tage und Notizen über die Gegenwart füllen wird. Es soll seiner unvergleichlichen Liebe zu Louise ein Denkmal setzen. Nebenher enthüllt es die misanthropische Verzweiflung eines großen Künstlers. Er glaubt sich am Höhepunkt seines Schaffens, wittert Habsburgs Sieg und Morgenluft für seine Pläne, während das Alter seinem Körper zusetzt und das Weltkriegselend auch in seinen Alltag einbricht. Krankhafter Antisemitismus, Leid und Paranoia bestimmen mehr und mehr sein Denken. Der Tod eines Patriarchen fällt zusammen mit dem Ende des Habsburgerreichs.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum27. Aug. 2019
ISBN9783701746170
Meine angebetete Louise!: Das Tagebuch des Architekten 1915-1918

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    Buchvorschau

    Meine angebetete Louise! - Otto Wagner

    Impressum

    Vorwort

    Andreas Nierhaus, Walter Obermaier, Alfred Pfoser

    Es sind vor allem Bauwerke, aber auch unausgeführte Projekte, theoretische Schriften und nicht zuletzt Bücher, die das Vermächtnis der Architekten und Architektinnen bilden. Autobiographien oder ganz und gar persönliche Tagebücher sind etwas Seltenes. Architekten und Architektinnen bauen nicht – sie entwerfen (verwerfen, argumentieren, agitieren), indem sie zeichnen und schreiben. Aus dieser Perspektive einer auf das Schreiben und Beschreiben angewiesenen Profession ist es bemerkenswert, dass Tagebücher, persönliche noch dazu, in der Architekturgeschichte selten überliefert sind.

    Das Tagebuch Otto Wagners, eines der bedeutendsten Architekten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ist ein solches Dokument, das allerdings relativ wenig über sein Werk verrät, mehr über seine Biographie und Familiengeschichte erzählt, den meisten Platz aber der Erinnerung an seine Ehe und der fast religiösen Verehrung seiner verstorbenen Frau Louise vorbehält. Deshalb spricht Otto Wagner oft vom Tagebuch als Ansammlung von Briefen an seine Frau. Ausgangspunkt ist ihr Tod: Um 18 Jahre jünger als ihr Mann, verstirbt Louise am 26. Oktober 1915 an Krebs. Sie lässt einen 74-jährigen Ehemann zurück, der während der 35 Jahre ihrer Beziehung stets davon ausging, dereinst vor seiner Gefährtin zu sterben, nun jedoch mit seinem Temperament, seiner Arbeit, seiner Familie, seinen Kindern, seinem geschäftlichen Netzwerk, seinen Krankheiten und seiner Trauer alleine zurechtkommen muss.

    Ein großbürgerlicher Künstler, überzeugt von seiner überragenden Bedeutung, ja von seinem Genie, muss nun Rück- und Niederschläge aller Art ohne emotionale Stütze hinnehmen. Er ringt um Struktur, flüchtet in Arbeit und wirft sich in öffentliche Debatten. Der unerreichbaren Qualität seiner Projekte ist er sich sicher, ihre Ausführung bleibt wegen des Krieges jedoch Wunschtraum. Seine Hoffnung ist ganz auf das kaiserliche Wien nach dem Kriege gerichtet, das ihm Chancen sondergleichen verspricht.

    Gleichzeitig setzt ihm der körperliche Niedergang zu. Das Tagebuch ist eine Chronik des fortschreitenden Alterns und des nahenden Todes. Otto Wagner magert dramatisch ab, eine langwierige Influenza schwächt ihn, er hat zunehmend Schwierigkeiten beim Gehen, wähnt sich dem Ende nahe und fühlt sich verpflichtet, „geordnete Verhältnisse" zu hinterlassen. Seine angespannte finanzielle Lage beschäftigt ihn über Monate hinweg, er feilt an seinem Testament, in der Beziehung zu seinen Kindern durchlebt er emotionale Höhen und Tiefen. Das Tagebuch, das in immer neuen Anläufen die Vergangenheit erinnert (und natürlich verklärt), gibt Einblick in eine komplexe Familiengeschichte mit Nachkommen aus drei verschiedenen Beziehungen, die teilweise argen Verwünschungen und Beurteilungen ausgesetzt sind.

    Erste Seite aus dem Tagebuch Otto Wagners, Privatbesitz

    Quasi nebenbei bricht in dieses amputierte Leben, und damit in das Tagebuch, der Erste Weltkrieg ein. Zuerst rührt das große Schlachten den Meister, der bis zu seinem Ende auf das Wunder des großen Sieges hofft, nur wenig. Es freut ihn, dass Thronfolger Franz Ferdinand, der Feind der modernen Architektur, der durch seinen Einfluss Wagners Projekte zum Scheitern brachte, tot ist. Es ärgert ihn, dass die Bautätigkeit weitgehend eingestellt wird und die Zeichner sich an die Front verabschieden müssen, und er hofft, wie so viele, auf ein schnelles Kriegsende. Aber spätestens mit dem „Steckrübenwinter 1916/17 treibt das Gespenst des Krieges auch im Hause Wagner sein Unwesen: Schlechte Versorgung und Kälte werden spürbar, der Lebenskomfort erleidet große Einbußen, er ärgert sich unendlich über das Hauspersonal. Endemische Misanthropie frisst sich fest, wenig freundlich sieht er sich selbst: „alt, gebrechlich, lieblos (4.11.1917). Der Hass des großen Architekten auf die Feinde, seine Wut auf die Kriegsgewinnler, seine Sicht auf die Umwelt steigern sich zu einem paranoiden, aggressiven Antisemitismus. Auch alle, die sich dem Sieg der Mittelmächte entgegenstellen, sind „Juden".

