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Österreichische Geschichte: Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart
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eBook1.239 Seiten15 Stunden

Österreichische Geschichte: Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart

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Über dieses E-Book

In Urgeschichte, Römerzeit und Frühmittelalter wurden Grundlagen für die Folgezeiten geschaffen. Im Hochmittelalter wuchs die Bevölkerung, neue Dörfer, neue Städte, Klöster, Burgen und neue Länder entstanden – die heutigen Bundesländer der Republik. Durch die jahrhundertelange Herrschaft der Habsburger wurden diese Länder miteinander und mit vielen anderen europäischen Regionen – Italien, Spanien, Belgien, Ungarn, Böhmen, Polen, Slowenien, Kroatien - verbunden. Die Monarchie der Habsburger ermöglichte "ihren" Völkern trotz aller Kritik eine positive kulturelle und politische Entwicklung. Hingegen konnte die junge Republik Österreich das Erbe des kriegsbedingten Mangels nicht bewältigen, das nach dem Zerfall der Monarchie 1918 durch Bankenkrisen und politische Gegensätze verschärft wurde. Ein nationaler Konsens fehlte. Die Demokratie wich 1933 einer konservativen Diktatur. 1938 kam es zum vielfach bejubelten "Anschluss" an Hitlers Deutschland. Doch 1945 erhielt diese Republik eine "zweite Chance".
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum16. Sept. 2019
ISBN9783205210146
Österreichische Geschichte: Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart
Autor

Ernst Bruckmüller

Ernst Bruckmüller, Univ.-Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, wirkl. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Vorsitzender des Instituts für Österreichkunde, zahlreiche Publikationen zur Sozialgeschichte, Agrargeschichte, zu Fragen der nationalen Identität usw.

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    Buchvorschau

    Österreichische Geschichte - Ernst Bruckmüller

    1 Vom Beginn menschlicher Besiedlung bis zur Völkerwanderung

    1.1 Älteste Besiedlungsspuren – Die »Venus« von Willendorf

    Die ältesten menschlichen Spuren in Österreich wurden in der Repolusthöhle bei Peggau in der Steiermark gefunden. Sie stammen von Altmenschen (»Neandertalern«), die hier vor etwa 250.000 Jahren gewohnt und gejagt haben. Vor etwa 90.000 Jahren suchten altsteinzeitliche Jäger wieder die Repolusthöhle und andere Höhlen auf der Jagd nach dem Höhlenbären auf.

    Erst einige zehntausend Jahre später verdichtet sich das Fundmaterial etwas, typischerweise in den siedlungsgünstigeren Löß-Landschaften Niederösterreichs (Weinviertel, Wachau). Die bedeutendsten Zeugnisse aus diesen Zeiten sind die berühmte »Venus« von Willendorf (in der Wachau, um 25.000 v.Chr. – es wird auch eine frühere Datierung diskutiert) und die eigentlich noch bedeutsamere, wenngleich zerbrochene »Venus« vom Galgenberg bei Stratzing (im Kremstal, NÖ, um 33.000 v. Chr.). Die Letztere ist vielleicht die älteste Steinplastik der Welt – sie teilt sich diesen Ruhm mit einer etwa gleich alten Darstellung aus der Höhe Hohlefels in Baden-Württemberg. Etwa dem Zeithorizont der Venus von Willendorf entstammen analoge Frauenfiguren aus Südmähren (Dolní Věstonice) und der Slowakei (Moravany nad Váhom). Über mehrere Jahrtausende hinweg entstanden zwischen Atlantik und Ural mehrere hundert solcher Frauendarstellungen. Die Bedeutung dieser ungewöhnlichen Kulturdenkmäler bleibt vorläufig ungewiss.

    Mit dem Klimawechsel nach dem Ende der Würm-Eiszeit (um 8000 v.Chr.) verschwanden die jagdbaren Groß-Säuger, die Vegetation änderte sich. Es wurde aber nicht kontinuierlich wärmer, vielmehr wechselten mehrere Wärme- und Kälteperioden einander ab. Entsprechend den veränderten Jagd-Gegebenheiten veränderten sich nun auch die Geräte. Sie wurden kleiner. Die Bearbeitung dieser verschiedenen Stein-Werkzeuge erreichte bereits einen sehr hohen Grad der Vervollkommnung (Mesolithikum, 8000 bis 5500/5000 v.Chr.).

    1.2 Von der neolithischen Revolution bis zum Regnum Noricum

    Ab ca. 9000/8000 v.Chr. vollzogen sich im Orient revolutionäre Veränderungen. In der »neolithischen Revolution« begann die Zähmung von Wildtieren, zuerst von Schafen und Ziegen, später von Schweinen und Rindern. Und es begann der systematische, wenngleich seinem Umfang nach noch bescheidene Getreidebau. Fast noch bedeutsamer war die Entdeckung, dass man Gefäße nicht nur mühsam aus Knochen, Steinen und Holz herausarbeiten, sondern auch aus bestimmten Ton-Erden formen und durch Brennen zu haltbarer Keramik gestalten konnte. Das Sachinventar wurde dadurch enorm bereichert. Schafwolle wurde versponnen und zu Stoffen gewebt. Spinnwirtel, Töpferscheibe und Webrahmen gehörten ebenso wie das Rad zu jenen anonymen, aber revolutionären Innovationen des Neolithikums, welche die Entwicklung der Menschheit entscheidend vorantrieben. Durch erhöhte Sesshaftigkeit entstand eine neue, bisher unbekannte Wohnkultur. Die Jungsteinzeitler bauten schon richtige Häuser. So wurde in Salzburg-Maxglan ein Haus der jüngeren Steinzeit mit 12 Meter Länge und 3,3 Meter Breite ausgegraben. In Brunn am Gebirge fand man 34 Langhäuser von 20 mal sieben bis acht Meter im Grundriss, die auf etwa 5600 bis 5100 v. Chr. datiert werden. Diese Siedlungs- und Wirtschaftsweise kann man schon als »bäuerlich« bezeichnen. Die Errichtung dieser Anlagen setzt bereits eine gewisse Koordination innerhalb von größeren familialen oder dörflichen Verbänden voraus. Die neuen Techniken (Ackerbau, Viehzucht, Töpferei, Spinnen und Weben) bewirkten Arbeitsteilung. Arbeitsteilung wiederum beschleunigt soziale Differenzierung sowie überregionalen Austausch. Sesshaftigkeit und Bevölkerungszunahme waren die gesellschaftlichen Folgen dieser Veränderungen. Im 5. Jahrtausend entstanden in Niederösterreich weitläufige, zuweilen sogar von zwei Gräben umschlossene Anlagen (Kreisgrabenanlagen) mit unklarer Funktion.

    Um 4000 v. Chr. wurde auch schon Bergbau betrieben (etwa auf der Antonshöhe in Mauer Wien XXIII), um den begehrten Hornstein als Rohmaterial für Feuersteingeräte zu gewinnen.

    Im 4. Jahrtausend wurde das Kupfer bekannt. Jetzt wurden jene Feuchtbodensiedlungen an diversen Seen des Alpengebietes und Alpenrandes errichtet, die man »Pfahlbaudörfer« genannt hat. Es wurden hier Gußlöffel und Gußkuchen als Überreste des Kupfergusses gefunden. Die Errichtung dieser Siedlungen kann daher auf die Suche nach Kupfer in den angrenzenden alpinen Regionen zurückgehen (Mondseekultur um 3600 bis 3500 v.Chr., Keutschacher See in Kärnten: 3850/3800 v.Chr.). Solche Siedlungen begegnen bis in die Eisenzeit hinein. In der Kupferzeit (»jüngeres Neolithikum«) lebte auch der »Ötzi« (ca. 3000 v. Chr.), dessen im Eis erstaunlich gut konservierten Überreste im September 1991 auf dem Hauslabjoch in 3200 m Seehöhe gefunden wurden. Werkzeug (Kupferbeil), Waffen (Dolche, Pfeile und Bogen) und Bekleidung (unter anderem eine Jacke aus Schaffell, hochgebirgstaugliches Schuhwerk) geben so detaillierte Auskunft über die Lebensverhältnisse dieses Menschen wie bisher noch kein anderer Fund.

    Ab der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends wurde die älteste neolithische Kultur im mitteleuropäischen Raum, die nach ihrem Verbreitungsgebiet so genannte »donauländische« Kultur, durch eine neue Richtung abgelöst. Bei diesen Menschen soll sich der Wandel zum (sprachlichen) »Indogermanischen« vollzogen haben.

    Der Beginn einer systematischen Metallverarbeitung am Ende des 3. und zu Beginn des 2. vorchristlichen Jahrtausends (»Bronzezeit«, von ca. 2300/2200 bis 800 v. Chr.) brachte weitreichende Veränderungen. Auf dem Mitterberg (bei Mühlbach am Hochkönig in Salzburg) und auf der Kelchalpe bei Kitzbühel begannen beachtliche Bergbautätigkeiten. Am Mitterberg hat man von etwa 1800 bis um 700/600 v. Chr. Kupfer abgebaut. In dieser Zeit wurden etwa 20.000 Tonnen Kupfer erzeugt. Das erforderte die koordinierte Arbeitsleistung von bis zu 1000 Menschen zur gleichen Zeit! Hier waren bereits spezialisierte Bergleute am Werk, deren Ernährung nur durch Zufuhren aus den Tälern gesichert werden konnte. Zum Teil könnten diese Leute während der günstigeren Jahreszeit auch eine Art Almwirtschaft zur Eigenversorgung betrieben haben, wie dies für die Kelchalpe vermutet wird. Der Bergbau erwies sich schon in der Vorzeit als wichtiges Medium für die Entstehung neuer Formen sozialen Zusammenlebens.

