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Sternstunden Österreichs: Die helle Seite unserer Geschichte
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eBook421 Seiten4 Stunden

Sternstunden Österreichs: Die helle Seite unserer Geschichte

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Über dieses E-Book

Gerhard Jelinek beleuchtet in seinem neuen Buch Österreichs historische Wendepunkte - denn "Sternstunden" sind Ereignisse, Entscheidungen, Entdeckungen, manchmal auch Träume. Und sie tragen Wichtiges bei zum menschlichen Fortschritt. Sie sind die helle Seite der unserer Geschichte.

Aus dem Inhalt:
1193 - 24 000 Kilo Silber für den englischen König
1683 - Wiens Befreiung von der Türkenbelagerung
1793 - Mozarts Requiem erklingt erstmals
1818 - Das Lied "Stille Nacht!" wird erstmals gesungen
1854 - Die erste Hochgebirgsbahn der Welt wird eröffnet
1895 - Sigmund Freud enthüllt das Geheimnis des Traums
1898 - Der erste Porsche fährt elektrisch
1920 - Der erste Gemeindebau des "roten Wien" wird eröffnet
1920 - Mit dem "Jedermann" beginnen die Salzburger Festspiele
1943 - Die Moskauer Erklärung als Geburtsurkunde der Zweiten Republik
1955 - Kaprun wird Symbol für den Wiederaufbau Österreichs
1956 - Toni Sailer siegt: Dreimal Gold bei Olympia
u. v. a.
Mit zahlreichen Abbildungen
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Okt. 2015
ISBN9783902998910
Sternstunden Österreichs: Die helle Seite unserer Geschichte

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    Buchvorschau

    Sternstunden Österreichs - Gerhard Jelinek

    1156

    »Zwei Fahnen für ein Herzogtum«

    Die Geburtsstunde Österreichs

    Österreichs Geburtsstunde ist eine Niederlage. Es ist der Spatz in der Hand statt die Taube auf dem Dach. Am 8. September des Jahres 1156 verzichtet Markgraf Heinrich II. Jasomirgott auf das mächtige Herzogtum Bayern. Jahrelang hat der Babenberger mit dem Welfen Heinrich, Beiname »der Löwe«, um das Herzogtum gerittert. Der Welfe siegt und herrscht in der bayerischen Landeshauptstadt Regensburg. Heinrich Jasomirgott weigert sich, seine untreue Hauptstadt auch nur zu betreten. Er, seine byzantinische Frau Theodora und das Gefolge schlagen ihr Lager rund drei Kilometer östlich der Mauern von Regensburg auf. Die Stadt im Blick. Ein Herzogtum verloren. Ein Herzogtum in Aussicht.

    Der Babenberger vor der Stadt, sein Rivale hinter den Mauern. Beide Herren warten auf die Ankunft des Kaisers. Friedrich I. Barbarossa will den Streit zwischen Lehensmännern endlich schlichten. Während der vergangenen Monate haben seine Berater einen Kompromiss ausgearbeitet. Der Welfe soll sein angestammtes Bayern zurückbekommen, der Babenberger mit dem neu zu schaffenden »Herzogtum Österreich« abgefunden werden. Die Markgrafschaft ist nicht viel mehr als der östliche Teil des Herzogtums Bayern, ein Grenzland: Teile des heutigen Oberösterreichs und Niederösterreich. Den Kompromiss haben der Kaiser und die deutschen Fürsten auf dem Hoftag zu Regensburg beraten, verhandelt und schließlich beschlossen. Kaiser Friedrich I. Barbarossa ist an einem Ausgleich der Spannungen interessiert. Heinrich der Welfe und Heinrich der Babenberger haben beide gute Argumente für ihre jeweilige Rechtsposition. Es wird eine salomonische Lösung gefunden, die beiden Streitparteien einen gesichtswahrenden Ausstieg ermöglicht.

    Besiegelt soll der Friedensschluss für alle sichtbar mit einer lehensrechtlichen Zeremonie werden: Samstag, der 8. September 1156, wird zum Geburtstag Österreichs.

