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"Es gab nie einen schöneren März": 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang
"Es gab nie einen schöneren März": 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang
"Es gab nie einen schöneren März": 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang
eBook458 Seiten3 Stunden

"Es gab nie einen schöneren März": 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang

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Über dieses E-Book

Österreichs Schicksalstage 1938

Die dreißig Tage vom 11. Februar bis zum 12. März 1938 sind Tage der Sorge nach einem Geheimtreffen Adolf Hitlers mit dem österreichischen Kanzler Kurt von Schuschnigg, der Hoffnung auf ein Ende der ständestaatlichen Kanzlerdiktatur, der Trunkenheit eines ausgelassenen Faschings mit glanzvollen Bällen, der Freude über österreichische Erfolge bei Sportereignissen, der zaghaften Zeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Gerhard Jelinek beleuchtet Ereignisse auf Haupt- und Nebenschauplätzen in aller Welt und zeichnet das faszinierende Panorama einer Zeit im Crescendo: Hannah Reitsch startet in Berlin zum ersten Hallenflug mit einem Hubschrauber. Die russische Nordpol-Expedition wird von einer Eisscholle gerettet. Wien bangt um das Leben der Schauspiellegende Hugo Thimig. Im Spanischen Bürgerkrieg erringt General Franco einen Sieg. Österreichs Bundeskanzler Schuschnigg spricht vor dem Bundestag: "Bis in den Tod – Rot-weiß-rot." Der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler befiehlt am 10. März den Einmarsch.
Es sind dreißig Tage bis zum Untergang.

Mit zahlreichen Abbildungen
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Okt. 2017
ISBN9783903083776
"Es gab nie einen schöneren März": 1938. Dreißig Tage bis zum Untergang

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    Buchvorschau

    "Es gab nie einen schöneren März" - Gerhard Jelinek

    Freitag, 11. Februar 1938

    »Der Durchzug eines Tiefdruckgebiets über Skandinavien bringt nun wieder maritime Luft durch Nordwestwinde. Es regnet im Alpenvorland bei höheren Mittagstemperaturen. In den inneren Alpentälern fällt schon in mittleren Höhenlagen Schnee, in freien Lagen wehen kräftige westliche Wind. Im Alpenvorland hingegen bleibt die Temperatur auch nachts über Null.«

    Die alte »Reichsbrücke« über die Donau ist Geschichte. Im Laufe der vergangenen Winterwochen haben Bauarbeiter die letzten Reste abgetragen. Auf dem stadtseitigen Teil des Donauufers erinnert nichts mehr an die einstige »Kronprinz-Rudolph-Brücke«. Nur am Floridsdorfer Ufer sind noch einige Eisengerüste stehengeblieben. Mit Schneidbrennern zerlegen Arbeiter nun die eisernen Relikte im Überschwemmungsgebiet. Die Illustrierte Kronen Zeitung beobachtet die Abbrucharbeiten und berichtet darüber am 11. Februar 1938. »Ein Kran faßte das letzte Stückerl der ehemaligen Kronprinz-Rudolfsbrücke und verlud es auf ein Lastauto. Damit ist die Geschichte eines Wiener Wahrzeichens beendet worden. Die alte Reichsbrücke, einst ein vielbestauntes Wunderwerk der Technik, war im letzten Jahrzehnt namentlich zur schönen Sommerszeit eine Quelle des Mißvergnügens, Zehntausenden Badelustigen war sie ein gewaltiger Eisendorn im Auge. Stolz, kühn und frei ragt nun die Kettenkonstruktion der neuen Reichsbrücke zur Höhe und formt von nun an allein das Bild des donauseitig gelegenen Wien.«

    Der Bau der neuen Kettenbrücke über die Donau ist ein Prestigeprojekt des sogenannten »Ständestaats«. 1935 wird die Brücke mit einem Staatsakt in mittelalterlichem Gepränge eröffnet. Wiens »Stände« ziehen in historischen Kostümen über die Donau. Während das »rote Wien« mit dem Bau von »Gemeindebauten« sichtbare Zeichen der sozialdemokratischen Ideologie gesetzt hat, investiert die autoritäre Kanzlerdiktatur in Straßenprojekte zur Verbesserung der Infrastruktur und für staatlich gelenkte Beschäftigungsprogramme: Die Wiener Höhenstraße wird gebaut, mit der Elektrifizierung der Westbahn wird begonnen und die Großglockner Hochalpenstraße gilt als Symbol des österreichischen Selbstbehauptungswillens. Die neue »Reichsbrücke« wird in Rekordzeit errichtet.

    Technische Zweifel an der Konstruktion einer Hängebrücke werden beiseite geschoben. Am frühen Morgen des 1. August 1976 erzittert die Konstruktion. Die Stahlketten bersten. Binnen weniger Sekunden stürzt das »stolze, kühne und freie« Bauwerk in die Donau.

