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Neue Zeit 1919: Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen
Neue Zeit 1919: Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen
Neue Zeit 1919: Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen
eBook436 Seiten3 Stunden

Neue Zeit 1919: Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen

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Über dieses E-Book

Ende oder Anfang?

"Die neue Zeit beginnt 1919 unter schlechten Vorzeichen. (…) Kein Krieg mehr, aber auch noch kein Friede. Ein Staat schon, aber ohne Freiheit. Eine Notgemeinschaft, aber keine Nation. Ein Land ohne feste Grenzen."
So steht es um die junge Republik Österreich in den ersten Monaten ihres Bestehens. Gerhard Jelinek schildert in leuchtenden Farben ein Jahr zwischen Zuversicht und Ungewissheit, Freude und Leid, Hoffnung und Entsetzen.

Aus dem Inhalt:
•1. Jänner: Arthur Schnitzler begrüßt das neue Jahr mit einem "Pferderlspiel"
•23. Jänner: Karl Renner gibt einer amerikanischen Journalistin ein Interview
•16. Februar: Bei den ersten Wahlen in der Republik dürfen 1,9 Millionen Frauen mitentscheiden
•25. Februar: Der Ottakringer Telepath Erik Jan Hanussen löst Kriminalfälle
•23. März: Der ehemalige Kaiser Karl reist ins Schweizer Exil
•17. April: Am Gründonnerstag scheitert ein bolschewistischer Putschversuch
•4. Mai: Mit der Gemeinderatswahl beginnt die Epoche des "Roten Wien"
•3. Juni: In St. Germain werden die Friedensbedingungen bekannt
•6. September: Die Nationalversammlung stimmt dem Friedensvertrag zu
•10. Oktober: Die Uraufführung der "Frau ohne Schatten" ist das kulturelle Ergeignis der Republik
u. v. m.

Mit zahlreichen Abbildungen
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. März 2019
ISBN9783903217362
Neue Zeit 1919: Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen

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    Buchvorschau

    Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek

    1. Jänner 1919

    »Die Stimmung war ganz leidlich«

    Arthur Schnitzler begrüßt das neue Jahr mit einem »Pferderlspiel«

    Am Silvesterabend 1918 versammelt sich eine kleine Gästeschar im Hause von Arthur und Olga Schnitzler. Der Pianist Wilhelm Grosz untermalt den Abend »famos« am Klavier. Schnitzler arbeitet gerade an seiner Novelle Der Gang zum Weiher und er kommt nur mäßig voran. »Geht’s in dem Tempo brauche ich sechs Jahre«, vertraut der Dichter am letzten Tag des Jahres seinem Tagebuch an. Felix Salten schaut mit seiner Frau vorbei und plaudert über den früheren Außenminister Czernin, er »sprach Politik«. Schnitzler bleibt in seinem Tagebuch unbestimmt, lakonisch, seltsam uninteressiert. Die Familie des Industriellen Hugo Schmidl ist mit ihrer Tochter Johanna (Hansi) und dem Verlobten Karl Kirsch erschienen. Die beiden werden im kommenden Jahr heiraten. Herr Schmidl organisiert die Bürgerwehr in Währing und nimmt die Meldung des Schriftstellers entgegen. Dafür bringt er Schnitzler eine Zigarre mit. In kargen Friedenszeiten wie diesen ist so ein Geschenk eine Erwähnung wert. Am frühen Abend wird gespielt – nicht mehr Roulette, wie noch in der Silvesternacht des Jahres 1914, es bleibt ein vergleichsweise harmloses »Pferderlspiel«. Elisabeth von Landesberger (Lili) darf würfeln. »Die Stimmung war ganz leidlich.«

    Der letzte Finanzminister der kaiserlichen Regierung, Josef Redlich, verbringt die Nacht aufs Jahr 1919 plaudernd mit seinem »geliebten Sohn« und einer Flasche altem Mouton Rothschild. Der Rotwein tröstet ihn, den peniblen Biografen der Schicksalsjahre Österreichs, über Vergangenes und über Verzweifelndes hinweg: »Soll ich einen Rückblick auf dieses Jahr der Vollendung des Unglücks halten, des Unheils, das beispiellose Unfähigkeit, Dummheit und Schlechtigkeit herbeigeführt hat?« Er tut es nicht. Er hebt das Glas.