    Mit Fortdauer der täglichen Notate kam bei Otto Wagner offenbar der Gedanke auf, dass dieses Tagebuch nicht nur als eine fiktive, intime Gesprächstherapie ausschließlich für den eigenen Gebrauch von Nutzen sei, sondern auch für die Nachwelt Bedeutung haben könnte – erst einmal für die Familie, dann für einen weiteren Kreis der Öffentlichkeit, wie er im Vorwort, das er dem Tagebuch voranstellt, schreibt. Man kann verstehen, dass bei seinen rüden Worten über die Kinder, bei seinen wüsten antisemitischen Ausfällen die Familie wie auch die Wagner-Forschung lange Zeit zögerte, dieses Tagebuch ohne substanzielle Eingriffe zu veröffentlichen – präsentiert sich hier doch kein lebensweiser Prospero, sondern ein mürrischer Lear, der die Welt verflucht. Hans Tietzes doppelbödige Charakterisierung kann man nach dem Studium des Tagebuches besser verstehen: „Liebenswürdig und unausstehlich, menschlich weich und streng theoretisch, war Wagner, durch schrankenlose Entfaltung und eiserne Bekämpfung seines innersten Wesens eine Verkörperung dessen, was Wien in den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende war und was es sein sollte und konnte."¹

    Endlose monotone Passagen feiern seine Frau als „uxor optima"², was auch einer der Gründe war, wieso eine in den 1920er-Jahren geplante Veröffentlichung schließlich unterblieb. Auch in der nun vorliegenden Edition reagieren die Herausgeber auf die Misere des litaneihaften Wiederholungscharakters. Sie verzichten zwar nicht auf alle Teile dieses Louisen-Kults, aber doch auf einen vom Umfang, nicht vom Inhalt her substanziellen Part. Etwa 40 Prozent des ursprünglichen Textes wurden aus Gründen der Leseökonomie weggelassen, um dieses Tagebuch als Dokument vorzustellen, dessen Bedeutung weit über die intendierte Absicht des Autors hinausgeht, die mehr als 30-jährige Ehe als abgehobenes Monument zu etablieren. Wer will heute daran glauben?

    Den Textspuren ist zu entnehmen, dass Otto Wagners Tagebuch wahrscheinlich in mehreren Anläufen entstand. Den frühen Eintragungen, die die Tragödie Louises von der Diagnose der Krebserkrankung (18.8.1915) bis zum Tod (26.10.1915) so nüchtern wie anrührend beschreiben, wurde viel später in mehreren Schüben ein „Vorwort vorangestellt, das der Nachwelt die Lektüre erleichtern und Wagners Biographie zusammenfassen sollte. Zuerst waren es unstrukturierte, unregelmäßige Aufzeichnungen, die als „Tagebuch der Krankheit (26.10.1915) angelegt waren. Sie hielten den Krankheitsverlauf seiner geliebten Frau fest, zugleich aber auch Otto Wagners unermesslichen Schmerz über ihre letzten Tage und die Angst vor ihrem bevorstehenden Tod. Noch hatte sich keine Form etabliert, wie Otto Wagner, der zuvor offenbar kein Tagebuch geführt hatte, seine Seelennot strukturieren wollte. Erst gegen Ende August 1915 nahm das einigermaßen regelmäßig geführte Diarium Gestalt an. In einem Zeitraum von zwei Jahren und acht Monaten, oder 957 Tagen, machte Wagner insgesamt 461 Eintragungen. Das Tagebuch wurde nun eine Konstante in Otto Wagners Leben, die ihm das Weiterleben erleichterte, indem es, weil er das tägliche Gespräch mit Louise entbehren musste, nun das Zwiegespräch mit der vermissten Partnerin schriftlich aufnahm.

    Vorsicht ist angebracht bei dem, was Otto Wagner bei seiner Lebensgeschichte an Fakten, Analysen und Bewertungen einfließen lässt. Die Erinnerung, von Emotionen geprägt, ist eine unzuverlässige Auskunftgeberin, sie ist in Wagners eigenen Worten eine Konstruktion. Die genaue Lektüre des Tagebuchs führt uns zu seiner Brüchigkeit: So deutet es hier etwas an, legt dort fragmentarische Fährten ins Irgendwo, vieles bleibt skizzenhaft und offen. Gerne hätte man nachgefragt. Andere Dokumente zu Wagners Leben, etwa Briefwechsel, gibt es nur wenige. Louises Tagebuch ist verschwunden. Relativ einfach ist es, wenn sich der Autor in Einzelheiten nach unserem Wissensstand schlicht irrt. So etwa, wenn Otto Wagner am Geburtstag ein falsches Alter angibt. Selbst in der von ihm präsentierten Kindheits- und Jugendgeschichte passt einiges nicht mit dem gesicherten Wissen zusammen, wie im erläuternden Essay dargelegt wird.