    Die Teilung des Herzogtums Bayern wird öffentlich erfolgen. Bischof Otto von Freising, ein Sohn des österreichischen Markgrafen Leopold III. aus dem Hause der Babenberger und der salischen Kaisertochter Agnes, Zisterziensermönch und größter Geschichtsschreiber der salisch-staufischen Zeit, ist der Chronist von Österreichs Geburtsstunde als eigenständiges Herzogtum. In seinen Gesta Friderici I imperatoris beschreibt er als Augenzeuge das Ereignis: »Mitte September kamen die Fürsten in Regensburg zusammen und erwarteten die Ankunft des Kaisers. Als dann die Begegnung des Kaisers mit seinem Oheim stattfand – dieser blieb nämlich zwei Meilen vor der Stadt in einem Zeltlager – wurde in Gegenwart aller Vornehmen und Großen die Vereinbarung, die man seit geraumer Zeit geheim gehalten hatte – veröffentlicht.« Das große Fürstentreffen findet im Lager Heinrichs »Jasomirgott« statt, der sich mit seinem Gefolge in den Barbinger Wiesen breitgemacht hat. Markgraf Heinrich empfängt seinen Onkel, Kaiser Friedrich I. Barbarossa, vor seinem Zelt. Im Gefolge des Kaisers sind alle deutschen Fürsten aus der Stadt ins Lager geritten. Sie bilden die bunte Kulisse eines mittelalterlichen Staatsaktes: Otto Bischof von Freising ist ebenso anwesend wie sein Amtsbruder Eberhard, Bischof von Salzburg, und der Patriarch von Aquileja. Die weltliche Macht ist durch den Kärntner Herzog Heinrich, Konrad, den Bruder des Kaisers, und Dutzende Markgrafen des Reiches vertreten.

    Heinrich »Jasomirgott« übergibt dem Kaiser als Lehensherrn sieben Fahnen, die die Grafschaften Bayerns symbolisieren. Dieser reicht fünf Standarten an Heinrich den Löwen weiter, zwei gibt der Kaiser dem Babenberger Heinrich »Jasomirgott« zurück. Die Sensation des Augenblicks wird von den anwesenden Fürsten mit Erstaunen registriert: Nicht nur der zum Herzog beförderte Markgraf darf die Lehensfahnen berühren, Kaiser Friedrich I. übergibt die Insignien der Macht auch an Heinrichs Gattin Theodora.

    Bayern verloren, aber Österreich gewonnen: Markgraf Leopold und Herzog Heinrich »Jasomirgott« aus dem Geschlecht der Babenberger formen Grafschaften der »Ostmark« zu einem selbstständigen Herzogtum.

    Die Herrschaft Österreichs wird gleichberechtigt Mann und Frau übertragen. Diese symbolische Handlung ist keine Laune des Augenblicks. Im Mittelalter haben öffentliche Gesten der Macht eine entscheidende Bedeutung. Mit der Erhebung der Grafschaften der einstigen bayerischen Ostmark zum eigenständigen Herzogtum hat sich der Babenberger Heinrich eine Reihe von Privilegien herausverhandelt. Eines davon: Seiner Familie wird die männliche und weibliche Nachfolge zugebilligt. Sollte er ohne männlichen Nachfolger sterben, fällt damit das Herzogtum nicht als Lehen an den Kaiser zurück.

    Die Umwandlung der Mark in ein Herzogtum war das Ergebnis mehrjähriger schwieriger diplomatischer Verhandlungen. Friedrich I. Barbarossa war bemüht, den für ihn lästigen Konflikt seines Vaters mit dem Welfen Heinrich dem Löwen durch die Rückgabe des Herzogtums Bayern zu beenden. Das angestammte »Familiensilber« war den Welfen strafweise entzogen und Markgrafen aus dem Geschlecht der Babenberger zur Verwaltung übergeben worden. Aber weder Leopold IV. noch Heinrich II. hatten sich in Bayern und bei den bayerischen Ständen wirklich durchsetzen können. Die betrachteten es als Affront, dass Heinrich II. seine Residenz von Regensburg nach Wien, an den östlichsten Rand des Herzogtums, verlegt hatte. Aber jetzt brauchte Barbarossa dringend die Truppen des »Löwen« für seinen Italienzug. Und überdies hatten im Oktober 1155 alle bayerischen Grafen Heinrich dem Löwen die Treue geschworen. Sein Namensvetter Heinrich »Jasomirgott« hatte keine guten Karten, er weigerte sich jedoch beharrlich, das einmal übertragene Herzogtum wieder abzutreten. Bayern war eine Macht; die Gegend, die »Ostarrichi« genannt wurde, waren Grafschaften an der Grenze des Reichs: nicht besonders groß, nicht besonders reich, nicht besonders bedeutend.