    Das österreichische Requiem beginnt mit einem Walzer. Rittmeister Elmayer von Vestenbrugg hebt die rechte Hand, in der er einen weißen Zwirnseide-Handschuhe hält: »Alles Walzer!« Die 125 Paare des Jungdamen- und Jungherrenkomitees drehen sich im Dreivierteltakt der gar nicht so heimlichen Wiener Hymne von Johann Strauß: »An der schönen blauen Donau«. Die Säle der Wiener Hofburg bieten – wie die Neue Freie Presse am folgenden Morgen berichten wird – »im Schein von 190 Scheinwerfern, unzähligen Flutlichtern und Soffitten einen märchenhaften Anblick«.

    Vor zwanzig Jahren ist in der einst kaiserlichen Hofburg die Monarchie zu Grabe getragen worden, beim »Ball der Front« im Februar 1938 scheint sie wieder auferstanden zu sein. Die Ballgesellschaft glänzt mit Ministern, Exzellenzen, Sektionschefs, Hofräten, Präsidialchefs, Generalsekretären, Stabschefs, Generalleutnanten, Generaldirektoren sonder Zahl, Präsidenten, Kommerzialräten, Regierungsräten, Adjutanten und Prinzen. Die Fürsten Pálffy, Trauttmansdorff, Montenuovo, Dietrichstein, Kinsky und Khevenhüller fächeln sich in ihren Logen im großen Festsaal Kühlung zu und parlieren mit den Prinzen von und zu Liechtenstein und Fürstenberg.

    Alles, wirklich alles, was Namen und vor allem Rang hat, ist zum »Fest der Front« erschienen. Auch die Diplomatie erweist dem Ball ihre Reverenz. Unter protokollarischer Führung des Schweizer Botschafters lässt sich kaum eine Gesandtschaft den Hofburg-Ball entgehen. Unerwähnt bleibt freilich, wer nicht gekommen ist: der diplomatische Vertreter des Deutschen Reichs.

    Die Innenstadt ist für die Ankunft der Ballbesucher weitgehend gesperrt. Schon zwei Stunden vor der eigentlichen Balleröffnung beginnt die Auffahrt der Wagen über den Michaelerplatz. Bald stauen sich die Ballgäste. Wachmannschaften der Wiener Polizei kontrollieren die großräumigen Absperrungen und lenken den Verkehr. Die Anfahrt zum Ballfest der »Vaterländischen Front« (»VF«) soll ohne Störung verlaufen. Der VF-Generalsekretär Guido Zernatto fürchtet im Vorfeld Störaktionen von Nationalsozialisten. Seine Konfidenten berichten ihm von geplanten »Lausbubenstreichen«. Böller und Stinkbomben sollen auf die illustren Gäste des Staatsballs der Kanzlerdiktatur geworfen, ein Kurzschluss in der Lichtleitung verursacht werden. »Es handelt sich um kleine Gruppen von Leuten, meistens Studenten, die ins Politische transponierte Bierulke für nationale Verdienste halten«, spottet Guido Zernatto.

    Doch nichts geschieht. Die illegalen Nazis bleiben in dieser Nacht in ihren heimlichen und doch bekannten Versammlungsräumen in der Vorstadt. Kein Zwischenfall stört die Anfahrt der Limousinen, die sich in einer Doppelreihe durch das Michaelertor und den Inneren Burghof bis zum Eingang in die Festsäle stauen. »Als Auftakt grüßt in feenhaftem Lichtschein die Burg, im Strahl vieler Tausender elektrischer Kerzen, über deren Fassade die grüne Patina der Kuppel in den Nachthimmel leuchtet. Sechzehn mittlere und vier Riesenscheinwerfer holen die feingliedrige Fassade mit 60 000 Watt aus dem Dunklen der Nacht.« Hinter dem äußeren Prunk kann die Ausgestaltung der Hofburg nicht nachstehen. 5000 Ballgäste brechen in »brausende Zurufe« aus, als der Frontführer und Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg in einer eigens dafür kreierten »schmucken Uniform« des Sturmkorps den Saal betritt. Ihm schreitet eine Ehrenwache von acht Sturmkorpsführern in Paradeuniform voran.

    Niemand im Saal ahnt, dass der österreichische Bundeskanzler kaum 48 Stunden später am Berghof oberhalb von Berchtesgaden mit dem deutschen Reichskanzler zwölf Stunden lang um die Unabhängigkeit des Landes ringen muss, dessen Eliten gerade in vollem Ordensschmuck durch die Nacht tanzen. Schuschnigg lächelt die Krise weg. Niemand hier darf ahnen, was hinter den Kulissen des Balls streng geheim verhandelt wird.

