Lesereise Ungarn: Donaublick und Pusztatraum
Von Cornelius Hell
3.5/5
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Buchvorschau
Lesereise Ungarn - Cornelius Hell
Ungarn ist anders
Die vielen Gesichter des Landes
In den Jahrzehnten, seit ich Ungarn bereise, mache ich immer wieder die Erfahrung: Ungarn ist anders – oft faszinierend oder irritierend anders, als ich es mir vorgestellt habe, und in jedem Fall anders als seine Nachbarn. Als ich Ungarn in den siebziger Jahren erstmals besuchte und dann 1980 eine Woche in Budapest verbrachte, sprang mir sofort ins Auge: Ungarn unterschied sich von allen kommunistischen Ländern. Ein Visum war relativ einfach an der Grenze zu bekommen, und Bücher oder Schallplatten, die in der DDR oder der Tschechoslowakei nicht verkauft werden durften, konnte ich in Budapest ohne Schwierigkeiten finden; auch die sogenannte Versorgungslage war gut. Als ich dann im Sommer 1990 nach Ungarn kam, um – wie auch in den beiden Folgejahren – einige Wochen mit ungarischen Lehrerinnen und Lehrern zu arbeiten, war mir bald klar: Ungarn unterschied sich deutlich von anderen postkommunistischen Ländern. Zumindest die jüngere Generation war nicht nur in der Kleidung, sondern auch im Diskussionsverhalten oder in den Umgangsformen von gleichaltrigen »Westlern« nicht zu unterscheiden. Wie viel Unabhängigkeit in den Köpfen und wie viel offene Diskussion zumindest im privaten und halbprivaten Umfeld musste da in der späten Kádár-Ära doch möglich gewesen sein!
Dass Ungarn ganz anders ist, habe ich am intensivsten erfahren, als ich begann, die Sprache zu lernen. Nicht nur die Erfahrung mit modernen Sprachen, sondern auch meine Latein- und Griechischkenntnisse schienen plötzlich nichts mehr wert zu sein. Ungarisch bietet nicht nur beim Vokabular keine Anhaltspunkte, es funktioniert auch auf allen grammatikalischen Ebenen völlig anders als die indoeuropäischen Sprachen. Es ging mir ähnlich wie einem Freund, der nach monatelangem Ungarischstudium plötzlich beim Zappen in einer spanischen Nachrichtensendung landete und dabei feststellen musste, dass er in dieser Sprache, die er nie gelernt hatte, auf Anhieb mehr verstand als auf Ungarisch.
Als ich dann in den neunziger Jahren viel Zeit in einer ungarischen Familie verbrachte, erlebte ich, dass Ungarn sich auch im Medienkonsum von anderen europäischen Nationen unterscheidet: Während sich in den Jahren nach der Wende keine Boulevardzeitung erfolgreich etablieren konnte, prägt das allgegenwärtige Fernsehen den Alltag massiv – Ungarn ist, was die Mediennutzung betrifft, den USA am ähnlichsten.
Eine andere Überraschung war die bruchlose Identifizierung von Religion, Nation und Politik, zumindest im Katholizismus. Hatte ich schon als Kind gelernt, dass man die österreichische Bundeshymne bei staatlichen Feiern, jedoch nicht in der Kirche singt, erklingt die ungarische Nationalhymne voll Inbrunst in jeder katholischen Kirche – ihr Text ist ja auch ein Gebet. Und Priester politisieren in ihren Predigten völlig bedenkenlos. Viktor Orbán und seine Fidesz-Regierung mussten die Instrumentalisierung der Religion also nicht erfinden, sondern nur konsequent weiterentwickeln.
Bei meinen Aufenthalten in Siebenbürgen wurde mir klar, dass keine europäische Nation so viele Minderheiten außerhalb der Staatsgrenzen hat wie Ungarn. Eineinhalb Millionen – nicht sehr viel weniger als etwa Slowenien Einwohner hat – sind es allein in Rumänien. Dazu kommen noch ungarische Minderheiten in den Nachbarstaaten Slowakei, Ukraine, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich; in den wenigsten Fällen ist ihre Situation rechtlich befriedigend gelöst. Ohne dieses Faktum sind die ungarische Mentalität und viele Züge der Politik dieses Landes nicht zu verstehen – und verstehen sollte man sie auch dann, wenn man sie kritisiert.
In allen postkommunistischen Staaten gibt es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer der Wende, wozu in allen Fällen die alten Menschen gehören – ein Skandal, der EU-weit wie ein Naturgesetz hingenommen wird. Ungarn hatte in den achtziger Jahren einen der höchsten Lebensstandards im damaligen Ostblock und Anfang der neunziger Jahre die besten Wirtschaftsperspektiven; es wurde allgemein erwartet, Ungarn würde das erste »osteuropäische« Euro-Land werden. Doch seit mindestens einem Jahrzehnt – also nicht erst seit der internationalen Finanzkrise – geht es bergab: Die Wirtschaftsdaten sinken, die Obdachlosen werden mehr, ein immer größerer Prozentsatz der Bevölkerung rutscht unter die Armutsgrenze. Damit korrespondierend nehmen Antisemitismus und Roma-Feindlichkeit kontinuierlich zu.