    In der späten Bronzezeit (1300/1200 bis 750/700 v. Chr.) breitete sich die vorherrschende Bestattungssitte der »Urnenfelder« relativ rasch über größere Gebiete Europas aus. Manche Forscher bringen diese »Urnenfelderwanderung« mit dem Einfall der »Seevölker« im östlichen Mittelmeerraum und mit der Dorerwanderung in Griechenland (um 1100 v.Chr.) in Zusammenhang. Große Befestigungsanlagen, Wallburgen, werden als (Stammes-) Zentren interpretiert, die durch mächtige Erdwälle gesichert waren und im Innern Wohnbauten, Speicher und Werkstätten enthielten, zum Teil aber auch unverbaut blieben (Stillfried an der March, Oberleiserberg, beide östliches Niederösterreich). Neben Streitwagenkriegern gab es auch Reiterkrieger. Beiden kam ein erhöhter sozialer Status zu.

    Die Verteilung der durch den Bergbau angesammelten Reichtümer erfolgte offenkundig recht ungleich. Noch deutlicher als beim Kupferbergbau lässt sich das beim Salzbergbau beobachten, dessen Blüteperiode fast zeitgleich mit dem Rückgang des Kupferbergbaues beginnt – zuerst in Hallstatt (danach benannt die »Hallstattkultur«, ca. 800 bis ca. 500 v.Chr.), dann auf dem Dürrnberg bei Hallein. Neben Bronze wurde übrigens auch schon Eisen (ab etwa 900 v. Chr.) verwendet. Man bezeichnet daher die Hallstattkultur auch als »ältere Eisenzeit«, die ab etwa 500 v. Chr. folgende La-Tène-Zeit hingegen als »jüngere Eisenzeit«. – Die ausgedehnten Gräberfelder von Hallstatt und vom Dürrnberg haben verschiedene Interpretationen gefunden. Reich ausgestattete Gräber mögen vielleicht »Fürstengräber« sein, diese Prunkgräber könnten aber auch reich gewordene Händler beherbergen, die ihren neu erworbenen gesellschaftlichen Status durch besonders reiche Grabbeigaben unterstreichen wollten. Waffenbeigaben kennzeichnen zweifellos Krieger. Besonders vornehme Tote wurden mit Wagen bestattet.

    Am Dürrnberg konnte Altersverteilung und Lebenserwartung der Menschen untersucht werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Neugeborene dürfte bei 26 Jahren gelegen sein. Hatte ein Mensch bis zum 20. Lebensjahr überlebt, dann konnte er immerhin ein Durchschnittsalter von 36,5 Jahren erreichen. Bei Frauen lag die höchste Sterblichkeit bei 20 bis 25 Jahren – offenbar eine Folge der großen Gefährdung im Zusammenhang mit Geburten.

    Ein besonders eindrucksvolles kulturelles Zeugnis jener Zeit bietet die Situlenkunst. Situlen sind Bronzeeimer, die sich als Grabbeigaben in einigen Gräbern in Norditalien, Tirol, Oberösterreich, Niederösterreich und Slowenien erhalten haben. Szenen von Gelagen – eventuell waren dies Kultgelage – sind etwa auf der Situla von Kuffern abgebildet, bei denen Männer mit ihren Rang unterstreichenden breitkrempigen Hüten dargestellt werden. Es finden sich aber auch Kriegerdarstellungen, berittene Krieger und solche zu Fuß (Vače, Slowenien). Auf einer Situla sind Streitwagen abgebildet (ebenfalls Vače), die man seit etwa 1500 v. Chr. kannte. Im Begräbnisritual der vornehmen Herren wurde der Verstorbene auf einen vierrädrigen Wagen aufgebahrt und mit dem Wagen sowie mit reichen Beigaben von Waffen, Würdezeichen, Speisen und Trinkgarnituren in einem großen Hügel bestattet. Bedeutende Zeugnisse der (östlichen) Hallstattkultur bargen Siedlung und Nekropole auf dem Burgstallkogel zwischen Gleinstätten und Kleinklein (Gem. Großklein) zwischen Sulm- und Saggautal aus der Zeit von 800 bis 600 v.Chr. Die Nekropole ist die größte der kontinentalen Eisenzeit mit ursprünglich mindestens 2000 Grabhügeln (Tumuli). Neben den gewöhnlichen Begräbnissen fallen durch Größe und Funde (etwa eine bronzene Gesichtsmaske) vier so genannte »Fürstengräber« auf. In das 7. Jahrhundet v. Chr. wird auch der berühmte »Kultwagen« von Strettweg bei Judenburg datiert – ein mehr als 40 cm hoher Wagen mit vier Speichenrädern, auf dessen Plattform stehend eine größere weibliche Figur, umgeben von kleineren Menschen und Tieren, eine Schale hält. –

    Die keltischen Wanderungsbewegungen, als deren Folge die »Hallstattkultur« durch die »La-Tène-Kultur« (ca. 500 v. Chr bis um Christi Geburt) ersetzt wurde, bedeuteten sicher keinen völligen Wechsel der Bevölkerung. In abgelegenen Alpengebieten Tirols hat sich überhaupt eine ältere Kultur (Melauner Kultur) relativ unberührt von den Ereignissen in den günstigeren Siedlungslandschaften erhalten. Wenn im Ostalpenraum jetzt »Kelten« lebten, dann bedeutet dies häufig wohl nur einen Wechsel der tonangebenden Führungsgruppen. Vielleicht waren für die Formierung gallischer Stämme auch einheimische vorkeltische Traditionen wichtig – etwa die Verehrung von Gottheiten, die möglicherweise in den Namen »Rätien« und »Noricum« erhalten blieben.

    Diese späteisenzeitliche Expansionsbewegung war auch eine Zeit wachsender Bevölkerung. Die Gehöfte standen schon häufig in dorfähnlichen Verbänden. Im Zuge der keltischen Expansion wird erstmals auch so etwas wie eine Stammesgliederung sichtbar. Um 186–183 v. Chr. traten die Römer Versuchen alpenkeltischer Gruppen entgegen, sich in der Nähe des späteren Aquileja niederzulassen. Dabei wurden – von Livius – verschiedene Namen von Stämmen genannt, die wohl in Slowenien zu lokalisieren sind. Daneben kommt ein nicht namentlich bezeichneter größerer Stamm (gens) vor, bestehend aus populi (vielleicht Gaue?), der mit großer Wahrscheinlichkeit in Kärnten lebte. Die Verfassung dieser gentes war vermutlich aristokratisch. Von inneren Spannungen, eventuell Folge eines raschen Bevölkerungswachstums, wird berichtet. Wenig später (171/170 v. Chr.) erscheint in diesem Raum ein Königtum – das des Cincibilus –, welches sich wohl auf einen bestimmten Stamm bezog, unter dessen Führung aber auch noch andere Stämme (socii) standen. Man vermutet in diesen Vorgängen jene Prozesse, aus denen das später so genannte »norische Königreich« (regnum Noricum) hervorging. Soziale Spannungen führten zu Auswanderungsversuchen (186–183 und 179) nach Oberitalien.

    Der norische Stammesname galt offenbar für den führenden Stamm in einer breiteren Konstellation. Er hängt mit einer Göttin »Noreia« zusammen, die möglicherweise als Ahnmutter der Noriker galt. In das regnum waren auch zahlreiche andere Stämme eingegliedert, deren Namen uns aber erst zur Zeit der anbrechenden Römerherrschaft überliefert sind, unter anderem die Ambidravi an der Drau, die Ambilini im Gailtal, die Latobici in der Steiermark, die Taurisker in Slowenien, die Laianci in Osttirol, die Saevates im Pustertal. Dabei ist nicht so sehr an einen Bund gleichberechtigter Stämme zu denken als vielmehr an eine Form, in der die diversen Stammes-Chefs in möglicherweise auch gestufter Abhängigkeit zum norischen König standen. Die Stammesbildung der norischen Kelten wurde sicher durch die Lage am Rande des expansiven Imperium Romanum gefördert. Der Druck, der von großen Reichen ausgeht, begünstigt Zusammenschlüsse. Andererseits hatte das Römerreich selbst Interesse an einer Herrschaftsordnung, die den Alpenraum befriedete und vor allem die Bezugsquellen des in Italien begehrten »norischen Eisens«, das aus dem heutigen Kärnten stammte, sicherte. Die engen Beziehungen zwischen Aquileja (gegründet 181 v. Chr.) und dem Zentrum des norischen Reiches auf dem Magdalensberg reflektieren dieses Interesse. Die Bauten auf dem Magdalensberg zeigen starke italische Einflüsse.