    Der schon abberufene deutsche Botschafter Franz von Papen ist wieder in Wien aufgetaucht. Er bringt eine »Einladung« des deutschen Reichskanzlers mit. In einem persönlichen Gespräch sollen alle Probleme zwischen dem »Reich« und Österreich angesprochen und gelöst werden. Von Papen lockt die österreichische Regierung. Hitler brauche nach der sogenannten »Wehrmachts-Krise« einen außenpolitischen Erfolg. Es gelte die Gunst der Stunde zu nützen. Wenige Männer sind eingeweiht. Schon vor der Reise nach Berchtesgaden will Schuschnigg zumindest ein »Minimal-Communiqué« verhandeln. Schuschnigg strebt eine ausdrückliche Bestätigung der österreichischen Unabhängigkeit durch den Reichskanzler an. Das sollte nicht unmöglich sein. Hitler hat sie ja bereits im Abkommen vom 11. Juli 1936 unterschrieben. Am Vorabend des Staatsballs informiert der Bundeskanzler seine engsten Vertrauten. VF-Generalsekretär Guido Zernatto holt den Bundeskanzler gegen 23 Uhr vom Ballhausplatz ab und fährt mit ihm ins Grand Hotel am Kärntner Ring. Während des reichlich späten Abendessens übergibt der Regierungschef seinem Staatssekretär für Äußeres, Guido Schmidt, einen handgeschriebenen kleinen Zettel. Er hat darauf seine Bedingungen fürs Treffen mit Hitler festgehalten. Schmidt soll sie am nächsten Tag mit dem deutschen Botschafter von Papen vereinbaren. Die Spannungen zwischen den Nationalsozialisten und Österreich sollen nach dem Treffen bei Hitler jedenfalls geringer, keineswegs größer werden. Von diesen Vorbedingungen wird danach keine Rede mehr sein.

    Zunächst aber: Alles Walzer. »Sein glanzvoller Verlauf war ein eindrucksvoller Beweis für die machtvolle Bedeutung der Vaterländischen Front nicht nur im politischen, sondern auch im gesellschaftlichen Leben des Neuen Österreich«, jubelt die längst auf Regierungslinie segelnde (und von Regierungsgeld abhängige) Neue Freie Presse. Und auch die noble Damenspende verdient Erwähnung: Eine kleine Füllfeder aus Elfenbein mit Goldfassung kann je nach Belieben in einem roten oder schwarzen Etui mit nach Hause genommen werden.

    Die Österreicherinnen und Österreicher tanzen und feiern im Fasching die politische Krise und die internationalen Spannungen weg. In Spanien kämpfen marxistische Republikaner einen aussichtslosen Kampf gegen die Truppen des General Franco. In China setzen japanische Armeen den brutalen und blutigen Eroberungsfeldzug fort. Italiener kämpfen in Abessinien für die Verwirklichung kolonialer Träume des Diktators Benito Mussolini, und in Nazi-Deutschland hat Adolf Hitler gerade die konservative Wehrmachtsspitze »weggeputscht« und selbst das Oberkommando übernommen. Aus der Ferne sieht einer klarer: Stefan Zweig lebt in London, noch ist er österreichischer Staatsbürger, also wohl gelittener Gast in einem zivilisierten Land, noch ist Zweig nicht staatenloser Flüchtling. Er spürt die Spannungen unter der prunkvoll ausstaffierten Oberfläche aus der Ferne besser. »Aber alle in Wien, die ich sprach, zeigten eine ehrliche Sorglosigkeit«, wird Zweig später in seinen Erinnerungen Die Welt von gestern schreiben. »Sie luden sich gegenseitig in Smoking und Frack zu Geselligkeiten (nichtsahnend, daß sie bald die Sträflingstracht der Konzentrationslager tragen würden), sie überfielen die Geschäfte mit Einkäufen für ihre schönen Häuser (nichtsahnend, daß man sie in wenigen Monaten später nehmen und plündern würde). Und diese ewige Sorglosigkeit des alten Wien, die ich vordem so geliebt und der ich mein ganzes Leben nachträume, diese Sorglosigkeit, sie tat mir zum ersten Mal weh.«

    Wären die Führer der »Vaterländischen Front« ein wenig weniger gläubig und dafür abergläubisch gewesen, dann hätte Bundeskanzler Schuschnigg die Reise nach Berchtesgaden nicht angetreten. Im Stadtpark bestaunen die Wiener Dutzende hübsche »Seidenschwänzchen«. Die putzigen Vögel haben sich aus dem skandinavischen Norden nach Wien verflogen. Alle paar Jahrzehnte registrieren Vogelkundler das ornithologische Phänomen. Schwärme dieser gefiederten Zuwanderer aus dem Norden lassen sich in den Wiener Parks auf den noch kahlen Bäumen nieder. Die bunten Sperlinge haben einen schlechten Ruf. Der Volksmund nennt das »Seidenschwänzchen« wenig possierlich »Pestvogel«. Sein Auftreten wird seit dem Mittelalter als böses Omen gedeutet. Aber: Wer glaubt schon an solche Geschichten?