    Der Schriftsteller Arthur Schnitzler meldet sich in der Silvesternacht zur Währinger Bürgerwehr. Sein erster »Sold« ist eine Zigarre.

    Im nahen und doch plötzlich fernen München verläuft der Jahreswechsel im Hause von Thomas Mann eher besinnlich. Immerhin gibt es Punsch, wenn auch keinen Mouton Rothschild. »Es wurde der Baum wieder angezündet. Die Kinder warteten das Herunterbrennen der Kerzen ab und kamen spät ins Bett.« Thomas Mann begeht den Jahreswechsel mit literarischer Kost. Er liest Leo Tolstoi – und mit Bezug auf die politische Lage im revolutionären München vertraut er seinem Tagebuch an: »Es wird wieder geschossen.«

    Der Autor der Buddenbrooks sorgt sich ums Familienvermögen. »Lese seit dem 1. Jänner wieder die Frankfurter Zeitung. Gespräche über die bevorstehende ›Abgabe‹ des Kriegsgewinns, die Vermögens-Abgabe etc.« Thomas Mann überlegt, was er mit seinem Ersparten anfangen soll. Ein gewiefter Geschäftsmann habe geraten, man solle Anschaffungen machen, soweit nur die Wünsche reichen. »Gut, ich wünsche mir einen Phonola-Apparat«. Thomas Mann hadert mit der Weltpolitik, kokettiert gar mit bolschewistischen Revolutionsideen: »Das wäre vielleicht weniger wahnsinnig, als unsere Bürgerlichkeit tut.« Und der Schriftsteller propagiert die »Dolchstoß-Legende« der deutschen Militärführung. Schuld an der Niederlage sei die »voreilige deutsche Revolution« gewesen. Die politische Urteilsfähigkeit des Autors ist am Beginn des Jahres 1919 nicht sehr scharf.

    5. Jänner 1919

    »Gott, deine starke Faust stürzt das Gebäude der Lüge«

    Vor der Wiener Karlskirche wird der Kriegshelden gedacht

    Die alten Töne sind noch nicht verklungen. Am Sonntag lädt der »Zentralverband der deutschösterreichischen Militärgagisten (Militärbeamte, Anm.) und der deutschösterreichischen Volkswehr« gemeinsam zu einer »deutschösterreichischen Kriegergedächtnisfeier« auf den Wiener Karlsplatz. Die Militärmusik ist sang- und klanglos zur sozialdemokratischen Volkswehr übergelaufen und stimmt zu Beginn der Feier Carl Maria von Webers Gebet vor der Schlacht an. Zur getragenen Musik wird der »im Weltkrieg gefallenen Helden« gedacht: »Hör uns, Allmächtiger! / Hör uns, Allgütiger! / Himmlischer Führer der Schlachten. / Vater, dich preisen wir! / Vater, wir danken dir, / Daß wir zur Freiheit erwachten! / Wie auch die Hölle braust, / Gott, deine starke Faust / Stürzt das Gebäude der Lüge. / Führ’ uns, dreieiniger Gott, / Führ’ uns zur Schlacht und zum Siege!«

    Zehntausende sind zur imposanten Feier erschienen. »Und soweit das Auge reichte, sah es vom Platze vor der herrlichen Kirche Massenzüge von Teilnehmern zur Feier strömen. Sie stellten sich auf dem Karlsplatze unter der Freitreppe der Kirche bis zur Stadtbahnstation und rechts und links weit bis zum Schwarzenbergplatz und der Technik auf. Volkswehrmannschaft und Matrosen versahen den Ordnerdienst und bildeten Spalier.«