    Tagebücher großer Künstler, wenn sie nicht als Arbeitsjournale konzipiert und produziert wurden, sind problematische Dokumente, weil sie meist ausgiebig das Intimleben ausbreiten und dadurch die künstlerische und damit die „wahre historische Bedeutung vernachlässigen. Gleichzeitig faszinieren sie das Publikum, weil sie entheroisieren, menschliche Schwächen sichtbar machen, Mysterien aufdecken, Neurosen und Marotten preisgeben und das familiäre Umfeld zeigen, in dem das „Genie zu Hause und zugleich fremd ist. Es mag ein Makel dieser Publikation sein, dass die architekturhistorische Bedeutung Otto Wagners neben dem „Menschlichen, Allzumenschlichen" unterzugehen droht.

    Wagners historische Bedeutung ist unbestritten: Mit Bauten wie der Wiener Stadtbahn, der Kirche am Steinhof und der Postsparkasse schuf Wagner Schlüsselwerke einer vom Historismus „befreiten Moderne, seine Schriften über Architektur und Stadtplanung zeigen ihn als Wegweiser zu einer neuen, kommenden Baukunst, seine unzähligen Projekte machen ihn zum städtebaulichen Visionär der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Durch seine mehr als zwei Jahrzehnte dauernde Lehrtätigkeit an der Akademie der bildenden Künste wurde er zu einem „Vater der Architektur des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa.³ Die Herausgeber dieses Buches sind davon überzeugt, dass die Veröffentlichung von Wagners wohl intimsten Zeilen dieses Bild nicht beschädigen, sondern ergänzen wird durch ungewohnte, irritierende, manchmal groteske Einblicke in das Denken einer Epoche und in die Lebenswelten einer großbürgerlichen Familie.

    Das Tagebuch, bisher in der Literatur immer nur in Ausschnitten zitiert, war der Forschung nur auf komplizierten Wegen und nur ausnahmsweise zugänglich. Jetzt ist es öffentlich und kann erstmals in seiner Gesamtheit (die Kürzungen betreffen, wie erwähnt, keine relevanten Fakten) eingesehen werden. Es legt die verquere politische Denkstruktur eines alten Patriarchen ebenso bloß wie die alles bestimmende Fixierung auf das eigene künstlerische Schaffen. Darüber hinaus macht es nachhaltig darauf aufmerksam, dass Otto Wagners schöpferische Potenz auf einer symbiotischen, perfekt aufeinander abgestimmten partnerschaftlichen Beziehung gründete. An der Fassade der monumentalen Villa in Hütteldorf, die der Architekt 1886 für sich und seine Familie errichtete, sind zwei Sprüche eingraviert. Dem Motto „Artis sola domina necessitas – „Die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit – steht auf einer zweiten Tafel die Sentenz gegenüber: „Sine arte, sine amore, non est vita – „Ohne Kunst, ohne Liebe gibt es kein Leben. Das Tagebuch macht nicht zuletzt auch die menschlichen Brüchigkeiten und Abgründe hinter diesem hohen ethischen und künstlerischen Anspruch deutlich. Es ist damit auch eine bizarre Lektion über das Scheitern.

    Editionsgeschichte

    Am Ostersonntag des Jahres 1918 machte Otto Wagner die letzte Eintragung in sein Tagebuch und übergab es im Wissen um sein nahes Ende seiner jüngsten Tochter Christine, die damals für ihn den Haushalt führte – gemeinsam mit zwei Blanko-Schecks für den Fall, dass ihm etwas zustoße und sie Geld benötige.⁴ Christine verzichtete in der Folge offenbar darauf, ihren Geschwistern von der Existenz dieses Dokuments zu berichten, zugleich aber scheint sie sich verpflichtet gefühlt zu haben, das Tagebuch zu veröffentlichen, und konnte sich dabei auf den Wunsch ihres Vaters berufen, der „meinen Kindern und der Nachwelt einen Beweis der beispiellosen Liebe zweier Menschen […] hinterlassen" wollte, wie er im Vorwort schrieb.

    Es war wohl der 1928 bevorstehende zehnte Todestag Wagners, der Christine Ende 1926 dazu bewog, beim Wiener Amalthea-Verlag eine Kalkulation für die Publikation des Tagebuches einzuholen.⁵ Ein gutes Jahr später korrespondierte sie mit dem Schriftsteller und Journalisten Arthur Roessler und übermittelte Originale und Abschriften von frühen Briefen an Louise Stiffel, um ihm „ein richtiges Bild der Ehe der Eltern zu geben, wobei diese Briefe keinesfalls mit „den anderen – gemeint ist das Tagebuch – veröffentlicht werden dürften. Sollte Roessler einen Verlag finden und das Tagebuch herausgeben wollen, werde sie Hermann Bahr an seine Zusage, ein Vorwort zu verfassen, erinnern.⁶ Wenige Tage später erhielt Roessler von Christine eine Vollmacht, um Verhandlungen mit einem Verlag aufzunehmen, zugleich bat sie ihn um seine Meinung zu dem Text.⁷ Roessler lag vermutlich nicht das Originalmanuskript, sondern eine von Christine redigierte, umformulierte und vor allem um kritische Stellen und Hinweise auf lebende Personen gekürzte Fassung vor.⁸ Der Krystall-Verlag, mit dem Roessler in Verhandlungen getreten war, lehnte jedoch eine vollständige Veröffentlichung des Tagebuches ab, wollte aber eine gekürzte, illustrierte und um Aufsätze Wagners bereicherte Fassung herausgeben.⁹