    Oppida wie jenes auf dem Magdalensberg entstanden im 2. und 1. vorchristlichen Jahrhundert in größerer Zahl. Vermutlich waren sie politische, religiöse und wirtschaftliche Zentren gentiler Einheiten (civitates) – »Stämme«. Die Kultur dieser oppida war stark von der städtischen Kultur des Mittelmeerraumes beeinflusst. Diese frühstädtische Gestaltung der norischen Gemeinwesen begünstigte später deren Eingliederung in das Imperium Romanum. Besonders der Raum des späteren Binnennoricum war darauf schon gut vorbereitet.

    1.3 Die römische Expansion – Rätien, Noricum, Pannonien

    Durch die Eroberungskriege von Drusus und Tiberius 15 v. Chr. wurde die Eingliederung der Ostalpengebiete und des Alpenvorlandes bis zur Donau in das Imperium Romanum vorbereitet. Noricum, schon bisher in engster Verbindung mit Rom, wurde friedlich integriert. Anders die Pannonier, die wenig später unterworfen wurden. Ein heftiger Aufstand dieser Völkerschaften (6–9 n. Chr.) beschäftigte Tiberius durch einige Jahre und verhinderte nebenbei die Eroberung Germaniens. Unter Claudius wurden Rätien, Noricum und wohl auch Pannonien als Provinzen eingerichtet, die Stadt auf dem Magdalensberg (Virunum) wurde Sitz der römischen Verwaltung, aber bald als Höhensiedlung aufgegeben und in der Ebene nach klassischen römischen Mustern neu errichtet. Pannonien wurde unter Traian 106 n. Chr. geteilt, Hauptstadt der Pannonia Superior wurde Carnuntum, jene der Pannonia Inferior Aquincum (Buda). Unter Diocletian erfolgte eine weitere Verkleinerung der Provinzen. Noricum zerfiel jetzt in Noricum ripense (zwischen Donau und Alpenhauptkamm) und Noricum mediterraneum (zwischen Alpenhauptkamm und Gebirgszügen der Südalpen); Pannonien, traditionell in Ober- und Unterpannonien unterteilt, wurde sogar viergeteilt: In die Pannonia prima (von der Donau und dem Wienerwald bis etwa zum Plattensee und zur Drau), die Pannonia Savia (von der Drau bis südlich der Save), die Pannonia secunda (östlich anschließend – Ostslawonien bis zur Donau) und Pannonia Valeria (vom Plattensee bis zur Donau und zur Drau). Gruppen von Provinzen fasste man zu Diözesen zusammen: Die beiden Noricum, die pannonischen Provinzen und die Provinz Dalmatia bildeten die pannonische Diözese. Raetien hingegen gehörte zu Italien.

    Die Mittelpunktsiedlungen der (keltischen) civitates wurden von den Römern früher oder später in die Ebene verlagert. Solche Siedlungsverlegungen begleiteten offenbar die Gründung von Virunum (auf dem Zollfeld), von Carnuntum im östlichsten Niederösterreich, aber auch von Aguntum (Osttirol), Teurnia (auf dem Lurnfeld in Kärnten) und Iuvavum (Salzburg). Diese Mittelpunktsorte erhielten denn auch als erste die Selbstverwaltungsrechte römischer municipia. Um 124 n.Chr. weilte Kaiser Hadrian in Pannonien und verlieh Carnuntum das Stadtrecht. Die Siedlung hieß jetzt Municipium Aelium Carnuntum. Große kommunale Vorhaben wurden begonnen, Carnuntum wurde langsam zur Großstadt. Auch Ovilava (Wels) und Cetium (St.Pölten) wurden zu Munizipien erhoben. Später konnte ein solcher munizipaler Rang auch den im Zusammenhang mit Legionslagern entstandenen Zivilsiedlungen zuerkannt werden, so Lauriacum (Lorch bei Enns) und Vindobona (Wien). Erst im 4. Jahrhundert erfolgte der Aufstieg von Aelium Cetium (St. Pölten), das offenbar zur Zeit Konstantins des Großen ausgebaut wurde und vermutlich als Verteilerstation für eine ganze Reihe von Limeskastellen (Favianis/Mautern, Augustianis/Traismauer und Asturis/Zwentendorf) diente. Trotz dieser Städte im Norden war Noricum mediterraneum (Binnennoricum) südlich des Alpenhauptkammes wesentlich städtereicher. Zuletzt bestanden in den drei Provinzen folgende städtische Siedlungen: In Ufernoricum (Noricum ripense) Lauriacum, Ovilava (Wels), Cetium (St. Pölten) und Iuvavum (Salzburg); in Binnennoricum Virunum (auf dem Zollfeld), Aguntum (bei Lienz), Teurnia (St. Peter in Holz), Flavia Solva (bei Leibnitz) sowie Celeia (Cilli, Celje), in der Pannonia prima neben Vindobona und Carnuntum die in Ungarn liegenden Savaria (Steinamanger, Szombathély), Scarabantia (Ödenburg, Sopron), Brigetio (Alt-Szöny), Arrabona (Raab, Győr), Mogentiana (Nähe Plattensee), Mursella und das heute slowenische Poetovio (Pettau, Ptuj). Poetovio wurde später zu Noricum gezählt. In der Raetia prima gab es neben Brigantium (Bregenz) nur zwei Städte: Curia (Chur) in der Schweiz und Campodunum (Kempten) im Allgäu; auch die Raetia secunda hatte nur drei municipia, nämlich Augusta Vindelicorum (Augsburg), welches Stadtgebiet auch den größten Teil Nordtirols mit umfasste, Castra Regina (Regensburg) und Quintana (Künzing, zwischen Regensburg und Passau).

    Die römische Welt war eine Welt der Städte. Rom, die urbs schlechthin, hatte ihr eigenes Stadtgebiet weit ausgedehnt, darüber hinaus bestand ein Netz von Städten, die irgendwie zu Rom gehörten. Freilich war dieses Netz von Städten nicht lückenlos. Es gab Gebiete, die nicht zu einem Stadtgebiet gehörten. Dort lebten die Nicht-Römer, peregrini, in civitates oder pagi (Gaue), von pagenses besiedelt – ein abwertender Begriff, der später nicht zufällig »Heiden« bedeutete. Eine solche civitas bildeten jene Boier, deren Mittelpunktsiedlung wahrscheinlich die Vorgängersiedlung von Carnuntum war (civitas Boiorum, zur Zeit nimmt man den Burgberg von Bratislava als diesen Ort an).

    Die neuen municipia zogen verschiedene Leute an, Römer und Nichtrömer. Die Selbstverwaltung der Munizipien und der etwas höherrangigen coloniae war der römischen nachgebildet. Zwei- bzw. Viermännerkollegien standen an der Spitze (duoviri iure dicundo, duoviri aedilicia potestate). Sie gehörten der politisch allein voll berechtigten Gruppierung an, dem ordo decurionum. Position und Funktion der städtischen Dekurionen war durch ihr Vermögen, in erster Linie durch ihren Grundbesitz bestimmt. Durch die Bekleidung öffentlicher Ämter wurden Ehre und Ansehen gesteigert. Allerdings mussten die Inhaber der städtischen Spitzenpositionen auch die Kosten für die öffentlichen Gebäude und andere Auslagen tragen (System der Leiturgie). So hat zum Beispiel ein gewisser C. Domitius Zmaragdus in Carnuntum den Bau eines Amphitheaters aus eigener Tasche finanziert. Dieses System funktionierte so lange, als das Reich in Blüte stand und die Übernahme öffentlicher Ämter nicht bloß eine Ehre bedeutete, sondern auch weitere Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete. Es drohte aber zusammenzubrechen, als die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Reiches nach Seuchen und Barbareneinfällen im 2. und 3. Jahrhundert immer mehr zurückging. Daher wurde in der letzten Phase der Kaiserzeit die Mitgliedschaft im ordo decurionum erblich, um auf diese Weise die leiturgischen Leistungen für die Allgemeinheit sicherzustellen.

    Den zweiten Rang hinter dem Ordo der Dekurionen nahmen in der Hierarchie der Kaiserzeit jene reichen Freigelassenen ein (liberti), die zwar nicht Dekurionen, wohl aber Priester des kaiserlichen (Staats-) Kultes werden und daher verschiedentlich einen eigenen ordo Augustalium bilden konnten. Der Freigelassene gehörte auch nach der Freilassung zur Klientel seines Herrn und war diesem bis zu dessen Tod verpflichtet. Durch die – wieder – mit erheblichen materiellen Opfern verbundene Übernahme jener priesterlichen Funktion konnte der libertus deutlich an Prestige gewinnen. Die nach der Freilassung geborenen Kinder des Freigelassenen galten als Vollbürger.

    Unterhalb dieser beiden Schichten rangierten die arbeitenden Menschen, Bürger und Nichtbürger, Freie und Sklaven. Der Lebensstandard dieser plebs urbana war als Folge von Maßnahmen zur Sicherung der Ernährung und zur Erhöhung der Bequemlichkeit (Errichtung von Bädern) wesentlich höher als jener der ländlichen Unterschichten, jener Leute, die von Ackerbau und Viehzucht lebten. Soweit die städtische plebs bestimmten Berufen nachging, war sie in besonderen collegia zusammengefasst. Solche sind auch in Munizipien auf österreichischem Boden nachgewiesen (Carnuntum, Flavia Solva). Junge Leute bildeten die sogenannten collegia iuvenum, die neben religiösen auch Aufgaben der Wehrertüchtigung wahrzunehmen hatten.