    Aus den Vorstadtbezirken sind organisierte Marschkolonnen von Witwen und Waisen zum Karlsplatz marschiert. Eine Fotografie zeigt den Zug der Favoritner Kriegswaisenkinder, die mit einer Standarte vorbeiziehen. In den ersten Reihen der Versammlung stehen verwundete Soldaten mit ihren Tapferkeitsauszeichnungen. Erhöht sitzt die Prominenz: Staatspräsident Karl Seitz neben Fürsterzbischof Friedrich Gustav Kardinal Dr. Piffl, der Staatssekretär für das Heerwesen Dr. Mayer neben dem 184. Maria-Theresien-Ritter Oberst Johann Haas von Hagenfels. Der k. u. k. Offizier hat sich nach Gründung der Republik in den Dienst des neuen Staats gestellt und ein Kommando in der Volkswehr übernommen. Er wird dafür zum Generalmayor befördert.

    Für die junge Republik ist ein Maria-Theresien-Ritter in ihrem Sold ein wichtiges Aushängeschild und ein Signal an die etwa 16 000 Berufsmilitärs, die nach Auflösung der kaiserlichen Armee für die Republik Deutschösterreich optiert haben.

    Am Ende des Krieges stehen etwa 34 000 Offiziere und Beamte auf der Soldliste. Noch am 1. Jänner 1919 werden etwa 300 Generäle gezählt und zwangspensioniert. Nach dem Waffenstillstand sind sie überflüssig geworden. Generell schlägt den Offizieren vielfach Zorn und Verachtung der Bevölkerung entgegen. Das wiederum führt bei zahlreichen Offizieren zur Reaktion, es würde ihnen himmelschreiendes Unrecht geschehen. Der Frust über den verlorenen Krieg, die Not der Bevölkerung »im Hinterland« und das Leid der Kriegswitwen brauchen aber ein Ventil.

    Der Statusverlust und der Verlust ihrer Lebensgrundlage zwingen viele Offiziere, eine neue Betätigung zu suchen. Eine Heerschar erwartet den Dank des Vaterlandes, der aber ausbleibt. So flüchten viele in die nostalgische Beschwörung der Vergangenheit, aber auch in politisches Engagement, das sich vielfach gegen die junge Republik richtet. Nur ein Sechstel der Offiziere wird in die Volkswehr übernommen. Der überwiegende Teil des alten k. u. k. Offizierskorps sieht die scheinbar revolutionäre Volkswehr nach der Auflösung der alten Armee als Verrat an ihren Prinzipien.

    Für die sozialdemokratisch geführte provisorische Regierung ist die Volkswehr ein Auffangbecken für Kriegsheimkehrer, die über Jahre nur in der Struktur einer Armee überlebt haben. Sie bietet vorläufig eine Art Heimat für die Heimatlosen. Und in einer vorgeblich revolutionären Bewegung kann die ungezügelte revolutionäre Dynamik kanalisiert und abgeschwächt werden. Und vor allem: Als Versorgungsanstalt hilft die Volkswehr, dass viele Heimkehrer einfach über den kalten ersten Friedenswinter kommen. Die »deutschösterreichische Kriegergedächtnisfeier« soll emotionale Wärme vermitteln und Verbitterung in Trauer umwandeln. Für die Volkswehr spricht ein Dr. Neubauer: »Euch, Kameraden, die Ihr nimmer unter den Lebenden weilt, im Namen aller, die Träger unserer Gesinnung sind, geloben wir feierlich, nimmer zu ruhen, bis wir das hohe Ziel erreicht haben. Die Befreiung der Menschheit, den Sozialismus.« Dann singt der Wiener Männergesangsverein Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre von Ludwig van Beethoven und schließlich Mozarts Bundeslied. Das Freimaurerlied mit der Textzeile »Brüder reicht die Hand zum Bunde« wird freilich erst Jahrzehnte später zur Melodie der Österreichischen Bundeshymne.