    Kurz darauf erhob Christines Schwager Franz Wick gegenüber Roessler im Namen der übrigen Familienmitglieder Einspruch gegen die Veröffentlichung des Tagebuchs, von dessen Existenz man nichts gewusst habe. Wick schlug Roessler vor, dass Christine den Inhalt des Tagebuches anlässlich der bevorstehenden Feierlichkeiten zum zehnten Todestag den anderen Familienmitgliedern zur Kenntnis bringen solle. In Hinblick auf eine drohende Einstellungsklage sei vorerst nicht an einen Abschluss mit dem Krystall-Verlag zu denken.¹⁰ Aus dem Antwortbrief Christines geht die feindselige Stimmung innerhalb der Familie deutlich hervor; dass sie jedoch nicht die Absicht habe, durch die Veröffentlichung des Tagebuches jemanden zu beleidigen, wisse Roessler aus ihrer „Abschrift"¹¹ – er war also in Kenntnis, dass es sich bei dem zu publizierenden Text um eine bereinigte Fassung handelte. Das Buchprojekt wurde aufgegeben.

    Knapp acht Jahre später erreichte das Tagebuch dann ein weitaus größeres Publikum: Am 7. November 1935 hielt der Kunsthistoriker Max Eisler im Wiener Radio einen Vortrag mit dem Titel „Eine Wiener Künstlerehe. Briefe Otto Wagners an seine Frau".¹² Eisler griff dabei sowohl auf Eintragungen aus dem Tagebuch als auch auf frühe Liebesbriefe – jeweils in der Abschrift Christines – zurück.¹³ Mit der Publikation dieses Vortrags in der „Österreichischen Rundschau" 1936 erhielt die durch Wagners Tochter manipulierte Quelle den Stempel wissenschaftlicher Autorität.¹⁴

    Zugleich begann damit ein mehr als acht Jahrzehnte andauerndes Verwirrspiel um die authentischen Worte Wagners, das mit der nun vorliegenden Veröffentlichung auf der Basis des Originalmanuskripts für beendet erklärt werden kann. Denn seit Hans Ostwalds Dissertation von 1948¹⁵ wurden in der Wagner-Literatur immer wieder Auszüge aus dem Tagebuch veröffentlicht, wobei die Autoren zumeist nicht die Handschrift Wagners, sondern die Abschrift seiner Tochter in Händen hielten oder aus dem Aufsatz von Max Eisler zitierten. Heinz Geretsegger und Max Peintner konnten für ihr 1964 erstmals veröffentlichtes Buch partiell auf das Originalmanuskript zurückgreifen¹⁶, dem Wagner-Forscher Otto Antonia Graf stand es dann zur Gänze zur Verfügung.¹⁷ Graf war es auch, der im Jahr 2017 eine vollständige Fotokopie des Originalmanuskripts zusammen mit anderen Unterlagen dem Wien Museum überließ. Auf dieser Basis, die umso wertvoller ist, als das in Privatbesitz befindliche Manuskript nicht zugänglich ist, entstand die vorliegende Publikation.

    Editorische Vorbemerkungen

    Otto Wagner bediente sich einer auch nach den Regeln der Zeit sehr uneinheitlichen Orthographie und Zeichensetzung. Dies machte im Interesse der Lesbarkeit Vereinheitlichungen notwendig. Eingriffe in den Text wurden mit eckigen Klammern kenntlich gemacht, sinnstörende Fehlschreibungen im Text korrigiert, Anmerkungen erläutern die Korrektur. Eigenartige Wendungen, Wörter mit unklarer Bedeutung, umgangssprachliche Bezeichnungen wurden belassen, um die Leserinnen und Leser mit dem Originalwortlaut zu konfrontieren. Grammatikalische Fehler (so das oft gebrauchte „ohne dir) wurden, wenn sie nicht sinnstörend waren, ohne Kommentar beibehalten, der von Otto Wagner anstelle des Plurals benutzte Singular („Christl und Louise wird dafür sorgen, 12.7.1916) wurde nicht korrigiert. Vom Gebrauch von „sic!"-Ausrufen wurde abgesehen, da diese zu häufig gewesen wären und den Textfluss unangenehm unterbrochen hätten. An einigen Stellen, die nicht sicher gelesen werden konnten oder deren Bedeutung den Herausgebern unklar blieb, wurden in eckiger Klammer Fragezeichen eingefügt. Kürzungen im Text betreffen ausschließlich zum Teil wortgleiche Wiederholungen der Anrufungen von Wagners verstorbener Frau und wurden durch eckige Klammern ausgewiesen, dabei wurde jedoch keiner der 461 Tageseinträge zur Gänze gestrichen. Sämtliche runden Klammern, Interpunktionen und anderen nicht in eckigen Klammern ausgewiesenen Sonderzeichen wurden entsprechend dem Originalmanuskript wiedergegeben.