    Auf vier Hoftagen, zu denen der römisch-deutsche Kaiser die Fürsten zur Beratung geladen hatte, versuchten die Herrschaften eine Lösung des Problems zu finden. Vergeblich. Der Babenberger spielte auf stur, ignorierte die Einladungen des Kaisers mit erfundenen Ausreden und blockierte damit eine Entscheidung, die nicht zu seinen Gunsten ausfallen würde, wie er ahnte. Friedrich I. Barbarossa hatte in der Zwischenzeit Wichtigeres zu erledigen. Er ließ sich in Rom vom Papst zum Kaiser krönen und kehrte erst 1155 in seine deutschen Lande zurück, um nach dem Rechten zu sehen. Geheimdiplomatie führte schließlich zu einem Übereinkommen mit seinem Neffen Heinrich »Jasomirgott«. Die beiden trafen einander Anfang Juni anno 1156 heimlich bei Regensburg und verhandelten den Kompromiss. Auf dem Hoftag zu Regensburg wurde dann am 8. September 1156 der feierliche Akt der Umwandlung Österreichs in ein Herzogtum möglich.

    Die schriftliche Ausfertigung des Vertrages dauerte dennoch neun Tage. Erst am 17. September erhielten Heinrich und Theodora ihr Herzogtum buchstäblich mit Brief und Siegel. Der Vertragstext war von einem gewieften Notar verfasst worden, alle Rechte für die Babenberger waren darin penibel aufgezählt: Das Privilegium minus wird die amtliche Geburtsurkunde des Herzogtums Österreich. Ihr lateinischer Text beschreibt die Ausgangslage des politischen Zanks klar: »Daher möge die gegenwärtige Generation und die künftige Nachwelt aller Getreuen Christi und unseres Reiches wissen, dass wir unter Mitwirkung der Gnade dessen, von dem der Friede vom Himmel auf die Erde gesandt wurde, als wir auf dem allgemeinen Hoftag zu Regensburg das Fest der Geburt der heiligen Maria feierlich begingen, in Gegenwart vieler gottesfürchtiger und rechtgläubiger Fürsten den Rechtsstreit um das Herzogtum Bayern, der zwischen unserem liebsten Oheim, dem Herzog Heinrich von Österreich, und unserem teuersten Vetter, dem Herzog Heinrich von Sachsen, lange Zeit hindurch hin und her wogte, in der Weise beendet haben, dass der Herzog von Österreich uns das Herzogtum Bayern aufgelassen hat mit allem ihrem Recht und mit allen Lehen, die einst Markgraf Leopold vom Herzogtum Bayern innehatte. Damit aber dadurch die Ehre und der Ruhm unseres geliebtesten Oheims in keiner Weise gemindert erscheinen, haben wir nach dem Rat und dem Spruch der Fürsten, wobei der erlauchte Herzog Vladislav von Böhmen das Urteil verkündete, und mit Billigung aller Fürsten die Mark Österreich in ein Herzogtum umgewandelt und dieses Herzogtum mit allem Recht unserem genannten Oheim Heinrich und seiner allerdurchlauchtigsten Gattin Theodora zu Lehen gegeben.«

    Vor den Toren der Reichsstadt Regensburg: Am 8. September 1156 schlägt die Geburtsstunde Österreichs. Heinrich »Jasomirgott« und seine Frau Theodora erhalten aus der Hand des Kaisers zwei Fahnen als Symbole des neuen Herzogtums – eine Sternstunde.