    Rechtlich am schlechtesten standen die Sklaven. Freilich verbesserte sich der Status in der Spätantike, wohl auch deshalb, weil der Nachschub an Sklaven aus Eroberungskriegen zurückging und die Reproduktion im Reich selbst nicht ausreichte. Hadrian verbot 121 n. Chr. die Tötung der eigenen Sklaven. Sklaven und Freigelassene waren auch im kommerziellen Bereich tätig, häufig auf Rechnung ihrer Herren. So haben zahlreiche Sklaven und Freigelassene der Barbii aus Aquileja in den Städten Noricums und Pannoniens als geschäftliche Agenten ihrer Herren gewirkt – nebenbei ein schönes Beispiel für die beherrschende Rolle, die Aquileja in den ökonomischen Beziehungen zwischen Italien und den Donau- und Alpenprovinzen spielte. Ein berührendes Exempel der menschlichen Beziehung zwischen Sklaven und Herrn bietet jener Grabstein aus Carnuntum, den ein wohlhabender Herr seinem 26-jährigen Sklaven Florus setzen ließ.

    Mit der Constitutio Antoniniana von 212 n. Chr. wurde allen freien Bewohnern des Reiches das Bürgerrecht verliehen. Durch diesen Akt wurde die Entwicklung einer gleichberechtigten (oder besser: gleich rechtlosen) breiten Schicht von humiliores vorangetrieben, denen die wenigen bevorrechteten honestiores umso deutlicher gegenübertraten.

    Über die Kultur der römischen Städte informieren zahlreiche Bodenfunde. Große Tempelanlagen dienten dem Staatskult der römischen Götterwelt und damit auch der vergöttlichten Kaiser. Daneben fanden auch andere Kulte Verbreitung, so jener der ägyptischen Göttin Isis (Carnuntum), vor allem aber die persische Mysterienreligion des Mithras (Mithräen in Carnuntum, Poetovio und anderen Orten). Die Alltagsreligiösität fand in zahlreichen Darstellungen der Laren, der Hausgötter, ihren Ausdruck. Daneben und davon nicht zu trennen wurden magische Praktiken geübt, denen wiederum zahlreiche verschiedene Gegenstände wie phallische Darstellungen usw. dienten.

    Der Körperpflege, dem Sport, dem Zeitvertreib ebenso wie dem Austausch von Informationen dienten die Thermen, von denen eine in Carnuntum 2010 rekonstruiert wurde. Die Anlage stand mit einem Abwasserkanal, einer cloaca, in Verbindung, die zur Donau führt. Die wichtigen Straßen der Städte waren mit großen Steinen gepflastert.

    Das gilt auch für die bedeutenden Überlandstraßen. Neben der Straße über den Reschenpass von Italien nach Augusta Vindelicum (Augsburg) war die gut ausgebaute Bernsteinstraße von Aquileja über Emona (Ljubljana), Celeia, Poetovio, Savaria (Szombathély), Scarabantia (Sopron) nach Carnuntum bzw. Vindobona die wichtigste Verbindung. Von hier führte sie weiter entlang der March nach Mähren und Schlesien, und von dort an die Ostsee, woher das begehrte Mineral ja stammte.

    Die Straßen dienten nicht nur dem Militär und der staatlichen Post, sondern auch dem Handel. Das wichtigste Exportprodukt Noricums war das norische Eisen. Aus dem Mittelmeerraum wurde das unentbehrliche Olivenöl eingeführt, sowie terra sigillata, keramische Massenware. Aber auch bessere Stoffe und Gewürze kamen von auswärts, aus den östlichen Provinzen des Reiches. Die Donau war als Verkehrsweg nur bedingt brauchbar, da die reichen Herkunftsgebiete begehrter Waren im Osten lagen – der Zug auf der Donau stromaufwärts war aber nur bei extrem teuren Gütern rentabel. Vielleicht kamen Güter aus Gallien zu Schiff donauabwärts. Den Weinbau soll nach einer bekannten Überlieferung der Kaiser Probus (276–282) in das Donauland gebracht haben – doch war er schon vor ihm hier heimisch.

    Die Provinzen lagen an der Grenze, am limes. In unseren Breiten bildete die Donau diese Grenze. Nur vorübergehend beherrschten die Römer jenseits der Donau Dacien (Teile des heutigen Rumänien). Immer wieder war das Grenzland Schauplatz von Kämpfen. Das begann schon mit dem späteren Kaiser Tiberius, der 6 n. Chr. bei Carnuntum seine operative Ausgangsbasis für den geplanten Krieg gegen den Markomannenkönig Marbod errichtete. Der Ausbruch des pannonischen Aufstandes verhinderte den Angriff auf das Marbod-Reich und verwickelte Tiberius in einen langwierigen Guerilla-Krieg zwischen Donau und Balkan. Nach der Beruhigung der Lage wurde in Carnuntum ein stabiles Legionslager errichtet (40/45 n. Chr.). Durch lange Zeit herrschte dann relative Ruhe, wobei die umsichtige römische Diplomatie die unruhigen germanischen Völker stets achtsam im Auge behielt. Der große Einfall der Markomannen änderte die Situation grundlegend. Kaiser Mark Aurel führte von 171–173 persönlich das Kommando an der Donau, Ausgangspunkt seiner Operationen gegen Markomannen, Quaden und Sarmaten war Carnuntum (Markomannenkriege, 166–180 n. Chr.). Hier schrieb er das zweite Buch seiner berühmten philosophischen Betrachtungen unter dem Titel »eis heauton« (ἐις ἑαυτόν – an sich selbst). Auf den 11. Juni 172 wird das auf der Mark-Aurel-Säule in Rom verewigte Regenwunder im Quadenland datiert, das die römischen Truppen vor dem Verdursten in den barbarischen Gefilden – vermutlich – des nordöstlichen Niederösterreich rettete.

    Aber auch die Siege Mark Aurels brachten nur eine vorübergehende Beruhigung. Neue Befestigungen wurden angelegt, ältere verstärkt. Eine Kette von Legionslagern, Munizipiaen und Kastellen begleitete die Donau bis zur Mündung. Sie wurden im 2. und 3. Jahrhundert errichtet und bis ins 4., ja vereinzelt bis ins 5. Jahrhundert immer wieder erneuert. Auch nördlich der Donau existierten für längere oder kürzere Zeit befestigte Posten oder militärische Lager, so in Stillfried oder am Oberleiserberg in Niederösterreich.

    Dennoch durchbrachen die »Barbaren« immer wieder auch diese stark gesicherte Grenze. So nach den Markomannen die Alamannen und mit ihnen verbundene Gruppen im 3. Jahrhundert. Sie verheerten Rätien, aber auch den Westen Noricums, erstmals 213, dann wieder 233, 235, 254 und 260, als sie sogar bis Mailand vordrangen. Zur selben Zeit rumorten die Goten an der unteren Donau, auch Markomannen und Quaden im Vorfeld Pannoniens und Noricums wurden wieder lästig. Die »Soldatenkaiser« des 3. Jahrhunderts, meist tüchtige Feldherren, reagierten mit einer extremen Bevorzugung des Militärs, dessen Sold mehrfach erhöht wurde – mit der Folge einer rasch wachsenden Bedrückung der Zivilbevölkerung.

    In Carnuntum wurde 193 n. Chr. Septimius Severus (193–211) zum Kaiser ausgerufen und brach von hier aus zum erfolgreichen Kampf um Rom auf. Später erhielt die Stadt den Status einer Colonia (Colonia Septimia Aurelia Antoniniana Karnuntum). Im Jahre 308 traf sich hier Diocletian mit den beiden Kaisern Maximian und Galerius, um über die Zukunft des von Diocletian erfundenen Modells der Tetrarchie (zwei Kaiser plus zwei unterstützende Caesares) zu beraten. Die Maßnahmen Diocletians und Konstantins versuchten die Effizienz von Zivil- und Militärverwaltung zu steigern, waren aber teuer und bedrückten insbesondere die besitzenden Schichten der Städte. Constantius II. ließ um 360 das einzige bauliche Großdenkmal errichten, das im Donaugebiet oberirdisch erhalten blieb: Das so genannte »Heidentor« bei Petronell, von dem nur sicher ist, dass es niemals ein »Tor« war, und das derzeit als Monument der Wiederherstellung der Grenzsicherheit interpretiert wird. Aber Pestzüge und Erdbeben schwächten die Verteidigungsbereitschaft weiter – um 355 wurde Carnuntum durch ein Erdbeben schwer beschädigt. Als wahrscheinlich letzter Kaiser hielt sich Valentinian I. an der Donau auf und bekämpfte von dem noch in Trümmern liegenden Carnuntum aus die Quaden (364–375 n.Chr.). Noch einmal wird die Erneuerung der Befestigungen am Donaulimes bezeugt.

    Karte 1: Österreich und seine Nachbargebiete im 4. Jahrhundert n. Chr.