    Verschiedene Schreibweisen von Eigennamen wurden in der korrekten Form vereinheitlicht (also „Vojcsik statt „Waitzick, „Voitschik etc.), falsche Vornamen oder Wochentage durch die richtigen ersetzt. Bei den unterschiedlichen Schreibungen der Vornamen von Gattin und Tochter („Louise, „Luiserl/„Luise) wird zwischen „Louise („Louiserl) für die Gattin und „Luise („Luiserl) für die Tochter unterschieden. Bei der Beistrichsetzung (ausgenommen die Louisen-Anrufungen) ist der Text an heutige Formen angepasst, desgleichen bei der Groß- und Kleinschreibung, auch bei der Substantivierung von zusammengesetzten Verben. Die damals übliche „ß/ss-Schreibung wurde belassen. Apostrophe wurden dort eingefügt, wo sie gelegentlich fehlen („wenns, „gehts"). Abkürzungen werden, soweit nicht heute noch allgemein üblich, stillschweigend aufgelöst, auch ungewöhnliche Abkürzungen (N.M. = Nachmittag) wurden ausgeschrieben. Wagner setzte für bestimmte Bezeichnungen Anführungszeichen, allerdings nicht konsequent. Hier wurde ebenfalls eine Vereinheitlichung vorgenommen. Bei der Datumsangabe folgte Wagner weitgehend einem eindeutigen Prinzip, variierte dieses aber immer wieder. In der vorliegenden Fassung sind die Datumsangaben weitgehend normiert und durchgehend hervorgehoben. Auch bei der Gestaltung der Absätze (nach der Angabe des Tages, in und zwischen den Eintragungen des Tages) wurde eine Vereinheitlichung angestrebt. Der Anmerkungsapparat konzentriert sich auf die wichtigsten historischen Informationen. Biographische Hinweise zu den im Tagebuch erwähnten Personen sowie ein Verzeichnis der im Text erwähnten Bauten und Projekte sind im Register zu finden.

    Otto Wagner, Pastell von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf, 1896 Wien Museum, Inv.-Nr. 168.490

    Louise Wagner, Pastell von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf, 1896 Wien Museum, Inv.-Nr. 168.491

    Otto Wagner Tagebuch 1915–1918

    Vorwort zu folgenden Blättern.

    Die Krankheit und der Tod meiner angebeteten Frau haben mich veranlaßt, ein Tagebuch anzulegen. Ich beabsichtige damit, meinen Kindern und der Nachwelt einen Beweis der beispiellosen Liebe zweier Menschen zu hinterlassen. Ich will im Vorworte manches anführen, um dieses Tagebuch und mein Leben verständlich zu machen. Ich will, so weit meine Erinnerungen reichen, kurz rekapitulieren, wie und wodurch sich mein Leben wie folgt gestaltete.

    Von meinem Papa, den ich in meinem 5. Lebensjahre verlor, kann ich nur wenig berichten, er war königl. ungarischer Hofnotar. Meine Mama, eine sogenannte reiche Erbin, eine geborene von Helfferstorffer, heiratete nach langer Brautzeit (10 Jahre), da mein Großpapa mütterlicher Seite, kaiserlicher Hof-Kriegs Archivar, die Ehe nicht zugeben wollte.¹ Die Ehe wurde erst nach seinem Tode im Jahre 1838 geschlossen. Mein Bruder Emerich wurde im März 1839 und ich im Juli 1841 geboren, in Penzing, damals Sommerfrische.

    Meine erste Erziehung wurde von französischen Gouvernanten, Hofmeistern und Correpetitoren durchgeführt. Im Jahre 1850 trat ich ins Akademische Gymnasium, später in das Konvikt in Kremsmünster ein. Ich war stets ein sehr aufgeweckter, gesunder, leichtsinniger Junge, der niemals das lernte, was ihm widerlich war. Widerlich war mir von frühester Jugend an all das, was Gedächtnis-Übung beanspruchte, während ich für schöpferische Dinge, Zeichnen, Musik, darstellende Geometrie etc., mit großem Eifer griff. Ich erinnere mich, daß meine Mama mir in meiner Jugend das Versprechen abnahm, Dr. juris zu werden. Diese ihre felsenfeste Absicht konnte ich erst brechen, als sie sah, daß meine Fähigkeiten auf anderem Gebiete lagen. Das Gefühl der Abscheu für alles Gehirnarchivartige ist mir bis heute geblieben.

    Von Kremsmünster kam ich mit Ach und Krach an die Wiener Technik, an welcher ich 3 ½ Jahre mit großem Erfolg studierte.

    Ich wurde ob meiner ausgezeichneten Zeugnisse vom Militärdienste befreit. Über Anraten T[heophil] Hansens, der mit Mama durch den Bau ihres Hauses I., Göttweihergasse 1, [ging ich] nach Berlin an die Bauakademie. Nach 2 ½ jährigem Studium (?) kam ich nach Wien an die k. k. Akademie d[er] b[ildenden] K[ünste], und unter Sicardsburg und van der Nüll ging mir endlich das Licht auf, daß ich meinen Beruf richtig gewählt hatte.