    Als Preis für den Verzicht auf seine – ohnehin nur theoretisch durchzusetzenden – Ansprüche an Bayern verhandelt Heinrich sehr geschickt Sonderrechte für sein neues Herzogtum. Sollte er kinderlos sterben, darf das Land an wen immer weitergegeben werden. Dieser Passus war auf die Situation von Heinrich und Theodora maßgeschneidert. Das Paar hatte – möglicherweise aufgrund der engen Blutsverwandtschaft – keine Kinder. Heinrichs Brüder Otto von Freising und Konrad von Passau waren zwar mächtige und reiche Bischöfe, konnten aber aufgrund ihrer geistlichen Profession keine – zumindest keine legitimen – Kinder haben. Der Staufer Friedrich Barbarossa war am Überleben des Babenberger-Geschlechts höchst interessiert. Sie sollten ihm als Gegengewicht zum stets streitlustigen Welfen-Herzog in Bayern dienen. Als weiteres Privileg ließ sich der neue »Herzog von Österreich« verbriefen, Hoftage nur im nahen Bayern besuchen zu müssen. Auch für Feldzüge des Kaisers musste der Herzog keine Soldaten finanzieren. »Er soll auch keine Heeresfolge schuldig sein außer diejenige, die der Kaiser etwa gegen die Österreich benachbarten Königreiche und Länder anordnet.« Auch das war im Interesse von Friedrich und Heinrich. Der Kaiser plante ohnehin nur militärische Aktionen in Italien, und da war die Grenzmark Österreich zum Mittun verpflichtet.

    Gezeichnet wird die Pergamenturkunde mit »Friedrich, des unbesiegtesten Kaisers der Römer in Christus glückbringend, Amen«.

    Das alles können wir auf einem in Packpapier eingewickelten Pergament, das sich in einer schlichten Metallschublade im Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Wiener Minoritenplatz befindet, lesen. Dieser erste »Staatsvertrag« Österreichs ist freilich nur eine Abschrift – wie auch der Staatsvertrag des Jahres 1955 nur als Kopie in Wien lagert. Die älteste Überlieferung findet sich im Codex 929 der Stiftsbibliothek Klosterneuburg und wurde wohl ein Jahrhundert nach der Ausfertigung des Originals geschrieben.

    Das ursprüngliche Pergament wurde im Auftrag von Herzog Rudolf IV. irgendwann um die Jahreswende 1358/59 vernichtet – wahrscheinlich. Sicher wissen wir es nicht. Es galt, die Spuren einer frechen Fälschung zu verwischen. Die Tat ist erwiesen. Das Motiv ist bekannt. Der Anstifter bleibt straffrei. Die Vorgeschichte reicht sieben Jahrzehnte zurück: Rudolf I., der erste Habsburger auf dem Thron der römischen-deutschen Könige, hatte nach dem kinderlosen Aussterben der Babenberger ihren Besitz eingezogen und 1282 seine beiden Söhne Albrecht und Rudolf mit den österreichischen Ländern belehnt. Es war Nepotismus pur. Damit katapultierte sich das eher bescheidene Grafengeschlecht aus dem schweizerischen Aargau in die erste Liga der mittelalterlichen Aristokratie. Es ist der Beginn der Habsburger Herrschaft in Österreich, die erst nach 636 Jahren, im November 1918, enden sollte.

    Die Habsburger hatten viel vor, planten zielstrebig und mit Glück den Ausbau ihrer Hausmacht. Die zum Herzogtum umgewandelte Grenzmark hatte sich unter den Babenbergern fein entwickelt. Die Steiermark und Krain waren erworben worden. Mit Österreich war schon Ende des 13. Jahrhunderts ein Staat zu machen. Herzog Rudolf IV. strebte nach mehr. Das Privilegium minus als staatsrechtliche Gründungsurkunde (der Begriff wird erst im 19. Jahrhundert von der Geschichtswissenschaft erfunden) sollte kräftig aufgebessert werden. Rudolf befiehlt eine Fälschung. In seiner Kanzlei entsteht der »große Freiheitsbrief« oder das Privilegium maius. Der Habsburger Rudolf IV. maßt sich in dieser Fälschung ähnliche Rechte an, wie sie die sieben Kurfürsten, denen in der »Goldenen Bulle« das Vorrecht der Wahl des römisch-deutschen Kaisers zugestanden wurde, innehatten. Wenn er schon kein Kurfürst ist, dann verlangt der Habsburger wenigstens Sonderrechte und lässt eine diesbezügliche Urkunde fälschen. Das Schriftbild, äußere Merkmale und weite Textpassagen des echten Privilegiums aus dem Jahr 1156 werden in das neue Dokument eingearbeitet und die originale Bulle von Kaiser Friedrich Barbarossa an das neue Pergament kunstvoll angebracht. Die Herzöge aus dem Hause Habsburg nennen sich fortan unter Berufung auf das Privilegium maius »Erzherzoge«, was ja noch besser als »Kurfürst« klingt.