    9. Jänner 1919

    »Her damit! Knüpfen wir sie einfach auf«

    Gewalttätige Demonstrationen und Plünderungen

    Not macht gewalttätig. Im Jänner 1919 entlädt sich der Zorn über die schlechte Versorgungslage in gewalttätigen Demonstrationen und Plünderungen. In Oberösterreich kommt es zur Konfrontation der Volkswehr mit den regulären Sicherheitskräften. Volkswehrsoldaten greifen auf Seiten der Demonstranten und Plünderer ein und schießen auf Gendarmen, die ebenfalls von der Schusswaffe Gebrauch machen. Der Zorn von entlassenen Soldaten und anderen richtet sich gegen wohlhabende Bauern, vor allem aber gegen die katholische Kirche. Den Geistlichen wird unterstellt, Lebensmittel zu horten und die Bevölkerung hungern zu lassen. Am 9. und 10. Jänner plündern Demonstranten den Pfarrhof in Steyr und den Gutshof in Gleink. Es kommt zu einer regelrechten Straßenschlacht, ein Arbeiter und ein Gendarm sterben bei der Schießerei. Die Ernährungslage ist nicht nur in den größeren Städten besorgniserregend. In Tirol entsteht ein Engpass durch die neue Brenner-Grenze: Nordtirol ist auf die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem Südteil des Landes und aus Bayern angewiesen. Die Nordtiroler Landwirtschaft kann die Menschen nicht ernähren. Aus Südtirol kommen kein Wein, keine Äpfel, kein Gemüse mehr nach Norden, Bayern fällt als Kartoffellieferant aus. Wer sich nicht selbst als Bauer oder als Kleinhäusler versorgen kann, ist auf Hungerrationen angewiesen. Pro Woche erhält jeder Tiroler 14 Dekagramm Reis, 36 Dekagramm Mehl und ein Viertelkilo Brotmehl.

    Die Städte hungern. Viele Bauern weigern sich, zu den festgesetzten Preisen Nahrungsmittel zu liefern. Der »Ablieferungswiderstand« provoziert Demonstrationen und auch Plünderungen. Appelle helfen wenig.

    Nicht nur in Tirol weigern sich die Bauern, die von den Behörden geforderten Mengen Fleisch und Gemüse zu Fixpreisen in die Städte zu liefern. Auf dem Schwarzmarkt können die Schleichhändler ein Vielfaches der staatlich verordneten Lebensmittelpreise bekommen. Im Winter 1919 erreicht der »Ablieferungswiderstand« der Bauern neue Höhepunkte. Auch in Salzburg ist die Lage nicht viel besser. Anfang Februar erhält die Stadt Salzburg statt der notwendigen 140 Rinder gerade einmal drei Stück Schlachtvieh. Die politische Debatte heizt sich auf. Bauern werden zum Feindbild der städtischen – großteils proletarischen – Bevölkerung. Der Sozialdemokrat Karl Emminger ruft im Salzburger Landtag zur Gewalt gegen die bäuerliche Bevölkerung auf: »Ein Gewaltmensch bin ich nicht, ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber wenn wir Menschen finden, welche ihre Brüder verhungern lassen, dann sage ich: Her damit! Knüpfen wir sie einfach auf.«