    Die eigentliche Ursache meiner Berufswahl war ein belangloses [Erlebnis]². Ich will es kurz erzählen. Durch den Hausbau war meine Mama auch mit dem Unternehmer Baumeister J[ohann] Strahberger bekannt geworden. Da wir nun kurz nach Bauvollendung gefirmt werden sollten und meine Mama auch die Eigenschaft hatte, niemanden belästigen zu wollen, so ersuchte sie Herrn Maurermeister Strahberger, der bei dem Bau ein gutes Stück Geld verdient haben dürfte, uns zur Firmung zu führen und uns die obligaten Uhren (es sind leider 2 schäbige silberne Zylinder-Uhren gewesen) zu schenken. Vielleicht war auch ein Grund darin zu suchen, daß der Baumeister eine Equipage hatte und die übliche Firmungslandpartie sich leicht bewerkstelligen ließ. Sie fand statt, und wir wurden nach der Kirche zu einer opulenten Jause nach dem Krapfenwaldl³ geführt, allwo uns auch die schäbigen Uhren übermittelt wurden. Es zog ein Gewitter herauf, und der Ausflug wurde beschleunigt. Ein sehr starkes Gewitter überraschte uns bei der Heimfahrt. Wir saßen nach Möglichkeit versorgt im Wagen, die feurigen Füchse, Donner und Blitz, strömender Gußregen aber machten Mama sehr ängstlich, während sich meine Gehirntätigkeit dahin konzentrierte, daß ich es sehr schön fand, einen Wagen zu haben, und den Beruf, der dies gestattete, sehr schön fand. Also ein Baumeister und Wagenbesitzer wollte ich werden.

    Erst viel später an der Akademie ging mir das Licht auf, und ich begriff, daß ein Baumeister nichts weniger als ein Künstler ist. Sicardsburg übernahm meine Künstlerseele und pflegte das Utilitätsprinzip in mir, während van der Nüll mir als unerreichbares Zeichentalent mit der Aureole erschien. Unmittelbar nach Vollendung der akademischen Studien gelang es mir, einen großen Auftrag (es ist besser, darüber zu schweigen)⁴ und bei meiner ersten Konkurrenz von der Jury mit Stimmeneinhelligkeit den ersten Preis zu erlangen (Kursalon).⁵

    Mein künstlerisches Leben ist in Lux‘ Monographie⁶ recht gut gegeben, ich kann mich also jedes weiteren Kommentars enthalten.

    Mein seelisches Leben beginnt im November 1879. Alles Frühere waren Mißgriffe und moralische Entgleisungen. Es gelang mir damals, ein Wesen kennenzulernen, dessen Verstand und Herzensgüte auf so hoher Stufe stand, daß ich Ähnliches für unmöglich hielt. Bedenkt man noch, daß Louise zu diesen Eigenschaften ein reizendes Antlitz und einen entzückenden Körper hatte, so ist es erklärlich, daß ich mit 38 Jahren, statt dem bisher unbefriedigten Sehnen, das bisher für unmöglich gehaltene Ideal fand. Die Gefühlseruption, die dadurch eintrat, wirkte katastrophal, weil sie gegenseitig war. Wohl ist anfangs Louisens Liebe nicht so alle Hemmnisse abwerfend wie bei mir gewesen, später aber war Louisens Liebe reiner, edler als die meinige. Dieser Umstand ist leicht erklärlich, da Louise gescheiter, besser und braver war als ich und manche ihrer Eigenschaften geradezu antike Größe erreichten. Ich möchte hier festhalten, daß ich mein ganzes Ich Louisen derartig gab, daß für andere Gefühle kein Platz blieb. Mein Leben wurde von diesem Tage an durch Louisens Liebe derart beeinflußt, daß ich in einen Taumel des Glücks verfiel, aus welchem mich Louisens Krankheit und Tod furchtbar erweckten. Heute, wo ich alles verlor und mein Alter schon recht fühlbar wird, muß ich gestehen, ich war der glücklichste Mensch der Welt und bin heute der Unglücklichste. Wer das liest, wird jetzt vieles an mir begreifen, meine Liebe hat nicht einmal für Freundschaft in meinem Herzen Platz gelassen, und heute kennt mein Herz nur Schmerz und Wehmut und Erinnerung an meine Louise. Unzählige Kränkungen in künstlerischer Beziehung habe ich hinnehmen müssen, sie wurden aber durch mein inniges Liebesleben völlig ausgelöscht. Wer so wie ich liebte und geliebt wurde, dem konnte keine Kränkung etwas antun. Überdies muß ich gestehen, daß mein impulsives Wesen nach oben hin und die schonungslosen Bemerkungen über die Nichtskönner und Nichtstuer die Anzahl meiner Feinde stets vermehrten. Tief griff der Krieg in den Abend meines Lebens ein. Gerade die Zeit, die ich doppelt ausnützen wollte, gerade diese Zeit hat der Krieg für mich völlig zerstört, denn er hat mich arbeitsmäßig völlig brach gelegt. Was an Baukunst in den letzten Jahren in Österreich gemacht wurde, ist einfach ein Skandal und muß den Anschein hervorrufen, als ob die Steinhofer Kirche, die Postsparkasse und so viele Projekte von mir (Kriegsministerium, Museum etc.) für nichts und wieder nichts gemacht wurden.