    1.4 Völkerwanderung und Kontinuitätsfage

    Und nun kam die Völkerwanderung. Ob da tatsächlich »Völker« gewandert sind, oder Armeen von Jungmannschaften, die von der Aussicht auf Beute und auf ein schöneres Leben im sonnigen Süden getrieben wurden, können wir hier offen lassen. Jedenfalls wurde die Bewegung der sowieso stets unruhigen Barbaren jenseits der Grenzen immer weniger kontrollierbar. Schon bisher hatte man germanische, sarmatische und andere Krieger als Söldner verwendet oder als foederati, als Bundesgenossen in das römische System eingegliedert. Infolge des Bevölkerungsrückganges im Reich wurden sie immer öfter auch angesiedelt. Mit dem Auftreten der Hunnen in Osteuropa (375) erhielten diese Probleme eine neue Dimension. Vor dem Einbruch dieser asiatischen Reiter, welche zunächst die Ostrogoten unterworfen hatten, wichen die Visigoten (»Westgoten«) über die untere Donau ins Reich aus. 378 besiegten sie das kaiserliche Heer bei Adrianopel. 410 eroberten sie unter Alarichs Führung sogar Rom! Die traditionelle Grenzsicherung wurde brüchig. Um 430 überließ man den Hunnen, die sich in der ungarischen Tiefebene festgesetzt hatten, Pannonien im Rahmen eines foedus (Bündnisvertrag). Neue Stammesnamen begegnen im Grenzland oder nördlich davon: Rugier, Eruler, Langobarden. Alte wie die der Markomannen oder Quaden verschwinden. Im 5. Jahrhundert fielen Thüringer, Alemannen, Goten ein. Nach dem Ende des Hunnenreiches (454 n. Chr.) verselbstständigten sich die bisher den Hunnen verpflichteten Alanen, Gepiden und Ostgoten, die zunächst Pannonien und den Balkan unsicher machten, bevor sie, offiziell im Namen (Ost-) Roms, als »Goten« den in Italien seit 476 herrschenden König Odoaker bekämpften und besiegten. Das Gotenreich Theoderichs (493–526) umfasste Binnennoricum mit, Ufernoricum dürfte nach den Rugiern von den Langobarden beherrscht worden sein, die bis um 500 auch nördlich der Donau siedelten. Die Raetia secunda war seit etwa 450 aufgegeben worden, hier begann die Ethnogenese der Bajuwaren. Die Raetia prima gehörte offensichtlich noch zum Reich Theoderichs. Aber eine Art Oberhoheit übte dieser Herrscher wohl auch noch über das Land bis zur Donau aus.

    Und doch wuchs in dieser trüben Zeit eine neue Kraft von größter historischer Bedeutung – das Christentum. Bekanntlich wurde das Christentum seit 312 toleriert, seit 391 galt es als Staatsreligion. Der außergewöhnliche Aufschwung dieser neuen Erlösungsreligion beruht zunächst auf der Faszination, die ihre Antworten auf die bangen Fragen der bedrückten Menschen ausübten. Seit Konstantin kam aber eine immer engere Verbindung mit dem Reich dazu. Die kirchlichen Verwaltungssprengel wurden an jene des Staates angeglichen. Bischofssitze sollten prinzipiell nur in städtischen Siedlungen situiert werden. Binnennoricum war wesentlich stärker urbanisiert als die übrigen Gebiete. Hier sind daher Bischofssitze sicher in Virunum, Aguntum und Teurnia nachweisbar, ferner in Celeia und Poetovio. Ufernoricum hatte nur einen sicheren Bischofssitz, nämlich Lauriacum (Lorch(; Ovilava (Wels) und Favianis (Mautern) sowie Asturis (Klosterneuburg) sind unsicher. In der Raetia I war nur Chur und in der Raetia II nur Sabiona (Säben, oberhalb Klausen, Südtirol) mit Sicherheit Bischofssitz, in der Pannonia I Scarabantia (Ödenburg, Sopron).

    Verlor gerade durch seinen wachsenden Zwangscharakter der Staat immer mehr an Anziehungskraft, so entfalteten kluge und tatkräftige Männer in kirchlichen Ämtern, vom Staate relativ unbehelligt, schöpferische Initiativen. Diese Menschen erlangten in ihren Gemeinwesen eine immer größere Bedeutung, umso mehr, als die staatliche Hierarchie in den Wirren des 4. und 5. Jahrhunderts an Wirkungskraft verlor und sich in den Randprovinzen des Reiches auch zurückbildete.

    Für den norischen Bereich des 5. Jahrhunderts besitzen wir ein Zeugnis ersten Ranges über das Wirken eines solchen Mannes – Severinus (gestorben 482 in Favianis). Selbst aus einer Familie der Oberschicht stammend, vielleicht sogar vorher Inhaber hoher Staatsämter, wurde Severin nach einem Bekehrungserlebnis die Zentralfigur für alle Lebensbereiche im noch römischen Noricum und in seinen rätischen Nachbargebieten. Obgleich das nicht im Zentrum des Interesses des Eugippius, des Biographen Severins, stand, enthält die Lebensbeschreibung Severins zahlreiche Angaben über die Verhältnisse der Zeit.

    Ein »städtisches« Leben im traditionellen Sinne existiert kaum mehr. Die Bevölkerung hatte sich in Militärlager und sonstige, im 4. und 5. Jahrhundert noch ausgebaute befestigte Stützpunkte (burgi) zurückgezogen. Immerhin existiert eine ausgeprägte kirchliche Organisation – Bischöfe, Priester, Mönche. Besonders das Mönchtum wurde von Severin gefördert und durch Klostergründungen unterstützt. Die Bevölkerung ist durchwegs christlich, das Glaubensleben hing mit dem täglichen Leben eng zusammen – Eugippius berichtet von Fasten und Gebeten zur Abwehr von feindlichen Einfällen, Heuschrecken usw. Heidnische Kulthandlungen wurden nur mehr vereinzelt und nur im Geheimen ausgeübt (belegt für Cucullis/Kuchl). Vor dem Druck der Alemannen und der Thüringer organisierte Severin die Rücknahme der romanischen Bevölkerung donauabwärts: von Künzing über Passau bis Lorch. In diesem Restbestand Ufernoricums lebten die Römer dann unter dem Schutz der Rugier, bis nach dem Sieg Odoakers über diese Germanen (Ufer-)Noricum auch offiziell aufgegeben und die romanische Bevölkerung nach Italien geführt wurde (488).

    Zur Zeit Severins lebte die Bevölkerung überwiegend bäuerlich. Auch die »Bürger« von Passau oder Lauriacum waren auf die Erträgnisse ihrer Felder angewiesen. Eine Frau aus Iuvavum (Salzburg) nahm nach ihrer auf ein Gebet Severins hin erfolgten Heilung von schwerer Krankheit ihre Arbeit (opus agrale) »mit eigenen Händen« wieder auf – was Eugippius seinen italienischen Lesern mit iuxta morem provinciae (wie es in der – oder in dieser? – Provinz üblich ist) erläuterte. Denn immer noch galt Handarbeit als opus servile, als sklavische Verrichtung, die man als freier Mensch eigentlich vermied.

    Neben den Resten einer provinzialrömischen Oberschicht und den kleinbäuerlichen cives der verschiedenen castella begegnen pauperes, arme Leute und besitzlose Flüchtlinge. Zu deren Versorgung diente der Zehent, den die Kirche organisierte. 472 musste man allerdings mit den auf diese Weise gesammelten Kleidern den Abzug der (Ost-) Goten von der damaligen Hauptstadt Binnennoricums, Teurnia (St. Peter in Holz), erkaufen. Und nach dem Tode Severins plünderte der Rugierkönig Ferderuch die aufgestapelten Vorräte im Kloster des Heiligen zu Favianis. Immerhin kam noch Olivenöl über die Alpen. Bis 476 scheint es hin und wieder auch noch Sold gegeben zu haben, da sich einmal Soldaten aus Passau aufmachten, solchen aus Italien zu besorgen (sie sind dabei umgekommen). Die Donau diente noch einem gewissen Handelsverkehr. So kamen Frachtschiffe mit Getreide, die auf dem Inn durch Eis festgehalten worden waren, nach dem Tauwetter bis nach Favianis. Jenseits der Donau, im Rugierland, gab es einen Markt (beim heutigen Krems?), wo sich die Barbaren mit Gütern aus dem Römischen eindeckten. Kaufleute aus Passau baten Severin, der mit den Rugiern ein recht einverständliches Verhältnis herstellen konnte, er möge ihnen bei diesen eine Handelslizenz erwirken.