    Samstag, 12. Februar 1938

    »Die Wetterlage ist wieder bedeutend unruhiger geworden. Der Nordteil der britischen Inseln wird bereits von neuen Meeresluftmassen kälterer Temperaturen beherrscht, die rasch gegen Osten Vordringen und Schauer mit sich bringen. Es ist daher mit veränderlichem Wetter und Schneefällen zu rechnen, bei weiterer Abkühlung und zunehmenden Nachtfrösten. Im Donautal wehte stürmischer West, in den Nordalpen schneite es bereits in mäßigen Höhenlagen. Wetteraussichten für Samstag: Veränderlich; zunächst noch Niederschläge in Schauern, allmählich abnehmende Bewölkung, in freien Lagen zeitweise stürmische nördliche Winde. In den Südalpen besseres, meist sonniges Wetter, fast überall Nachtfröste, tagsüber meist zwischen Null und +5 Grad.«

    Dr. med. Viktor Frankl hat wenig zu tun. Der Leiter der »Zeugnisberatungsstelle« in der Wiener Alserstraße 32 wird nach der Verteilung der Semesterzeugnisse am Samstag nur von drei ratsuchenden Eltern kontaktiert. Das ist ein gutes Zeichen. Das Kleine Blatt erinnert an eine tragische Entwicklung in den 1920er- und 1930er-Jahren: »Von Jahr zu Jahr steigerten sich früher die Fälle, in denen sich Schüler aus Angst vor der Strafe oder den Vorwürfen der Eltern irgendwelche Dummheiten zuschulden kommen ließen, ausrissen, oder sonst eine Kopflosigkeit begingen. Es haben sich daher wiederholt Eltern- und Lehrerschaft mit dem schwierigen Problem beschäftigt, wie man derartigen Unsinnigkeiten wirksam begegnen könnte.« Friedrich Torbergs Roman Der Schüler Gerber ist aus der autoritären Stimmung der Zeit entstanden.

    »Der Spätsommer war lau, und die Türe zum Klassenzimmer stand offen.« So beginnt Der Schüler Gerber hat absolviert, wie der Originaltitel des 1930 veröffentlichten Romans lautet, der zu einem Klassiker der deutschen Literaturgeschichte wird: Schüler Kurt Gerbers Kampf um die Matura und gegen den Mathematiklehrer »Gott Kupfer«. Das letzte Schuljahr ist für die Oktava angebrochen, der fast klischeehaft böse Lehrer Kupfer zum neuen Klassenvorstand geworden. Einer, der seine Macht genießt, der sich wirklich als Gott empfindet, wenn er seine Schüler vernichtet. Ein boshafter Mensch, »abgrundtief schlecht«, wie es im Roman heißt. Kurt Gerber wird kämpfen und verlieren, seine Niederlage wird durch zusätzliche Umstände erschwert: Seine Jugendliebe Lisa wird er nicht erobern, sein Vater erkrankt schwer. Am Ende stürzt sich Schüler Gerber aus dem Fenster, obwohl er »von der Prüfungskommission für reif erklärt worden war«. Das ist die letzte Zeile des Romans.

    Autobiografisch ist diese Abrechnung mit schulischen Machtstrukturen, aber auch angeregt von Zeitungsberichten über Schülerselbstmorde.

    Die Welt hätte am Samstag, den 12. Februar 1938, das Salzburger Volksblatt lesen sollen. Auf Seite 9 berichtet die Lokalzeitung unter dem Titel »Salzburg und Nachbarländer« in knappen zwei Zeilen: »Bundeskanzler Dr. Schuschnigg wird sich über das Wochenende zu einem kurzen Besuch nach Tirol begeben.«

    Es ist eine Kurzmeldung ohne besonderen Informationswert. Sie dient der Tarnung. Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg und sein Staatssekretär Guido Schmidt sind am späten Freitagabend vom Wiener Westbahnhof in einem Sonderwagen, der am fahrplanmäßigen Nachtschnellzug angekoppelt wurde, abgefahren und um 2 Uhr am Salzburger Bahnhof angekommen – vorgeblich auf dem Weg nach Tirol. Die Täuschungsaktion ist von Guido Zernatto geplant. Der VF-Generalsekretär hat auch die Nachricht an Wiener Zeitungen durchsickern lassen, der tschechoslowakische Ministerpräsident Milan Hodža halte sich in Kitzbühel zum Skifahren auf. Schuschnigg statte seinem Kollegen einen Höflichkeitsbesuch ab. Zernatto wird in der Wiener Zentrale der »Vaterländischen Front« am Hof bleiben. Beim Abschied der kleinen Reisegruppe auf dem Westbahnhof plaudert Zernatto mit Guido Schmidt: »Wie wird es gehen?« – »Sie haben die Aufgabe, einen klaren Erfolg mitzubringen.« – »Dafür kann ich mich nicht verbürgen.«

    Die Reisegesellschaft rattert in nachdenklicher Stimmung durch die Nacht. Ein eventuelles Gipfeltreffen am Berg wird schon seit Monaten diskutiert. Der deutsche Botschafter von Papen gilt als Urheber. Immer wieder sind seine Versuche versandet. Wien stellt Bedingungen, die vom Deutschen Reich nicht erfüllt werden. Schuschnigg will mit Hitler nur reden, wenn die österreichische Unabhängigkeit, wie sie im Abkommen vom Juli 1936 festgeschrieben worden ist, neuerlich bestätigt wird. Der deutsche Botschafter sichert diese Bedingung schließlich zu. Benito Mussolini rät den Österreichern, die Einladung anzunehmen, und auch die Westmächte, die längst im Vorfeld des Besuchs informiert sind, drängen zur Annahme der Einladung Hitlers. Der Kanzler bleibt skeptisch – und fährt doch.