    Ich will hier erwähnen, daß meine liebe Mama sehr religiös war und daß wir in schweren Fällen uns neben ihr niederknien mußten, um andächtig zu beten. Mein Verstand ließ mir in meiner Jugend schon erkennen, daß alle Religion nur Mache sei, doch glaubte ich bis zu meinem 55. Jahre an einen unbekannten Gott. Dieser Gott mußte später einem unbarmherzigen Schicksal weichen, bis endlich der Gedanke in mir reifte, der Mensch kann keinen Glauben haben und nach seinem Tode sinkt er zu Staub herab. Jeder Trost ist ihm genommen, nur das Glück ist es, was zu halten er bestrebt sein muß. Dieses über alles erhebende Glück hat mir Louise in Hülle und Fülle gebracht. Nach Louisens Tode hat mein Herz, aber auch nur mein Herz sich dagegen gesträubt und für unmöglich erklärt, daß so viel Verstand, Herzensgüte, Tatkraft und Liebe, wie sie Louisen eigen war, unmöglich ganz vom Erdboden verschwinden könne, ohne irgend eine Kombination⁷ zu hinterlassen. Ich habe mir daher aus diesen ihren Eigenschaften einen Geist konstruiert, mit dem ich verkehre und der einer Gottheit entspricht. Dieser Geist, der um mich, durch mich lebt, ist mein Idol mit Leitstern, zu dem blicke ich auf, zu dem bete ich, zu dem flehe ich in Not. Er bildet für mich eine schwache Fortsetzung des Lebens, das ich mit Louisen führte. Der Gedanke des Fortlebens nach dem Tode hat sich daher in mir zu der Überzeugung vertieft, daß jeder Mensch nur so lange nach dem Tode fortlebt, als die Mitmenschen sein Andenken bewahren, und mit dem Erlöschen dieser Erinnerungen auch das Fortleben jedes einzelnen Menschen ganz aufhört. Meine Louise lebt noch so deutlich in mir, daß dieses Fortleben sich zum Ansehen eines Geistes verdichtete. Und tatsächlich lebt Louisens Geist um mich und in mir. Louisens Geist, durch ihre Eigenschaften geboren, ist aber auch so gewaltig, daß ein Erlöschen dieses Geistes, so lange ich lebe, unmöglich ist. Meine Theorie vom Fortleben nach dem Tode hat etwas tief Schmerzendes, aber mein Verstand zwingt mich daran zu glauben. Mein Alter, mein Suchen, mein Grübeln und Kämpfen und Ringen hat mich in Bezug auf meinen Glauben sehr gestärkt, so daß die Angst vor dem Tode nahezu völlig bei mir geschwunden ist. Das Unangenehme, das ich empfinde, gipfelt nur darin, daß ich vielleicht mein Haus nicht genug bestellte, daß ich Furcht habe, daß, was ich für die Kunst leistete, auf nicht genug fruchtbaren Boden fiel und, daß die Ideen, welche ich hinterlasse, nicht ausgeführt werden. Ich war im März des Jahres 1917 schon krank und befinde mich heute noch nicht wohl. Ich erinnere mich aber, in den letzten Tagen des Märzes mit ruhiger Hand 3 Schecks geschrieben zu haben und meiner Tochter Christl, welche die Wirtschaft führt, 2000 Kronen auf die Hand zu geben, damit sie wegen der Kosten des Leichenbegängnisses keine Scherereien hat. Noch möchte ich erwähnen, daß ich körperlich sehr herunter gekommen bin und durch den erfrorenen Fuß kaum mehr gehen kann, daß ich aber vor Erfinden, Neuschöpfung, baukünstlerischen Gedanken mich reifer und frischer und ergiebiger als je finde.

    Heute, wo ich 75 Jahre und 53 Tage alt bin, muß ich nun sagen, daß ich völlig ruhig und befriedigt bin. Ich rate jedermann an zu ringen, so lange er kann. Wer das Ziel nicht erreicht, ist eben nicht fähig, es zu erreichen. Wem ein gnädig Schicksal Verstand gegeben, der ist auch ein guter Mensch. Der Mensch braucht deshalb seine angeborenen Eigenschaften nicht aufzugeben, denn Kampf, Sieg und Ruhm sind süß. Ohne Liebe kann kein Mensch glücklich werden, sie ist nur möglich, wenn Sinn und Herz und Verstand eine Sprache mit dem geliebten Menschen sprechen. Meine Liebe zu Louisen hat von Anbeginn unserer Bekanntschaft bis zu ihrem Tode ständig zugenommen.

    Nach der Unzahl von Arbeiten, welche ich jetzt habe (Dezember⁸ 1917), muß ich annehmen, daß der Boykott, an welchem ich nahezu 10–12 Jahre litt, vorüber ist. Es drängt mich, die Geschichte dieses Boykottes hier festzulegen. Bei Eröffnung der Steinhofer Kirche 1907 kam in Vertretung des Kaisers Erzherzog F[ranz] F[erdinand].⁹ Er würdigte mich auch einer Ansprache, der Schluß dieser Ansprache, nachdem ich ihm das Bauwerk erklärt hatte, war, daß er mir sagte: der Maria Theresienstil ist doch der schönste. Worauf ich replizierte, daß zur Zeit Maria Theresias die Kanonen verziert waren und jetzt sind sie glatt. Mit ungeheurem Hochmut wendete er sich von mir ab, und sein Haß verfolgte mich trotz mehrfacher Interventionen derart, daß ich eine Anzahl von Aufträgen verlor, für die ich in Aussicht genommen war: Österreichisch-Ungarische Bank, die jetzt der Jude Leopold Bauer¹⁰ in der talentlosesten Weise verbricht, Museum¹¹ etc., denn die Gemeinde hatte viel zu wenig Mut, sich den überaus gehässigen Machenschaften des Erzherzogs gegenüber zu stellen. Sein Tod war meiner Ansicht nach für Österreich ein großes Glück.