    Zu Gewaltexzessen gegen Menschen kommt es nicht. Doch vier Wochen nach den Plünderungen in Steyr demonstrieren in Linz Hilfsarbeiter, Mägde, Taglöhner und Lehrlinge gegen die geringen Fleischrationen. Ein Hotel und zahlreiche Lebensmittelgeschäfte werden geplündert, Kleiderläden und Juweliere ausgeraubt. Die Demonstranten können nach zwei Tagen nur durch den Einsatz der Volkswehr und der Linzer Polizei gestoppt werden. Es wird sogar das allgemeine Standrecht verhängt. Das Linzer Volksblatt schämt sich der Vorgänge und macht »Aufwiegler« für die Plünderungen verantwortlich: »Die noch immer steigende Not und Teuerung sowie die um sich greifende Arbeitslosigkeit, die zum Teil auch Arbeitsscheu ist, führte gestern in Linz dazu, daß die Menge die Herrschaft über sich verlor und schwere Ausschreitungen und Plünderungen verübte. Wenn man bedenkt, daß die Not der Bevölkerung in Wien und in zahlreichen anderen Gebieten des Staates zweifelsohne größer ist wie in Oberösterreich, dort aber die Ruhe nicht gestört wurde, so möchte man sich wundern, warum gerade Linz der Schauplatz von tief beklagenswerten Ereignissen wurde.«

    Die Linzer Blätter spiegeln die Angst des Bürgertums vor revolutionären Umtrieben wider: »Daß die Inhaber der Lebensmittel- und Kleidergeschäfte nicht die Schuld an der Not und den Preisen haben, ist ein Umstand, um den die Menge sich nicht kümmert. Daß übrigens die Not keineswegs die einzige Triebfeder der Plünderungen war, beweist die Tatsache, daß auch ein großes Juweliergeschäft ausgeraubt wurde. Auch das Eindringen der Menge in eine Anzahl von geistlichen Häusern, sogar in den Bischofshof, weist darauf hin, daß gegen diese Häuser, was überdies allseits bekannt ist, eine besondere Aufhetzung betrieben wurde.«

    Den Menschen geht es schlecht. Es sind aber nicht die Arbeiter – sofern sie Arbeit haben –, die von der Teuerung am meisten betroffen sind. Milena Jesenská, die tschechische Liebe des Literaten Franz Kafka, kommt 1919 aus Prag nach Wien. Ihr Ehemann Ernst Pollak bleibt in der Hauptstadt der neuen tschechoslowakischen Republik. Milena will sich eine vom Ehemann unabhängige Existenz als Journalistin aufbauen. Für die Prager Zeitung Národní listy beschreibt sie die missliche Lage in der ehemaligen Kaiserstadt: »Der Wiener Arbeiterschaft geht es nicht schlecht, wahrhaftig nicht! Es sei ihr gegönnt. Schlimmer steht es um die Staatsdiener, um die Menschen mit kläglichen Gehältern und zahlreichen Familien, die Postbeamten usw. Hier findet man vielleicht die größte Not, wenn sie auch nicht sichtbar ist, die vielen Witwen, Krüppel, Straßenkehrer, Briefträger und die kleinen Handwerker – diese Familien vegetieren wirklich in Favoriten und in Ottakring in muffigen Zimmern mit Wäscheleinen voller Lumpen. Dort herrscht angstvolle, nackte Not.« Die Tschechin schickt ihre Artikel nach Prag, dort hungern die Menschen nicht. Wien hingegen ist auf Lebensmittelspenden aus dem Ausland angewiesen. Die neutralen Schweizer helfen. Sie schicken mit Genehmigung der alliierten Siegermächte Züge mit Lebensmitteln ins Nachbarland. Schon im Dezember 1918 ist ein erster Hilfszug aus der Westschweiz mit 110 Waggons unter militärischer Sicherung in Wien eingetroffen. Rund 450 Tonnen Lebensmittel werden in städtische Lager gebracht. Im Jänner kommt ein weiterer Hilfszug aus der Schweiz an. Die Hilfe der Eidgenossen für ihre verarmten Nachbarn wird erst später honoriert. In Wien Favoriten erhält ein Gemeindebau des »Roten Wien« den Namen »Zürcher Hof«. In den 1920er-Jahren war der Bau als »GÖC-Hof« bekannt. Im Erdgeschoß wurde das erste Warenhaus der Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine (GÖC) eröffnet. In diesem hungernden und frierenden Wien treffen Franz Kafka und Milena Jesenská wieder aufeinander. Kafka fordert die Trennung vom Ehemann. Milena ist dazu nicht bereit. Die Journalistin beginnt Kafkas Erzählungen ins Tschechische zu übersetzen. Die junge Frau hat Kafka in einem Prager Café kennengelernt und ist von seiner Intellektualität hingerissen, er von ihrem Temperament und Charme: »Milena ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe. Dabei ist sie äußerst zart, mutig, klug und alles wirft sie in das Opfer hinein oder hat es, wenn man will, durch das Opfer erworben.« Die Briefe des Schriftstellers an seine Milena sind literarische Dokumente ihrer stürmischen Beziehung. Ein Jahr lang schickt ihr Kafka regelmäßig »geschriebene Küsse«.