    Historische CSI-Ermittler haben den königlichen Kaplan Albert von Sponheim als Täter ausgeforscht. Die relativ plumpe Fälschung wird von dem italienischen Dichter und Gelehrten Francesco Petrarca entlarvt, dem zwei beigelegte Urkunden – eine vorgeblich von Caesar persönlich und die andere vom römischen Kaiser Nero – doch eher suspekt erscheinen. So dauerte es fast hundert Jahre, ehe der habsburgische Kaiser Friedrich III. die gefälschte Urkunde doch noch als echt anerkennt. Ein Habsburger kratzt dem anderen kein Auge aus, und »echt« ist eben, was machtpolitisch durchgesetzt werden kann.

    1193

    »Wertvoller noch denn Gold und Edelgestein«

    24 000 Kilo Silber für den englischen König

    Der Pilger hat eine weite Reise hinter sich. Drei Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1192 macht ein Engländer mit seinen Begleitern Rast im sogenannten »Jägerhaus«, einem Nebengebäude eines größeren Meierhofs vor dem mittelalterlichen Wien. Der Weiler, nahe einem Arm der Donau, die die Ebene vor Wien durchströmt, wird von der Bevölkerung hier »Erpurch« genannt. Das Gut gehört dem Babenberger Herzog Leopold V., der hier seine Jagdhunde mit eigens für sie gebackenem Brot füttern lässt. Es ist ein unfreundlicher Tag. Entlang des großen Flusses hält sich feucht-kalter Nebel. Der Reisende aus dem Heiligen Land will für sich und seine Knappen eine geheizte Stube und Labung. In seinem dicken Lederbeutel klingen Münzen. Ein Kreuzfahrer erregt Aufsehen. Der noble Pilger schickt einen Weggefährten in die nahe Stadt. Die Jäger, Bauern und Knechte haben noch nie byzantinische Goldmünzen gesehen. Sein deutsch sprechender Begleiter soll in Wien das wertvolle Goldstück in kleinere Silbermünzen wechseln und Lebensmittel einkaufen. Dieser Handel wird teure Folgen haben.

    Die Ankunft eines offenbar reichen ausländischen Ritters, der aus dem Morgenland mit einem Goldschatz zurückkehrt, spricht sich herum. Auch der Herzog in seiner Burg erfährt von dem geheimnisvollen Reisenden – wenn er ihn nicht schon über Wochen bespitzeln hat lassen. Er lässt Soldaten in die Vorstadt marschieren. An einem Dienstag, den 22. Dezember 1192, wird Englands König Richard Löwenherz aus dem Geschlecht der Plantagenets gefangen genommen. Zeitgenössische Berichte über die Festnahme sind nicht überliefert. Richard wird sich den österreichischen Soldaten wohl sofort zu erkennen gegeben haben. Er wird höflich behandelt. Im Inneren eines Hausflurs in der Wiener Erdbergstraße erinnert eine Marmortafel die Hausbewohner an diese Sternstunde Österreichs. Sternstunde? Wir werden sehen!

    Ein König genießt im Mittelalter fast heiligen Respekt. Der vermeintliche Pilger wird in die Stadt und direkt in die Herzogsresidenz gebracht. König Richard und Herzog Leopold sind alte Bekannte. Freunde sind sie nicht.

    Die beiden Fürsten haben im dritten Kreuzzug miteinander gegen Sultan Saladin im »Heiligen Land« gekämpft und nach monatelanger Belagerung die Küstenstadt Akkon erobert. Dieser Sieg im Namen des Kreuzes ist die Wurzel des Konflikts. Nach der Erstürmung von Akkon pflanzten die Kreuzfahrer ihre Banner auf den Turm der Zitadelle. Damit markierten sie sichtbar ihren Sieg und ihren Anspruch auf die eroberte Stadt. Neben der englischen Fahne König Richards wehte das französische Banner König Philipps II. August. Herzog Leopold V., der seit dem Tod von Kaiser Friedrich I. Barbarossa und seines Nachfolgers Friedrich von Schwaben das Häuflein deutscher Ritter kommandierte, ließ sein eigenes Banner, einen schwarzen Panther auf silbernem Grund, auf einem der Mauertürme von Akkon befestigen. Damit erhob der Babenberger Anspruch auf seinen (und des Kaisers) Anteil am Sieg über die Muselmanen und die gewaltige Beute. Vor der Übergabe der Festung hatten die Belagerer für das Leben der muslimischen Bewohner ein hohes Lösegeld erpresst.