    Guido Schmidt erinnert sich im Oktober 1945 in seinen Aufzeichnungen über meine Wirksamkeit und meine politische Einstellung an eine sarkastische Bemerkung Schuschniggs während der Zugfahrt: »Im Hinblick auf die Person des Gastgebers wäre es zweifellos nützlicher, an unserer Stelle Professor Wagner-Jauregg zu entsenden.« Julius Wagner-Jauregg hat 1927 den Medizin-Nobelpreis erhalten und ist der bekannteste Psychiater Österreichs.

    Der Sonderwagen wird nach sechsstündiger Fahrt auf dem Salzburger Bahnhof auf ein Abstellgleis rangiert. Gendarmen ziehen einen dünnen Kordon um den Waggon. Die Passagiere bleiben in ihren Abteilen. Es ist kalt. Es schneit. Der Regierungschef und die kleine Delegation ruhen im Zug. Erst gegen 10 Uhr fahren zwei Steyr-Dienstautomobile vor. Der Reichskanzler erwartet die Österreicher nicht vor 11 Uhr. Hitler ist Nachtmensch. Selten lässt er sich vor Mittag wecken.

    Bundeskanzler Schuschnigg steigt mit seinem Personaladjutanten Oberstleutnant Bartel, Staatssekretär Guido Schmidt und dem Kriminalbeamten Hamberger in den Wagen. Hofrat Edmund Weber, der jugendliche Leiter der Amtlichen Nachrichtenstelle (ANA), soll in Salzburg bleiben und nach Ende des Treffens mit Adolf Hitler die Zeitungen informieren, ein Kommuniqué texten. Auch Schuschniggs engster Mitarbeiter Viktor Baron Frölichsthal muss in Salzburg bleiben und für den Fall, dass der Bundeskanzler nicht bis 18 Uhr wieder in Salzburg eingetroffen wäre, »Vorkehrungen für den besonderen Fall« treffen. Dafür ist der frühere Fregattenkapitän Legationsrat Albert Peter-Pirkham dabei. Der bürgerliche Marineoffizier aus Wien hat 1919 während der Waffenstillstandsverhandlungen mit Jugoslawien in Graz den amerikanischen Oberstleutnant Sherman Miles in einem Gespräch unter vier Augen die dramatische Situation in Kärnten geschildert. Miles bereist im März 1919 mit einer kleinen US-Delegation die von Jugoslawien beanspruchten Kärntner Gebiete – und setzt danach die Volksabstimmung in Südkärnten durch.

    Schuschnigg ahnt wohl oder stellt es zumindest in Rechnung, dass Hitlers Verhalten gegenüber einem Staatsgast höchst undiplomatisch sein kann. Eine Verhaftung oder Verschleppung der Delegation wird nicht ausgeschlossen. Der Chauffeur des Kanzlers bringt die Morgenzeitungen ins Zugabteil. Das Kleine Volksblatt berichtet in Wort und Bild vom »Ball der Front«. Der Kanzler hat sich nicht amüsiert. Mit seinem Vertrauten Zernatto hat er sich am Rande des Ballgeschehens zurückgezogen und eine Marschroute für die Gespräche auf Hitlers Berghof besprochen. Vor den Augen Tausender Festgäste wähnt sich die Spitze des »Ständestaats« unbeobachtet.

    Die erstaunlich hellhörige Redaktion des Salzburger Volksblatts räsoniert über eine amtliche Ankündigung. Der frühere deutsche Reichskanzler und bis vor Kurzem deutsche Botschafter in Wien, Freiherr Franz von Papen, habe sich am Donnerstag nach Berchtesgaden zu Reichskanzler Hitler begeben. »Schon wieder? Er war doch erst acht Tage vorher dort gewesen!« Sollte es wahr sein, was auswärtige Blätter behaupten, dass Papen kurz nach dem 4. Februar von Hitler einen Sonderauftrag erhalten hat?

    Franz von Papen ist von seinem Diplomaten-Posten in Wien höchst unschicklich abberufen worden. Ein subalterner Beamter aus Berlin hat ihm telefonisch seine Enthebung mitgeteilt. Der Aristokrat und einstige Stellvertreter Hitlers in der Koalitionsregierung nach 1933 ist schockiert und persönlich betroffen. Von Papen verlässt seinen Wiener Posten weisungsgemäß binnen 24 Stunden, wenige Tage später taucht er aber wieder in Wien auf, vorgeblich, um privat Freunde zu treffen, dann fährt er wieder ins »Reich«, kommt ein weiteres Mal in die Donaumetropole, und wird nun vom »Führer« auf dessen Berghof beordert. Wer spielt hier welches Spiel?

    Bundeskanzler Schuschnigg und seine engsten Mitarbeiter wissen mehr. Am Samstagvormittag fährt der kleine Autokonvoi auf schneebedeckten Straßen um die fürsterzbischöfliche Stadt herum, am Flughafen vorbei über Grödig auf die Bundesstraße Richtung Berchtesgaden. Nach zwanzigminütiger Fahrt erreichen die Wagen die Grenze.