    Die weströmische Geschichte des 4. bis 6. Jahrhunderts wird gerne als Verfallsgeschichte geschrieben. Das war sie wohl auch, angesichts der andauernden Einfälle und Durchzüge barbarischer Völker – aber auch die Züge der barbarisierten römischen Heere waren für die Betroffenen nicht weniger katastrophal. Dennoch ist ein differenzierter Blick notwendig. Die eindrucksvollen Kirchenbauten von Virunum, Lauriacum, Teurnia oder Aguntum, die Doppelkirchenanlagen auf dem Kärntner Hemmaberg oder die bemerkenswerten Gutshöfe von Loig bei Salzburg und bei Bruckneudorf (Burgenland), der noch nach 355 n. Chr. prächtig ausgebaut wurde, können ebenso wenig als bloße Verfallsprodukte analysiert werden wie die starken Befestigungen des 4. und noch 5. Jahrhunderts, die sich zum Teil in mittelalterlichen Stadtmauern erhalten haben, wie die »Hufeisentürme« in Mautern, Tulln und Traismauer. Das Reich entwickelte eine erhebliche Widerstandskraft, deren kulturelle Ausdrucksformen bis heute beeindrucken. Im 5. und 6. Jahrhundert zog sich das »römische« (= christliche) Leben freilich immer mehr in meist befestigte Höhensiedlungen zurück: Die Bewohner von Flavia Solva auf den Frauenberg bei Leibnitz, die von Iuenna auf den Hemmaberg, die von Aguntum auf den Lavanter Kirchbichl, wo auch der Bischof von Aguntum residierte. Auf dem Hemmaberg entwickelte sich ein frühchristliches Pilgerheiligtum mit (mindestens) zwei Doppelkirchen. Eine Besonderheit ist die stark befestigte Höhensiedlung auf dem Duel im Kärntner Drautal. Die romanischen Höhenbewohner waren weitgehend autark, nur das Olivenöl kam immer noch aus Italien. Die Gebrauchskeramik wurde ohne Töpferscheibe produziert. Diese Siedlungen blieben bis ins 6. bzw. frühe 7. Jahrhundert in Gebrauch. Die am Hemmaberg wurde im ausgehenden 6. Jahrhundert zerstört. Man wird diese Katastrophe mit der slawischen Landnahme erklären können.

    Die Kontinuitätsfrage ist daher sehr unterschiedlich zu beantworten. In Pannonien gab es wahrscheinlich schon seit dem frühen 5. Jahrhundert nur mehr Reste römischen Lebens. Die Provinz wurde um 430 faktisch aufgegeben. Hier lebten verschiedene Barbaren – Goten, Alanen, dann Hunnen, dann wieder Goten, im 6. Jahrhundert die Langobarden, ab 568 die Awaren. An die Reste der römischen Städte scheinen sich freilich immer wieder Siedlungen ankristallisiert zu haben, so in Wien. Aus jenem Teil Ufernoricums, der zuletzt unter rugischer Hoheit stand, also zwischen Traun (oder Enns) und Wienerwald, dürfte die romanische Bevölkerung 488 weitgehend abgezogen sein. Hier ist im Vergleich zu den westlichen Gebieten die Kontinuität der Siedlungsnamen sehr gering. Westlich davon existiert nicht bloß eine stärkere Namenskontinuität (Lorch, Linz, Wels, Passau, Regensburg), sondern auch eine starke Siedlungskontinuität. Viele Romanen gab es bis ins 9. Jahrhundert im Raum von Salzburg, besonders südlich der Stadt, aber auch in breiter Streuung im bayerischen, salzburgischen und oberösterreichischen Alpenvorland. Weiter westlich lebte eine romanisierte, in ihrem Selbstverständnis aber an vorrömischen Einheiten orientierte Bevölkerung. So sollen die Breonen (im heutigen Tirol) im 5. Jahrhundert vorübergehend sogar einen eigenen »König« gehabt haben. In der Raetia I hat mit dem Zentrum Chur die spätantike Einheit von Kirchensprengel und Verwaltungsgebiet unter bischöflicher Führung eine Fortsetzung bis in die Karolingerzeit gefunden; das südliche Vorarlberg gehörte dazu.

    Die Raetia II war aber seit der Mitte des 5. Jahrhunderts faktisch in der Hand der Alemannen. In Binnennoricum lebte die Spätantike, wie schon betont, noch länger fort. In das erste Viertel des 6. Jahrhunderts sind die bemerkenswerten Mosaiken von Teurnia zu datieren, als deren Stifter sich ein Ursus vir spectabillis und seine Frau Ursa verewigt haben. Dieser Ursus kann ein von Theoderich eingesetzter »Grenzgeneral« für Binnennoricum gewesen sein, vielleicht analog zu einem dux vir spectabilis Servatus in Rätien. Ebenfalls unter Theoderich bzw. Kaiser Justinian lebte in Kärnten ein als Heiliger verehrter Diakon Nonnosus, der 532 starb. Seine Grabinschrift wurde mitsamt seinen Gebeinen später in die Kirche von Molzbichl transferiert – offenbar hat hier eine romanische Gemeinde ihr Christentum auch nach der slawischen Landnahme beibehalten. Zur Zeit Tassilos III. wurde gerade hier ein Kloster gegründet.

    Noch um 590 sind die binnennorischen Bistümer belegt, aber gefährdet: 587 floh Bischof Johannes von Celeia (Celje) nach Italien. Kurz darauf sind jene Bistümer verschwunden. Sie wurden offenkundig ein Opfer der Slaweneinfälle, denn ab 592 sind Kämpfe zwischen Baiern und Slawen bezeugt. Um 610 erlitten die Baiern bei Aguntum eine kräftige Niederlage gegen diese.

    Die Salzburger Mission des 8. und 9. Jahrhunderts knüpfte im früheren Binnennoricum immer wieder an die alten römischen Zentralorte – zum Teil ehemalige Bischofssitze – an.

    Abb. 2: Tassilokelch. Kupfer, vergoldet, um 770. Stift Kremsmünster Kunstsammlungen. Foto: The Best Kunstverlag.

    2 Das frühe Mittelalter

    Baiern und Karantanen/Das karolingische Ostland

    Mit der Niederlage der Rugier gegen Odoaker und deren Abwandern aus dem niederösterreichischen Zentralraum setzten sich hier die Langobarden fest. Das mittlere und, nach einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit den Erulern 508, auch das nordöstliche Niederösterreich wurde von ihnen besiedelt, ebenso wie die angrenzenden Gebiete Pannoniens. Dort lag auch das Zentrum ihres Reiches. Sie blieben bis 568, verließen aber die Siedlungsplätze nördlich der Donau schon ab etwa 550. Als sie nach Italien zogen, überließ ihr König Alboin Pannonien ihren Verbündeten gegen die Gepiden, den Awaren. In Pannonien und den angrenzenden Gebieten siedelten sich jetzt Awaren und die mit ihnen gekommenen Slawen an. In Niederösterreich und Pannonien haben die Langobarden, offenbar infolge des Kontaktes mit der provinzialrömischen Kultur, jene unverwechselbaren Eigenheiten entwickelt, die wir noch heute an ihrer bedeutenden kulturellen Hinterlassenschaft in Oberitalien (etwa in Cividale) bewundern können.

    2.1 Die Baiern

    Inzwischen hatte sich aber im Westen ein neuer, für die Zukunft des Ostalpenraumes höchst bedeutsamer Stamm herausgebildet, die Baiern. 551 werden die Bajuwaren von Jordanes in seiner Gotengeschichte, die inhaltlich auf Cassiodor zurückgeht, erstmals genannt. Vor dem Auftreten der Baiern tummelten sich im Gebiet des westlichen Ufernoricum und der Raetia secunda verschiedene germanische Stämme, Stammessplitter, Germanengruppen ohne feste ethnische Bindung (Laeten) sowie Romanen. Die wichtigeren Leute in diesen Gruppen dürften sich um einen traditionstragenden Kern, der wohl aus Böhmen (Boierland – Boiohemum – Bojovarii) kam, geschart haben. Inhaltlich identische Fundbereiche in Südböhmen und Niederbayern verweisen vielleicht auf diese traditionsbildende Gruppe. Sie könnte eine Abspaltung der Langobarden oder der Thüringer gewesen sein. Die fünf Genealogiae, das sind die in der Lex Baiuvariorum genannten Adelsgeschlechter, könnten aus den Führungsgruppen älterer Kleinstämme hervorgegangen sein. Die Ethnogenese der Baiern ist am ehesten als Vereinigungs- und Verselbstständigungsprozess der unter der Oberhoheit der Franken zusammengefassten germanischen Gruppen des Raumes zwischen Lech und Traun bzw. Enns zu deuten.

    Für die Ethnogenese war ein traditionstragendes Geschlecht (stirps regia) wichtig, diese Rolle spielten die Agilolfinger. Ferner benötigt ein erfolgreicher Stamm eine Herkunftssage, eine origo gentis. Von Göttern oder antiken Heroen oder gar von Meerungeheuern (wie die Franken) konnten sich die Baiern, die in einer einigermaßen christianisierten Umwelt entstanden, nicht herleiten. Das dürfte der Grund für die Annahme ihrer Abstammung von den römischen Norikern gewesen sein: Damit stammte man von christlichen und gleichzeitig römischen Vorfahren ab. Das mochte nobel genug erscheinen. Tatsächlich war der Noriker-Name inzwischen nach Westen gewandert und bezeichnete geographisch das Tiroler Wipptal.