    König Richard war über Leopolds Forderung »not amused«. Er ließ das Wappen des Babenbergers entfernen. Aus seiner Sicht verständlich: Die wenigen deutschen Kreuzritter, die es nach dem Tod von Kaiser Friedrich Barbarossa nach Palästina geschafft hatten, hatten nur einen bescheidenen Beitrag zur Eroberung Akkons geleistet. Außerdem empfand Englands König den Anspruch eines eher unbedeutenden Herzogs auf ein Drittel der Kriegsbeute als Anmaßung. Europäische Machtpolitik erwies sich allemal stärker als »christliche Werte«.

    Dass der Engländer Österreichs Banner tatsächlich in den Burggraben werfen ließ, wie die Überlieferung besagt, ist eher unwahrscheinlich. Als Begründung für das Kidnapping des englischen Königs sollte diese Episode später eine große propagandistische Bedeutung erlangen. Leopold V. musste in Akkon zurückstecken. Er und die deutschen Ritter machten sich aus dem Staub Palästinas und kehrten nach Hause zurück.

    Machtpolitische Gegensätze aus dem Abendland wurden im Morgenland nahtlos weiter ausgetragen. Auch zwischen dem König von England und seinem Waffengefährten König Philipp II. von Frankreich war die Rivalität dort wieder voll ausgebrochen. Die beiden Intimfeinde stritten mit voller Brutalität um den Titel eines »Königs von Jerusalem«, als Symbol für die Über- beziehungsweise Unterordnung des einen oder anderen. Richard und Philipp fochten in der Normandie und in Aquitanien einen blutigen Kleinkrieg um englische beziehungsweise französische Besitzungen aus. Englands König war auch Herzog der Normandie und von Aquitanien und als solcher Lehensmann des französischen Königs Philipp. Philipp hatte die durchaus lebensgefährliche Kreuzzugsfahrt in erster Linie deshalb unternommen, damit Richard Löwenherz im Morgenland nicht unbeobachtet morden und brandschatzen konnte. Und auch im Heiligen Römischen Reich war es nach dem Tod des Staufers Friedrich Barbarossa wieder zu dynastischen Rivalitäten zwischen den mächtigen Clans der Welfen und der Staufen um die Vorherrschaft gekommen. Europas politisches Kräftegleichgewicht war Ende des 12. Jahrhunderts wieder einmal in einem höchst labilen Zustand.

    Richard Löwenherz und seine Truppe kämpfen auch nach der Eroberung der Küstenstadt Akkon weiter, bauen zerstörte Kreuzritterburgen auf, sichern Wege und Nachschubrouten, und sie bedrängen Saladin, der sich mit seiner noch immer intakten Armee nach Jerusalem zurückzieht. Die Kreuzritter müssen erkennen: Ihre Kräfte reichen zur Eroberung Jerusalems nicht aus.

    Der englische König verhandelt mit seinem muslimischen Widerpart und schließt einen Waffenstillstand für drei Jahre. Christliche Pilger sollen ungehinderten Zugang zu den heiligen Stätten in Jerusalem haben. Mit diesem – halben – Erfolg endet der dritte Kreuzzug. Richard I. Löwenherz wird in England gebraucht. Nach Jahren der Abwesenheit muss er seine Autorität wiederherstellen.

    Richard hat es eilig. Im Oktober 1192 besteigt er ein Schiff und segelt über Zypern nach Norden. Er will auf schnellstem Weg nach England. Seine Route soll ihn zunächst über die Adria zu seinen Verwandten nach Sachsen führen. Das Unheil kündigt sich an. Das Meer ist stürmisch. Knapp vor dem Ziel, an der Adriaküste vor Aquileia, geht Richards Schiff zu Bruch. Der König muss im Winter den beschwerlichen Landweg quer durch das Herrschaftsgebiet seines Rivalen Herzog Leopold V. nehmen.

    Das Netz ist schon ausgelegt, als Richard von Oberitalien aus gegen Norden zieht. Er ahnt nicht, dass er Opfer einer großangelegten europäischen Erpressungsaffäre werden soll. Im Mittelalter ist man nicht sehr zimperlich.