    Vor dem Schlagbaum der Zollstation am »Hangenden-Stein« wird der österreichische Kanzler von Botschafter Franz von Papen erwartet. Schuschnigg hält wenig vom Steigbügelhalter Hitlers. In Wien hat er jeden Umgang mit ihm vermieden. Der deutsche Diplomat ist guter Dinge. Adolf Hitler erwarte Schuschnigg und sei »bester Laune«. Der Herr Bundeskanzler würde wohl nichts dagegen haben, dass auch mehrere Generäle am Berghof zugegen seien?

    Schon kurz hinter der Grenze fallen den Österreichern Truppen auf. Panzer und Maschinengewehrstellungen sind in Straßennähe postiert. Über dem schneegrauen Himmel ziehen dunkle Bombergeschwader wie Krähenschwärme. »Nur Routinemanöver« seien das, beruhigt die deutsche Eskorte. Noch ein Mann ist aus Wien in die Bergwelt angereist: Kajetan »Kai« Mühlmann. Der Kunsthistoriker gehört zum engeren Kreis um den Wiener Rechtsanwalt Arthur Seyß-Inquart, den nationalsozialistischen Vertrauensmann der Berliner Regierung. Offiziell will Mühlmann Skifahren gehen. Tatsächlich ist der Vertraute von Staatsrat Seyß-Inquart als »völkischer Beobachter« in Berchtesgaden. VF-General-sekretär Guido Zernatto ist über den Ausflug des Nationalsozialisten informiert. Er gibt ihm gute Wünsche mit: »Schau, dass du etwas ausrichtest.« Mühlmann logiert im Grand Hotel von Berchtesgaden und wartet auf Abruf. Tatsächlich wird er im Laufe des Tages auf den Obersalzberg beordert, taucht aber bei den Verhandlungen nicht auf. Ein Mann im Schatten.

    4 km vor Berchtesgaden biegen die Wagen nach links über eine Brücke auf die Straße zum Obersalzberg ein und müssen bald anhalten. Die Zufahrt zu Hitlers Berghof ist schneebedeckt. Schuschnigg und seine Begleiter steigen in einen wartenden Raupenschlepper um. Die Landschaft ruht unter einer dicken Neuschneedecke. Die Niederschläge haben aufgehört. Der mythenumrankte Untersberg versteckt sein Haupt hinter dunklen Wolken. Die Schneeraupe rattert mit den Staatsgästen über die engen und steilen Kehren an weitläufigen Kasernenbaracken vorbei. Aus den Fenstern starren neugierige Uniformierte. An der ersten Gitterabsperrung grüßt ein Posten. Nach zehn Minuten Fahrt wird Hitlers Berghof am Hang sichtbar. Im ehemaligen Haus Wachenfeld hat sich der NSDAP-Führer seit dem Herbst 1928 eingemietet. Seine Halbschwester Angela Raubal führt ihm den Haushalt. Hitler kauft die kleine Bergvilla im Hintereck Nr. 2 vor seiner Ernennung zum Reichskanzler um stattliche 40 000 Goldmark und lässt das Haus zum »Berghof« umbauen. Durchschnittlich 120 Tage pro Jahr verbringt der Reichskanzler fern der Hauptstadt Berlin in den Alpen. Der Obersalzberg wird zur zweiten Regierungszentrale. Der beschauliche Fremdenverkehrsort ist zur Festung ausgebaut. Wer im NS-Staat Rang und Namen hat, lässt sich in der Nähe des »Führers« ein Landhaus bauen. Die lokalen Haus- und Grundeigentümer werden zum Verkauf genötigt. Wer sich weigert, seinen Besitz zu verlassen, wird bedroht.

    Die österreichischen Gäste müssen die Steintreppe zur Terrasse des Berghofs hinaufgehen. Der Reichskanzler empfängt Schuschnigg und seinen Staatssekretär Guido Schmidt flankiert von drei martialisch ausstaffierten Generälen vor der Alpenvilla. Hitler trägt einen braunen SA-Rock mit Hakenkreuzbinde und schwarze Hosen. Schon der Empfang macht klar: Hitler wird auf diplomatische Höflichkeit verzichten.

    Eine andere Version der gleichen Szene wird später von Guido Zernatto in seinen Erinnerungen festgehalten. Sie kann nur auf Erzählungen des Bundeskanzlers beruhen, unterscheidet sich aber deutlich von Schuschniggs Memoiren. Hat der Bundeskanzler die Begegnung mit Hitler absichtlich anders dargestellt, weil ihm die Szenerie zu beschämend erschien? In Zernattos Leseart werden die Staatsgäste jedenfalls nicht von Hitler empfangen. Ihnen wird mitgeteilt, der »Führer« sei noch in einer wichtigen Besprechung mit den drei eigens herbeibefohlenen Wehrmachts-Generälen. Der österreichische Bundeskanzler muss warten. Wie bei einem Arztbesuch führt man Kurt von Schuschnigg und Guido Schmidt in einen Vorraum, lässt die Herren allein. Der nächste Affront.