    Mittwoch, der 18. August 1915, war jener verhängnisvolle, unglückselige Tag, an welchem um ½ 7 Uhr abends Dr. Vojcsik¹² Erhärtungen in den Gedärmen meiner angebeteten Louiserl konstatierte. Ich erdachte zu dieser Bezeichnung sofort den richtigen Namen: Tumor – Krebs.

    Was ich in diesem Momente fühlte, dazu ist meine Feder zu schwach, es zu schildern. Aber es hatte sicher Ähnlichkeit mit einem Blitze, der mich nahezu tödlich traf. Da der Doktor eine Röntgenisierung meiner Frau beantragte und behauptete, er könne erst nach Vorlage derselben ein sicheres Urteil abgeben, so beruhigte ich mich wohl auf kurze Zeit. Aber gar bald stand das namenlose Unglück, das mich getroffen hatte, vor Geist und Seele.

    Donnerstag kam meine Tochter Luise und sagte, daß sie die Röntgenisierung der Mama durch Professor Holzknecht gar nicht abwarten wolle, sondern Sonntag mit Mama zu Dr. Foramitti gehen wollte. Dieser Besuch kam zustande; Foramitti machte sofort die Aufnahme und versprach Sonntag, den 22. August, um ½ 9 Uhr bei uns zu erscheinen.

    Sonntag vor dieser Zeit kam Vojcsik, und ich ersah aus seiner Miene, daß er mit mir bezüglich der Art der Krankheit Louisens einer Meinung sei. Ich beauftragte Vojcsik, Louisen betreffs der Krankheit die Wahrheit zu verheimlichen und während der Krankheitsdauer die Hoffnung auf Gesundung aufrecht zu [er]halten und von Sterben, Wartung durch eine Schwester, Empfang der letzten Ölung etc. unter keiner Bedingung zu sprechen oder irgend eine Bemerkung zu machen. Da Vojcsik auch meinen Zustand richtig erkannte, so besprach er sich wahrscheinlich beim Consilium, auch in mir noch Hoffnung aufrecht zu erhalten. Foramitti versprach, nächsten Sonntag zu kommen, um Louise neuerlich zu untersuchen. Ich habe aber aus dem Reden entnommen, daß Foramitti sogar der Ansicht ist, daß jede Operation vergeblich ist. Er wird Sonntag nochmals erscheinen und vielleicht eine Besichtigung operativ für den folgenden Tag anordnen, um zu konstatieren, daß jede Hilfe ausgeschlossen ist. Für mich beginnt nun ein Zustand, der überhaupt nicht zu schildern ist. Ich erinnerte mich an die Zeit, zu welcher meine angebetete Louise heuer und die Vorjahre in Karlsbad war und daß [ich] den kurzen Trennungsschmerz, welcher dadurch entstand, immer dadurch etwas milderte, daß ich meine Zuflucht zum Briefschreiben an Louise nahm und mich dadurch in einen Zustand versetzte, als ob ich mit ihr sprechen würde. Das ist der Grund, warum ich auch heute zur Feder greife, um mit Louisen auf diese Art zu sprechen und meinen Gedanken jene Spitze zu rauben, welche immer auf den Tod meiner Frau hindeutet und mir leider wiederholt die Besinnung raubt. Mein ganzes Denken, Fühlen und Leben ist, ich kann es ruhig behaupten – einfach vernichtet.

    Wie oft habe ich mir in letzter Zeit, wenn die Sorgen auf mich einstürmten, gesagt, mache dir nichts daraus, ertrage es ruhig. Ist es doch eine Kleinigkeit gegen das Glück, das dich täglich zu Hause erwartet. Wenn ich dann, zu Hause angelangt, in ihr liebes Antlitz blickte, ihr meinen Kummer mitgeteilt hatte, sie wußte immer Worte der Beruhigung oder der Abwehr zu finden. Wenn sie mir dann entgegen kam und mich bei der Haltestelle der Elektrischen¹³ erwartete, ich ihr einen Kuß gab und in ihr eingehängt den Weg nach Hause antrat, so war aller Kummer und Sorge weg, und mit innigster Dankbarkeit drückte ich sie an mich.

    Wenn ich seit diesem Unglückstage, diesem unglückseligen 18. August jetzt heimfahre und Louise ist nicht da, sie erwartet mich nicht, sie führt mich nicht mehr, so ergreift unsäglicher Schmerz meine Brust, und ich muß würgen, um auf der Straße nicht wie ein Schloßhund zu heulen. Fahre ich des Morgens in die Stadt, um mich mit Arbeit etwas zu betäuben, so kann mich dies wohl auf einige Augenblicke von meinen Leiden befreien, aber dafür werden diese täglich intensiver. Das Rauchen schmeckt mir kaum, beim Essen bringe ich den pappigen Geschmack nicht von der Zunge, der Schlaf ist schlecht, zum Teil durch meine liebe Frau gestört, zum Teil durch die furchtbare Erregung, in der ich mich befinde, hervorgerufen. Wenn ich um ½ 4 Uhr herausfahre, so verzehrt mich die Sehnsucht, sie wieder zu sehen, ich stürze auf

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