    Der englische König reist als einfacher Pilger und Kreuzritter mit kleinem Gefolge. Er weiß, dass er sich in Feindesland bewegt. So kommt er bis vor die Tore Wiens – bis nach Erdberg. Die Gefangennahme des Helden von Akkon durch den österreichischen Herzog löst ein politisches Erdbeben in der mittelalterlichen Welt aus. Von London über Paris, von der Normandie über das römisch-deutsche Reich, nach Wien, Zypern und ins Heilige Land laufen die Fäden dieser unerhörten Geiselnahme.

    Herzog Leopold beginnt ein gewagtes Spiel. Die »Affäre Löwenherz« wird sich über zwei Jahre ziehen und in die romantische Sagenwelt eingehen. Legenden werden die Wahrheit verschleiern und den europäischen Konflikt überdecken.

    Zunächst ist die von Leopold befohlene Gefangennahme ein eklatanter Rechtsbruch. Pilger stehen unter dem Schutz der katholischen Kirche und genießen »freies Geleit«. Ein Angriff wird mit dem Kirchenbann geahndet. König Richard ist kein gewöhnlicher Pilger, er hat im Heiligen Land für die christliche Sache (und um unermessliche Beute) gestritten.

    Die Verhaftung eines Königs kann kein Alleingang eines gekränkten und vergleichsweise eher unbedeutenden Herzogs gewesen sein. Leopold V. hätte nie ohne Wissen und Auftrag seines »Chefs« und Lehensherrn, des Kaisers, handeln können. So war es auch.

    Der französische König und der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs hatten schon im Herbst 1191 bei einem geheimen Gipfeltreffen in Mailand ein gemeinsames Vorgehen gegen den Engländer besprochen. Zu diesem Zeitpunkt prügelte sich Richard mit seinen englischen Rittern noch im Morgenland mit den Muslimen unter Sultan Saladin herum.

    Bis Erdberg geht die beschwerliche Reise durch den Winter gut. Bei der Gefangennahme leisten der jähzornige englische Herrscher und sein Gefolge keinen Widerstand, es wäre zwecklos gewesen. Herzog Leopold V. von Österreich hat den Fang seines Lebens gemacht und beginnt sein Spiel. Mit reitenden Boten wird Kaiser Heinrich VI. auf dem Weg von Eger in Nordböhmen nach Regensburg informiert. Er zeigt sich vom eklatanten Rechtsbruch seines Herzogs weder überrascht noch empört. Kaiser Heinrich taxiert die Beute und befindet: »Wertvoller noch denn Gold und Edelgestein.« Das europäische Informationsnetzwerk funktioniert auch im Mittelalter. Der deutsche Kaiser schreibt nur sechs Tage nach der Gefangennahme dem französischen König, schildert die Tat und kriminalisiert den englischen König als »Feind des Reichs und Störer deines Königreichs«. Deutschland und Frankreich verbünden sich gegen England.

    Am gleichen Tag geht auch Post nach Wien ab. Der Kaiser befiehlt seinem Lehensmann, die königliche Geisel zum Hoftag nach Regensburg mitzunehmen und den englischen König dem deutschen Kaiser in Gewahrsam zu geben. Aus Gründen der Ehre, natürlich: »Weil es sich nicht gezieme, dass ein Herzog einen König gefangenhalte, es wäre im Gegenteil nicht ungebührlich, wenn die königliche Würde von der kaiserlichen Erhabenheit bewahrend erhalten werde.«