    Hitlers Berghof bei Berchtesgaden im Jahr 1938

    Am Tag danach soll sich Bundespräsident Wilhelm Miklas gegenüber einem Zeitungsjournalisten so äußern: »Eine merkwürdige Situation. Sie können sich vorstellen, welche Gefühle der Kanzler haben musste.« Kurt von Schuschnigg stellt seine schwarze Aktentasche auf einen Beistelltisch. Dort liegen Generalstabskarten aufgeschlagen. Auch für militärische Laien, und Schuschnigg ist immerhin Offizier in der k. u. k. Armee gewesen, ist auf den ersten Blick klar: Es sind Aufmarschpläne der deutschen Wehrmacht gegen Österreich.

    Nach dem Affront folgt die Drohung. Und Hitler hat noch nicht einmal gesprochen. Österreichs Bundeskanzler trägt in seiner Aktentasche die penibel aufbereiteten Beweisstücke eines Umsturzplans der Nazis gegen Österreich bei sich. Er will Adolf Hitler damit konfrontieren. Diese geheimen Unterlagen, sie werden »Tavs-Plan« genannt, sind der österreichischen Polizei bei einer Untersuchung von Büros in der Wiener Teinfaltstraße hinterm Burgtheater in die Hände gefallen. Sie beweisen, dass Österreichs illegale Nationalsozialisten entgegen den Vereinbarungen vom Juli 1936 einen Staatsstreich inszenieren wollen. Die Papiere in des Kanzlers Akten sind praktisch ident mit den am Tisch liegenden Aufmarschplänen. Der Nazi-Führer wird von Schuschniggs Enthüllungen kaum überrascht werden können.

    Die zwei Herren aus Wien haben lange Zeit, verstohlen die Unterlagen zu studieren. Eine Dreiviertelstunde lässt Hitler die Gäste warten, ehe er erscheint und Schuschnigg in sein Arbeitszimmer im ersten Stock bittet.

    In den 1947 gedruckten Erinnerungen des Bundeskanzlers fehlt diese Episode. Demnach empfängt Hitler seinen Gast und bittet ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Schuschnigg beginnt die Konversation artig: »Dieser wundervoll gelegene Raum ist wohl schon der Schauplatz manch entscheidender Besprechung gewesen, Herr Reichskanzler.« – »Ja, hier reifen meine Gedanken, aber wir sind ja nicht zusammengekommen, um von der schönen Aussicht und dem Wetter zu reden.« Hitler verschwendet keine Zeit für höfliche Floskeln. Unter vier Augen greift der Reichskanzler sofort an. »Österreich hat überhaupt nie etwas getan, was dem deutschen Reich genützt hat. Seine ganze Geschichte ist ein ununterbrochener Volksverrat. Das war früher nicht anders als heute. Aber dieser geschichtliche Widersinn muß endlich sein längst fälliges Ende finden. Und das sage ich Ihnen, Herr Schuschnigg, ich bin fest dazu entschlossen, mit dem allen ein Ende zu machen. Das Deutsche Reich ist eine Großmacht, und es kann und wird ihm niemand dreinreden wollen, wenn es an seinen Grenzen Ordnung macht.«

    Schuschnigg hält dagegen, spricht Hitler immer mit »Herr Reichskanzler« an, während dieser mit »Herr Schuschnigg« antwortet. Es sind keine politischen Verhandlungen. Es ist der Zusammenprall von zwei Geschichtsbildern, das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Charaktere. Hie der tiefgläubige, katholische, intellektuelle Jesuitenschüler, der im Herzen von einer Wiedererrichtung der Habsburgermonarchie träumt, und da ein gescheiterter Postkartenmaler, verhinderter Künstler, deutsch-tümelnder Antisemit, der von Hass auf die österreichische Geschichte, von Ablehnung gegenüber der Habsburgermonarchie getrieben ist. Schuschnigg versucht dem Braunauer etwas von der Idee eines übernationalen Österreichs zu vermitteln. »Für uns Österreicher ist die ganze eigene Geschichte ein sehr wesentliches und wertvolles Stück deutscher Geschichte gewesen, das sich aus dem gesamtdeutschen Bild nicht wegdenken lässt. Die österreichische nationale Leistung ist sehr beträchtlich.«

    Hitler geht auf Argumente nicht ein. Er redet sich in Rage, spricht von seinem »geschichtlichen Auftrag« und der »Vorsehung«. »Herr Schuschnigg, ich bin den schwersten Weg gegangen, den je ein Deutscher gehen musste, und ich habe in der deutschen Geschichte das Größte geleistet, was je einem Deutschen zu leisten bestimmt war. Ich bin getragen von der Liebe meines Volkes.« Was kann Schuschnigg auf so eine Anmaßung erwidern? Wenig: »Das glaube ich Ihnen ja gern, Herr Reichskanzler!«