    Das baierische Herrschaftsgebiet dehnte sich im 7. und 8. Jahrhundert nach Osten bis zur Enns aus. Gegen Norden blieb zunächst die Donau die Grenze. Die Romanen der Alpenvorland- und Alpengebiete gehörten zum baierischen Herzogtum. Die mit dem Aufstieg von Salzburg eng verbundene romanische genealogia (Adelsfamilie) »de Albina« (Oberalm) bei Hallein und im Pongau wurde zum Baiernstamm gerechnet. Die landbebauende Bevölkerung der Romani tributales bildeten auch eher eine soziale Schicht als eine ethnische Einheit.

    In den westlicheren Gebirgsgegenden lebten noch lange Romanen, die ein vom bairischen (noch) abgehobenes oder ein doppeltes ethnisches Bewusstsein hatten. 827/28 tritt ein Quarti bzw. Quartinus als Schenker auf, der sich als nationis Noricorum et Pregnariorum bezeichnete (zum Volk der Noriker und der Breonen gehörig). Die natio Noricorum bezeichnete da schon die Baiern. Gegen die Alpenslawen verlief die Grenze östlich von Innichen, dann über die Hohen und Niederen Tauern zu den nördlichen Kalkalpen. Nach Osten bildete durch lange Zeit die Enns die Grenze. Donauländische Slawen sind aber im 8. Jahrhundert, in der Gründungsurkunde von Kremsmünster (im Kern wohl 777) auch innerhalb Baierns nachweisbar.

    In das soziale Gefüge des Stammes gewährt das bairische Stammesrecht, die freilich erst im 8. Jahrhundert und unter fränkischem Einfluss entstandene Lex Baiuvariorum, einige Einblicke. Nach dem Wergeld, also der Höhe der Bußzahlung für den Verzicht auf Blutrache, stand an der Spitze der Baiern der Herzog, dann folgen die genealogiae, die Geschlechter, also der Adel. Unter ihm rangierten die liberi, die Freien. Es folgten die liberti, die Freigelassenen. Als letzte werden die servi, Sklaven, eingestuft. Servi und liberti standen unter der Herrschaft eines Herrn. Die Wehrhaftigkeit unterschied das freie Stammesmitglied von anderen Menschen. Außerdem war dieser Freie ein bäuerlich lebender Hausherr, dessen Behausung in kleinen Siedlungsverbänden auch archäologisch nachgewiesen wurde. Das Haus des freien kriegerbäuerlichen Baiern bestand nach der Lex Baiuvariorum aus mehreren Baulichkeiten: Backofen, Stall, Scheune und ein oder mehrere Vorratsgebäude waren vom Wohnhaus getrennt.

    Herzoglicher bzw. – später – königlicher Amtsträger für einen größeren Bezirk war der Graf. Er hatte für Gerichtsversammlungen einen iudex in den pagus (Gau) zu entsenden. Er fungierte auch als Anführer im Krieg: Als die Langobarden 680/88 bei Bozen kriegerisch mit den Baiern zusammenkrachten, nannten diese ihren Chef »Graf« (quem illi gravionem dicunt – den jene Graf nennen). Die Gerichtsgemeinde des pagus war wohl eine Unterabteilung der kriegerischen Stammesgemeinde. Diese Aufgaben des Grafen setzten sich auch unter den Karolingern fort. Freilich wäre die Vorstellung eines wohlorganisierten Netzes von Grafschaften jenen Zeiten nicht angemessen. Grafschaften dürften dort eingerichtet worden sein, wo freie Bayern in größerer Zahl lebten und öffentliches Gut (herzogliches, später königliches) eine ausreichende materielle Basis für das Grafenamt bot.

    Der erste Agilolfinger soll ein Garibald (um 555–592) gewesen sein, der mit Waldarada, einer Tochter des Langobardenkönigs Wacho, verheiratet war. Eine Tochter Garibalds, Theodelinde, war nacheinander die Frau der Langobardenkönige Authari (584–590) und Agilulf (591–616), ihr Bruder Tassilo I. war bis um 610 Herzog der Baiern, ihm folgte Garibald II., von dem man sonst wenig weiß. In die Regierungszeit Garibalds fallen Niederlagen gegen Awaren und Slawen im oberen Drautal. – Durch mehrere Generationen hört man dann nichts von den baierischen Agilolfingern. Fassbar wird wieder ein Herzog Theodo (vor 696 bis um 717/18). In seine Zeit fällt die Ankunft des heiligen Hrodbert (Rupert) in Salzburg. Theodo schenkte diesem (696?) die »Stadt« Salzburg und die Obere Burg. Unter dieser Burg gründete er (713/14) das älteste noch existierende Frauenkloster im ganzen mittleren Europa – Nonnberg. Hrodbert selbst ließ sich – als Abtbischof? – in dem von ihm gegründeten und vom Herzog reich bestifteten Kloster St. Peter nieder. Kurz vor seinem Tod zog Hrodbert wieder nach Worms. In das 8. Jahrhundert fallen weitere wichtige Klostergründungen: Innichen/Südtirol (769), Mondsee (748), Mattsee (vor 784), Kremsmünster (777), Scharnitz (763, 772 nach Schlehdorf verlegt). Von Salzburg aus wurden »Mönchszellen« in Bischofshofen und Zell am See gegründet. Das geistliche Leben dieser Institutionen wurde durch eine ausreichende Bestiftung mit Land und (abhängigen) Leuten gesichert. Einen ganz besonderen künstlerischen Rang erreichte das Skriptorium von Mondsee, in dem einige der eindrucksvollsten karolingerzeitlichen Handschriften entstanden.

    Die Herzöge, aber auch Freie und edle Herren machten den Bistümern und Klöstern überaus reiche Schenkungen. Schon bei der Gründung erhielten St. Peter, Nonnberg und Bischofshofen auch Anteile an der Saline Reichenhall, die als Salzproduzent den Dürrnberg abgelöst hatte.

    Zum wichtigsten geistlichen Zentrum wurde Salzburg. 739 organisiert Bonifatius die baierische Kirche neu, Salzburg ist seit diesem Zeitpunkt sicher Bistumssitz. 746 oder 747 wurde der Ire Virgil (Feirgil) Bischof von Salzburg. Unter ihm begann die Mission der Karantanen. Und er ließ die Kathedrale erbauen, in römische Ruinen hinein und nach langobardischem Vorbild (767–775). Es war für Jahrhunderte der mächtigste Bau im ganzen mittleren Europa. Erst in den 760er Jahren ließ sich Virgil zum Bischof weihen. Das Salzburger Skriptorium erreichte unter ihm einen europäischen Rang (Psalter von Montpellier, Codex millenarius maior von Kremsmünster, Wiener Cutbercht-Evangeliar). Auch der exzeptionelle Tassilo-Kelch für Kremsmünster dürfte in Salzburg entstanden sein. Virgil starb 784, 1233 wurde er heilig gesprochen.

    Zur Zeit Virgils ereignete sich die finale Tragödie der Agilolfinger. Der letzte von ihnen war auch der bedeutendste. Tassilo III. (* um 741, † um 796) war ein Sohn des Herzogs Odilo und der Hiltrud, Tochter des fränkischen Hausmeiers Karl Martell aus dem Geschlecht der Karolinger, deren Mutter eine Agilolfingerin war. Karl der Große war also ein echter Cousin des Agilolfingers. Unter Odilo (Herzog von 736/37 bis 748) aber war Baiern zum Zentrum der antikarolingischen Opposition geworden, die Aquitanier, Sachsen, Alamannen, Baiern und Slawen umfasste. Er half erfolgreich den Karantanen gegen die wieder angeriffslustigen Awaren, dafür gerieten jene unter die Oberhoheit der Baiern (741/743). Aber schon Pippin zeigte 742 den Baiern die Grenzen ihrer Selbstständigkeit. Tassilo III. besiegte 772 die heidnische Reaktion bei den Karantanen und machte deren Fürsten endgültig von den Baiern abhängig. Seine großzügigen Klostergründungen (neben Kremsmünster ist vor allem Innichen zu nennen) stärkten seine Position weiter. Der berühmte Tassilo-Kelch in seiner zentralen Stiftung Kremsmünster ist das bleibende Zeugnis dieser Stiftungstätigkeit. Tassilo erregte Karls Argwohn: jener war mit Luitberga verheiratet, einer Tochter des Langobardenkönigs Desiderius. Diese Verbindung machte ihn noch verdächtiger, als Desiderius von Karl dem Großen besiegt und abgesetzt wurde (774). Als sich Karl später Tassilo selbst vorknöpfte, warf er diesem vor, er habe die dem fränkischen König geschuldete Heerfolge nach Aquitanien 763 verweigert. Außerdem soll Tassilo mit den Awaren in zu gutem Einvernehmen gestanden sein. 787 wurde Tassilo zum Lehensmann Karls degradiert, 788 – vielleicht nach einem verzweifelten Versuch, mit Hilfe der Awaren seine Position zu halten – unter dem Vorwand des Treubruchs abgesetzt und in ein Kloster gesteckt. 794 trat er in Frankfurt nochmals in der Öffentlichkeit auf, um feierlich für sich und seine Nachkommen auf Baiern zu verzichten. Damit fand das alte bairische Herzogtum zunächst ein Ende.