Auch Blicke in Ungarns Geschichte haben mir immer wieder die Konturen eines überraschend anderen Landes gezeigt. Das beginnt schon damit, dass die Magyaren ursprünglich aus Asien stammen und sich erst im 9. Jahrhundert im Karpatenbecken niedergelassen haben. Kein anderes Volk der Habsburgermonarchie hat 1848 so heftig revoltiert und so viel dafür bezahlt wie die Ungarn, kein anderes hat so viel Eigenständigkeit erreicht und eine ähnliche Rolle in der Monarchie gespielt wie die Ungarn durch den sogenannten Ausgleich von 1867.
Auch im 20. Jahrhundert war Ungarn eine Ausnahme. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor es so viele Gebiete wie kein anderes Land in Europa. Eine Folge davon war: Im Unterschied zu fast all seinen Nachbarn (und vergleichbar wohl nur mit dem kroatischen Ustascha-Staat und der von Hitlers Gnaden existierenden Slowakei) kam in Ungarn in Gestalt der Pfeilkreuzler-Bewegung ein eigener, einheimischer Nationalsozialismus an die Macht und das Land war von Anfang des Zweiten Weltkriegs an mit Nazideutschland verbündet. Und das Kriegsende war besonders schrecklich: Die Schlacht um Budapest war einer der längsten und erbittertsten Kämpfe um eine Stadt – mit gutem Grund sprach man vom »Stalingrad an der Donau«.
Ein Jahrzehnt später war der Aufstand von 1956 in seiner Zeit im Ostblock beispiellos – erst 1968 kam es mit dem »Prager Frühling« zu einem vergleichbaren Vorgang. 1989 besiegelte das Land mit der Öffnung der Grenzen zu Österreich das Ende der DDR und schrieb als Vorreiter beim Fall des Eisernen Vorhangs Weltgeschichte. Ungarn war aber auch das einzige Land, in dem die »Wende« nicht durch Revolution erkämpft wurde, sondern (gleichsam in guter alter Tradition der Habsburgermonarchie) als Reform von oben kam – die Kommunistische Partei wandelte sich in eine sozialdemokratische.
Ungarn ist anders – manchmal auf bewundernswerte, manchmal auf erschreckende Weise. Und die Ungarn sind geradezu besessen von der Vorstellung, nur ein Ungar könne Ungarn verstehen – jede Kritik aus dem Ausland ist daher bis heute leichter instrumentalisierbar als anderswo. Das wäre so leicht zu kritisieren – wenn die Ungarn nur nicht allzu oft recht damit hätten. Oder kann man ihnen erklären, warum so zentrale und bestimmende Fakten ihrer jüngsten Geschichte wie Trianon (der Vertrag in diesem Pariser Vorort war für Ungarn weit schlimmer als Versailles für Deutschland) oder die Schlacht um Budapest nicht selbstverständliche Bestandteile wenigstens eines mitteleuropäischen Geschichtswissens und -bewusstseins sind?
Für mich ist das ungarische Anders-Sein eine produktive Irritation und ein Reiz, mich mit dem Land und seiner Kultur, seinen Menschen und Städten immer wieder zu beschäftigen. Vielleicht klingt da ja noch etwas nach von den ungarischen Liedern meiner Großmutter, die ich zwischen meinem vierten und siebten Lebensjahr gehört habe. Fremd und unverständlich ragten sie herein in mein Kindheitsdorf – wie ein mächtiges Manifest, dass das Hier und Jetzt nicht alles ist. Die Großmutter war blind, taub und halbseitig gelähmt, aber sie hatte noch ihre ungarischen Lieder. Arrogant soll sie gewesen sein und ein schwieriger Mensch – aber interessant und wahrscheinlich gerade durch ihre etwa fünfzehn Jahre in Ungarn so anders als die Dorfwelt, in die sie hatte zurückkehren müssen. Vielleicht hat es auch etwas mit ihr zu tun, dass ich nicht loskomme von meinem schwierigen und interessanten Nachbarland Ungarn.
Hauptstadt der Puszta und der Reformation
Besuche in Debrecen
Wäre ich in Debrecen zu Hause, würde ich auf der Stelle in die Reformierte Kirche eintreten. Schon beim ersten Betreten der Großkirche habe ich in seiner Innenarchitektur die bauliche Realisierung meiner Lebensauffassung gefunden: Schaut man nach vorne, sieht man, wenig verwunderlich, am Boden den Abendmahlstisch stehen; darüber befindet sich, wie in vielen reformierten Kirchen, die Kanzel – und über der Kanzel die Orgel. Rituale und Zeichenhandlungen als Basis der Lebensdeutung, wichtiger und eine Stufe höher das interpretierende und reflektierende Wort und über dem allem die wortlose Musik: Diese Hierarchie habe ich empfunden, bevor ich sie mir bewusst machte. Vielleicht ist mir der Katholizismus, in den ich hineinsozialisiert wurde, auch deswegen zunehmend fremd. Als ich dann noch das Glück hatte, eines der mittäglichen