    11. Jänner 1919

    »Wehe der Nachkommenschaft, die Dich verkennt!«

    Peter Altenberg stirbt in seinem Hotelzimmer

    Wenn sich Karl Kraus aus der Redaktion der Fackel auf den Wiener Zentralfriedhof bemüht und in der Neuen Freien Presse Feuilletonchef Raoul Auernheimer »unterm Strich« über drei Seiten einen Nachruf schreibt, dann ist ein Großer verstorben.

    Die Illustrierte Die Wiener Bilder meldet am 12. Jänner: »Der Wiener Dichter Peter Altenberg ist schwer erkrankt. Sein Zustand ist besorgniserregend.« Fürwahr. Als die Wochenzeitung erscheint, ist Peter Altenberg schon einen Tag begraben. Bekannte haben am Dreikönigstag den Bruder des Dichters und Wiener Bohemiens alarmiert. Er findet ihn im Zimmer 51 des Graben-Hotels in der Dorotheergasse im Bett liegend. Altenberg hat offensichtlich hohes Fieber. Sein Bruder veranlasst seine Einlieferung ins Allgemeine Krankenhaus. Peter Altenberg verzichtet seit Jahren auf eine feste Bleibe und logiert in wechselnden Hotels. Seine Meldezettel spannen ein geografisches Netz über Wiens Innenstadt. Im neuen Graben-Hotel hat der kauzige Poet seit 1913 eine Heimat gefunden und sie mehrfach zufrieden beschrieben: »Mein einfenstriges Kabinett im fünften Stock ist mein ›Nest‹. Halm für Halm zusammengesucht seit zwanzig Jahren. Kurz alles meinem Sein, meinem Geschmacke, meinen inneren Erlebnissen entsprechend. Ein Nest! Wenn ich denke, wer dieses geliebte Kabinett einmal in Bausch und Bogen erben wird, da freut mich wirklich das ganze Sterben nicht.«

    Der 60-jährige Altenberg wird aus seinem »Nest« in die III. Medizinische Klinik von Professor Franz Chvostek »bereits in bedenklichem Zustand« eingeliefert. Der Internist gilt als Koryphäe. Immerhin hat ihn sogar Alma Mahler-Werfel zur Behandlung ihres Komponistengatten Gustav Mahler hinzugezogen. Der deutschnationale Burschenschafter Chvostek kann Mahler anno 1911 nicht helfen und auch bei Peter Altenberg versagt die damalige Medizin. Die Erkrankung werde »von kurzer Dauer sein« prophezeit die Illustrierte Kronen Zeitung – und sie schätzt die Lage realistisch ein. In der Klinik vermuten die Ärzte zunächst eine »Bromvergiftung«, wie sie nach längerer Einnahme eines damals beliebten sedierenden Heilmittels auftreten konnte, ehe sie eine beiderseitige Lungenentzündung diagnostizieren.

    Peter Altenberg schlägt die Zeitung zu. Der »standhafteste Bekenner des nächtlichen Wien« stirbt nicht im Kaffeehaus, wie er es sich vermutlich erträumt hat.