    Fast zwei Stunden wütet Adolf Hitler: »Ich brauche nur einen Befehl zu geben, und über Nacht ist der ganze lächerliche Spuk an der Grenze zerstoben. Sie werden doch nicht glauben, dass Sie mich auch nur eine halbe Stunde aufhalten können? Wer weiß – vielleicht bin ich über Nacht auf einmal in Wien; wie der Frühlingssturm! Dann sollen Sie etwas erleben! Ich möchte es den Österreichern gern ersparen; das wird viele Opfer kosten; nach den Truppen kommen die SA und die Legion; und niemand wird die Rache hindern können, auch ich nicht! Als Führer aller Deutschen, nicht nur der Deutschen im Reich, werde ich es nicht zulassen, dass deutsches Blut in Österreich vergossen wird. Wenn Sie Widerstand leisten, kann ich meine Parteikameraden in Österreich nicht mehr zurückhalten. Die Panzereinheiten stehen schon bereit. Und ich kann Ihnen eines versichern: Niemand wird Ihnen zu Hilfe kommen. Die Engländer nicht, die Franzosen nicht und die Italiener mit Sicherheit auch nicht.«

    Immerhin, mit dieser Feststellung hat Hitler recht. Die Regierung in London versucht alles, um Nazi-Deutschland durch Konzessionen zu beschwichtigen, hat Österreich unter der Hand längst aufgegeben. In Paris gibt es keine handlungsfähige Regierung. Und der faschistische »Duce« Benito Mussolini, der seit 1933 Italien als »Schutzmacht« für Mitteleuropa positioniert hat, ist machtlos. Er braucht die außenpolitische Unterstützung Deutschlands. Seine imperialen Pläne von Spanien über Libyen bis zum Krieg gegen Abessinien haben Italiens Kräfte längst überdehnt.

    Das eher einseitige Gespräch wird nach zwei Stunden für ein spätes Frühstück unterbrochen. Schuschnigg ist ein starker Raucher, er braucht den Griff zur Zigarette, den ihm Hitler verwehrt hat. Der Reichskanzler setzt seinen Gast aus Wien unter Zeitdruck. »Überlegen Sie es sich gut, Herr Schuschnigg. Ich habe nur mehr Zeit bis heute Nachmittag. Ich bluffe nicht. Meine ganze Vergangenheit beweist dies zur Genüge. Ich habe noch alles erreicht, was ich wollte, und bin vielleicht dadurch zum größten Deutschen der Geschichte geworden.« Immerhin zeigt sich der »größte Deutsche« aus Braunau gegenüber dem Wiener Kanzler großzügig. Würde Schuschnigg Hitlers Forderungen zustimmen, dann böte sich die einmalige Gelegenheit, »Ihren Namen in die Reihe der großen Deutschen einzufügen«.

    Hitler hasst Schuschnigg. Der österreichische Kanzler hat es gewagt, dem deutschen Reichskanzler öffentlich zu widersprechen. Anfang des Jahres hat der englische Daily Telegraph ein – freilich schon 1936 gegebenes – Interview mit Schuschnigg veröffentlicht, der darin Nationalsozialismus mit Kommunismus gleichsetzt. »Ein politischer Abgrund trennt Österreich vom Nazismus. Deshalb kann auch niemals ein Nazivertreter in die Regierung aufgenommen werden. Wir stützen keine Willkürmacht … Es ist reine Dummheit, zu proklamieren, dass etwas tausend Jahre dauere.« Joseph Goebbels tobt in der Glossenkonferenz. »Das ist ein unerhörtes Interview«, echot er Hitlers Zorn. Die gleichgeschalteten deutschen Medien werden angewiesen, nicht darüber zu berichten.

    In Wien trifft Guido Zernatto unterdessen organisatorische Vorkehrungen für die geplante weitere Eingliederung von Nationalsozialisten in die »Vaterländische Front«. In der Zentrale dieser »Staatspartei« Am Hof versammeln sich die sogenannten »Volkspolitischen Referenten«. Es sind »nationale Kräfte«, also mehr oder minder bekennende Nazis, die ihre Forderungen auf den Tisch legen. Die am Vortrag mit Seyß-Inquart vereinbarten Maßnahmen gehen ihnen nicht weit genug. Die Dämme beginnen zu brechen. Zernatto platzt in die Sitzung und spielt einen vermeintlichen Trumpf aus. Schuschnigg verhandle zur Stunde mit Adolf Hitler. Die kaum noch getarnten NS-Funktionäre sind überrascht. Diskutieren macht jetzt keinen Sinn mehr. »Die Herren gingen erregt auseinander«, erinnert sich Zernatto.

    Der Reichskanzler drückt aufs Klingelbrett, die großen Flügeltüren werden von außen geöffnet und die beiden Herren begeben sich ins Erdgeschoß in den mit Zirbenholz getäfelten Speisesaal. Junge SS-Männer servieren in weißer »Stewardjacke«. Immerhin wird den Staatsgästen nicht Hitlers vegetarische Diät zugemutet. Der »Führer« mit Ernährungsspleen lässt sich bei Tisch gern als Aperitif »Kirschensaft mit Leinsamenschleim« servieren. Auch die anschließende Dinkelsuppe und der »römische Griess« mit

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