    Jetzt wird die Sache ernst. Österreichs Herzog kann es machtpolitisch kaum wagen, der »Bitte« des Kaisers nicht zu entsprechen und seine immens wertvolle Geisel auf der Burg Dürnstein in der Wachau zu belassen. Das wäre ein eklatanter Treuebruch und würde zu einem Konflikt mit dem Staufen führen. Der Babenberger Leopold ist zwar mittlerweile ein wichtiger Herzog des Reichs, steht aber machtpolitisch doch noch in der zweiten Reihe der strengen ritterlich-feudalen Ordnung des Mittelalters. Auf eigene Faust und eigene Rechnung kann Leopold die Geiselnahme nicht beenden. König Richard gehört zur »ersten Garnitur« europäischer Macht. Im Vergleich zu Richard ist der Babenberger ein kleines Licht. Ohne Gegenleistung für seine schlaue Aktion will Leopold den englischen König Richard Löwenherz aber auch nicht an den Kaiser ausliefern. Der Herzog lässt die Pferde satteln und beeilt sich mit seiner Geisel von Dürnstein die Donau aufwärts zum Hoftag nach Regensburg. Schon am Dreikönigstag des Jahres 1193 trifft Herzog Leopold mit dem Gefangenen in der Pfalz Regensburg ein. Auf dem Hoftag führt er seinem Kaiser den englischen König Richard als Gefangenen vor. Er weigert sich jedoch, seine Geisel zu übergeben. Der Kaiser und sein Herzog beginnen intensive Verhandlungen über die Modalitäten der Übergabe. Es kommt zu keiner Einigung. Der Babenberger lässt seinen Gefangenen heimlich wieder nach Dürnstein bringen. Leopold fürchtet einen Handstreich des Kaisers. Richard Löwenherz muss wieder nach Dürnstein, in die stattliche Burg Hademars II. von Kuenring, mit ihrem prachtvollen Blick über das Donautal. Hademar ist ein enger Vertrauter von Leopold und sorgt sich um das Wohlergehen seines prominenten »Gastes«. Entgegen den Darstellungen der zeitgenössischen englischen Propaganda muss der mächtige König keineswegs in einem Verlies schmachten. Er darf sich in der Burg und der Umgebung frei bewegen, hält Kontakt zu englischen Emissären und vertreibt sich die Zeit mit Rauf- und Sauf-Wettbewerben. Sein unfreiwilliger Aufenthaltsort ist kein Geheimnis. Im 19. Jahrhundert werden die Haftbedingungen von »Lionheart« als eher kommod beschrieben: »Er durfte sich, von deutschen Rittern gefolgt, frei bewegen. Der Verkehr mit seinen Freunden und Landsleuten, die von England herüberkamen, ihm zu huldigen oder zu raten, wurde nicht gehindert. Nur des Nachts musste er allein sein. Der Frohsinn verließ den König auch hier nicht; wer ihn sah, fand ihn launig und heiter. Die größte Belustigung gewährte ihm, mit den Wächtern sein Spiel zu treiben, sie im Ringkampf mit meisterlicher Gewandtheit zu bewältigen oder im Zechgelage sie sämtlich trunken zu machen und allein obenauf zu bleiben.« Die schöne Sage vom treuen Sänger Blondel, der deutsche Burgen abklappert, vor jeder sein Ständchen singt und endlich aus dem Dürnsteiner Verlies die Stimme seines geliebten Königs vernimmt, ist eben eine Sage: Kein Wort wahr. Der nordfranzösische Troubadour Blondel de Nesle schreibt zwar zwei Dutzend Liebeslieder in picardischer Mundart. Löwenherz begegnet er nie. Vor der Burg Dürnstein singt er nicht.

    Keine Spur von Bänkelsänger Blondel: Die Burg Dürnstein in der Wachau beherbergt anno 1193 König Richard Löwenherz. Für den Engländer ist dies ein eher längerer und sehr teurer Aufenthalt.

    Vier Wochen verhandeln Kaiser Heinrich VI. und Herzog Leopold V. Mitte Februar wird in Würzburg ein Vertrag geschlossen. Darin einigen sich Lehnsherr und Lehnsmann über die Modalitäten einer europäischen Erpressung. »Ich, Leopold, Herzog von Österreich, werde meinem Herrn, Heinrich, dem Kaiser der Römer, den König von England folgendermaßen und unter der Bedingung übergeben und ausliefern, dass eben dieser König dem Herrn Kaiser 100 000 »Kölner Mark Silber« vergönnen werde. Von welchen ich die Hälfte für die auszustattende Tochter des Bruders des Königs der Engländer halten werde, die einer meiner Söhne in die Ehe führen wird. Diese Tochter des Bruders des Königs der Engländer wird darum zum Fest des Heiligen Michael einem meiner Söhne, den ich hierzu auswählen werde, darzureichen sein.« Neben der ungeheuer hohen Lösegeldsumme von 100 000 »Kölner Mark Silber«, zu bezahlen in zwei Tranchen, will der Babenberger sein Haus mit den englischen Plantagenets durch eine Eheschließung verbinden. Das erpresste Lösegeld würde so offiziell als Mitgift »reingewaschen«. Die 100 000 »Kölner Mark Silber« entsprechen etwa dem Gegenwert von 24 Tonnen Silber. So viel hat Richard I. dem Malteser Ritterorden für den Kauf

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