    Ohne Antibiotika hat der Fiebernde keine Chance. Altenberg ist nur noch für wenige Augenblicke bei klarem Bewusstsein. »Nachmittags weilten sein Bruder und Professor Hammerschlag an seinem Krankenbett, die er aber kaum mehr erkannte. In der Nacht trat tiefe Bewußtlosigkeit ein, aus der Peter Altenberg nicht mehr erwachte. Einige Minuten vor 11 Uhr vormittags mußte die behandelnde Ärztin Frau Doktor Weiß den eingetretenen Tod feststellen. Altenberg hat ein Alter von 60 Jahren erreicht.«

    Dass eine Ärztin an der Klinik Chvostek tätig war, ist das erstaunliche an der Zeitungsmeldung. Der Internist gilt als entschiedener Gegner des Frauenstudiums. Er lässt weibliche Studierende gewaltsam aus seinen Lehrveranstaltungen vertreiben. Nach dem Krieg hat sich Chvostek der Bewegung des deutschen Generals Ludendorff angeschlossen und bekennt sich offen zu seinem Antisemitismus. Die III. Medizinische Klinik wird schon bald als »Hakenkreuzlerklinik« bekannt.

    Ausgerechnet dort stirbt der als Richard Engländer geborene Altenberg, Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Seine Reifeprüfung hatte Altenberg am Akademischen Gymnasium abgelegt und anschließend an der Universität Wien inskribiert, wo er – wenn auch eher unregelmäßig – juridische und später auch medizinische Vorlesungen besuchte. Altenberg wurde zum klassischen Studienabbrecher, versuchte in Stuttgart eine Lehre als Buchhändler abzuschließen, eher er in Wien seine wahre Profession erkannte.

    Altenberg wird Dauergast der Innenstadt-Kaffeehäuser und entzückt junge, sehr junge, eigentlich viele zu junge Damen mit seiner exzentrischen Lebensführung. Diese – mit Konsequenz betrieben – macht ihn bald zu einer legendären Figur, nicht von allen geliebt. Die Illustrierte Kronen Zeitung beschreibt den Aphoristiker aphoristisch so: »Als es in Wien noch ein Nachtleben gab, war Peter Altenberg einer der standhaftesten Bekenner des nächtlichen Wien. Er war in allen Cafés, Bars und Tanzlokalen zu Hause, saß dort mit seinen Freunden, denen er tiefe und groteske Weisheiten über Leben und Liebe, Welt und Weib mit seiner zitternd beschwörenden Stimme zurief.« So wurde Peter Altenberg zu einer lokalen Weltberühmtheit. Nach seiner Lieblingsbeschäftigung gefragt, antwortet er: »Den Sommer in Gmunden verbringen und den See anstarren vom Morgen bis zum Abend.« Und als seine Adresse gab er an: »Wien, 1. Bezirk, Herrengasse, Café Central.«

    Der Dichter und Feuilletonist Raoul Auernheimer, zur damaligen Zeit der größte seines Faches, widmet dem Prototypen des Kaffeehausliteraten einen augenzwinkernden, aber liebevollen Nachruf: »In einer Zeit allgemeinster Verarmung, die nachgerade auch auf das geistige Gebiet überzugreifen beginnt, wird es nicht allzu vielen aufgefallen sein, daß Wien seit ein paar Tagen um einen Dichter und eine wunderliche Figur ärmer geworden ist. Dennoch werden die Wiener und nicht nur jene begeisterten Jünger eines neuen Kaffeehausglaubens, die in Peter Altenberg den Dichter zu sehen und zu verbünden gewohnt waren, diese stadtbekannte Gestalt nicht ohne leise Wehmut aus unserem Stadtbild verschwinden sehen. Es gibt in der Literatur auch so etwas wie ein Bürgerrecht, das, wie jedes andere, durch längere Ansässigkeit erworben wird. Peter Altenberg besaß es, trotz seiner

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