    Virgils Nachfolger Arn(o), Abt eines fränkischen Klosters, war durch seine Freundschaft mit Alkuin dem Hof Karls des Großen eng verbunden. 798 wurde Arn zum Erzbischof ernannt und zum Metropoliten einer Kirchenprovinz, die ganz Baiern und das Missiongebiet im (Süd-) Osten umfasste (Karantanien und das Awaren-Gebiet). Suffragane saßen in Regensburg, Passau und Freising, später wurde auch Säben/Brixen zur Salzburger Kirchenprovinz gezählt. Für das Missionsgebiet wurden Chorbischöfe (von griech. χωρά – Land, im Gegensatz zu Stadt) eingesetzt. Damit schloss Arn an eine Institution Virgils an, der schon um 757 Modestus als Chorbischof in Karantanien ernannt hatte (bis 763). Ein Chorbischof Theoderich ist von 799 bis nach 821 nachweisbar. Arn war nicht nur ein engagierter Bischof, sondern häufig als missus Karls des Großen, mit dem er in bestem Einverständnis stand, tätig. Die Besitzungen der Salzburger Kirche ließ er aufzeichnen (Notitia Arnonis vor 790, Breves Notitiae, nach 798). »Der Salzburger Bischof verfügte im Jahre 790 über 11 bischöfliche Eigenklöster und -zellen und über nicht weniger als 67 Mensalkirchen, die zumeist reich ausgestattet waren.« (Heinz Dopsch). Auch eine Annalenhandschrift entstand. 150 Bücher sollen unter diesem Erzbischof abgeschrieben worden sein, unter anderem sind durch ihn Alkuins Briefe erhalten geblieben. 821 starb Arn. Sein Name lebt in drei Siedlungen mit dem Namen »Arnsdorf« in der Wachau – alter salzburgischer Besitz – fort. Unter seinen Nachfolgern Adalram (821–836) und Liupramm (836–859) wurde die Mission im Osten intensiviert: Adalram weihte in Nitra (Slowakei) vor 830 eine Kirche für den Slawenfürsten Privina. Als dieser von dem Mährerfürsten Moimir verdrängt wurde, ließ sich Privina in Traismauer vom Salzburger Erzbischof taufen. Ab 838 konnte Privina im Gebiet des Plattensees ein christliches Tributärfürstentum errichten, in dem Salzburg eine lebhafte Tätigkeit entfaltete: Nicht weniger als 17 Kirchen wurden unter Adalram dort erbaut. Allein in Privinas Burg Mosapurc-Zalavár standen drei Kirchen, die Handwerker schickte Liupramm aus Salzburg dorthin. Auch in Zalabér, Pettau (Ptuj) (ad Bettobiam) und Fünfkirchen (Pécs) (ad Quinque basilicas) wurden Kirchen errichtet. Liupramm weilte selbst öfter in Pannonien, während in Karantanien Salzburger Chorbischöfe wirkten. Sein Nachfolger Adalwin (859–873) erhielt 860 von Ludwig dem Deutschen jene besonders umfangreiche Schenkung, die die Grundlage für den späteren Salzburger Besitz in Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten bot. Gerade in seine Regierungszeit fiel das Auftreten der griechischen Slawenapostel Konstantin und Methodios im Mährerreich, aber auch in Pannonien. Dort konnte Method aber nur bis zum Tod des Fürsten Chozil, des Sohnes Privinas, wirken, danach wurde Methods vom Papst verliehene erzbischöfliche Würde auf das Mährerreich beschränkt. Nach Methods Tod (885) wurden seine Schüler aus Mähren vertrieben. Zur Verteidigung der Salzburger Position in Pannonien, die durch Methods Wirken bedroht wurde, entstand die berühmte Conversio Bagoariorum et Carantanorum, eine Art »Weißbuch« zur Dokumentation der lang andauernden seelsorglichen und missionarischen Tätigkeit Salzburgs nicht nur in Baiern, sondern auch bei den Karantanen und den pannonischen Slawen.

    Nach der Absetzung Tassilos wurde Gerold sein Nachfolger, ein Schwager Karls des Großen. Er trug nur mehr den Titel eines Grafen. Er und seine Nachfolger wurden auch praefecti genannt, wohl um eine gewisse Überordnung über die anderen Grafen anzudeuten – aber eben nicht als dux! Die Baiern wurden jetzt verstärkt der zentralen Kontrolle der fränkischen Könige unterworfen, fränkische Grafen wurden eingesetzt. Die baierische Kirche wurde ein wichtiger Teil der fränkischen Reichskirche.

    2.2 Die Karantanen

    »Die Karantanen entwickelten auf mehr als 35 Prozent des heute österreichischen und etwa 10 bis 15 Prozent des slowenischen Staatsgebiets nicht bloß die älteste frühmittelalterliche Staatlichkeit des Raums, sondern waren überhaupt die erste slawisch bestimmte Gens, die nicht bloß einen einheimischen Sondernamen annahm, sondern auch eine Herrschersippe mit monarchischer Spitze besaß und das bis heute älteste Herrschaftszeichen hinterließ, das weder in Mitteleuropa noch darüber hinaus ein erhaltenes Gegenstück besitzt. Die karantanische stellt demnach die älteste frühmittelalterliche Stammesbildung dar, die den ältesten bis heute lebendigen Volksnamen hervorbrachte. Entsprechend ihrer, an den westlichen Vorbildern orientierten Herrschaftsordnung waren die Karantanen auch das erste slawische Volk, das erfolgreich, weil ›von oben nach unten‹ missioniert und christianisiert wurde. Die Karantanen waren nachweisbar auch die einzigen, die ihre Identität gegen die Awaren errangen und bewahrten.« (Herwig Wolfram, Grenzen und Räume, S.301)

    Die Alpenslawen kamen im Gefolge der awarischen Expansion in ihre neuen Heimstätten. Seit dem Abzug der Langobarden 568 aus Pannonien waren dort deren Verbündete, die Awaren, heimisch, die selbst oder durch ihre slawischen Klientelvölker die Reste der alpenrömischen Kultur gründlich zerstörten. Die Ethnogenese der Karantaner wurde durch ihr Verhältnis zu den Awaren beeinflusst. Offenbar haben die Awaren auf ihre inneren Verhältnisse keinen erheblichen Einfluss genommen, sich aber immer wieder der Ressourcen der Slawen bedient. Ein Aufstand des berühmten Samo – angeblich ein fränkischer Kaufmann – war 623 von Erfolg begleitet. In dessen Reich waren die Alpenslawen wohl einbezogen (vielleicht als marca Vinedorum). Mit der Niederlage der Awaren vor Konstantinopel 626 wurde deren Macht bis auf weiteres geschwächt. Schon in dieser Zeit ist mit den Anfängen eines ziemlich eigenständigen karantanischen Stammesfürstentums zu rechnen, als erster Fürstenname ist der eines Wallucus um 631/32 belegt. Vor der (zweiten) awarischen Expansion nach 700 wollte man sich durch eine stärkere Bindung an die Baiern sichern. Dabei geriet man um 740 in bairische Abhängigkeit.

    Namen karantanischer duces sind in der Salzburger »Conversio« überliefert. Der erste bekannte Fürst ist Boruth (»der Kämpfer«), der von vor 740 bis um 750 belegt ist. Er war noch nicht getauft. Ihm folgte nur kurz sein Sohn Cacatius (bis 752), nach ihm kam dessen Vetter Cheitmar. Die beiden Jungen waren als Geiseln und zur Sicherung des Christentums auf der Herreninsel im Chiemsee festgesetzt und erzogen worden. Jetzt begann eine intensivere, primär von Salzburg getragene Christianisierung. Christianisierungsversuche provozierten Aufstände, die die Baiern carmula nannten (um 763 und 765). Sie wurden von Tassilo III. niedergeschlagen. 769 starb Cheitmar, im selben Jahr wurde Innichen gegründet. Ein neuerlicher Aufstand wurde von Tassilo III. erst 772 niedergeworfen, dann wurde ein Waltunc als Fürst eingesetzt. Später sind noch vier Fürsten bekannt: Priwizlauga, Cemicas, Ztoimar und Etgar. Dem Aufstand der unterpannonischen Slawen unter Ljudewit (819–823) schloss sich ein Teil der Karantanen an. Wahrscheinlich hängt auch die Attacke »gottloser heidnischer Slawen« auf die Maximilians-Zelle zu Bischofshofen (820) damit zusammen. Nach der Niederschlagung dieser Bestrebungen wurden die Karantanen stärker in das fränkische Herrschaftssystem eingegliedert und verloren, so wie zuvor die Baiern, ihren eigenen Fürsten.

    Dieser war der wichtigste überregionale Integrationsfaktor des Stammes. Zu einem Herren gehörte eine Gefolgschaft. Als solche hat man (unter anderen) die vieldiskutierten »Edlinger« (slow. Kosezi) interpretiert, die gerade im Zentralbereich Karantaniens gehäuft auftreten. Daneben existierte in der Karolingerzeit ein höherer Adel. Dieser Adel wurde vom baierischen als durchaus gleichrangig angesehen, was sich im 9. und 10. Jahrhundert in gemeinsamem Konnubium und gegenseitigen Namens-Übernahmen äußerte.

    In der Kremsmünsterer Gründungsurkunde von 777 begegnet ein Župan (iopan). Auch bei den Karantanen gab es Župane. Der Titel dieses Chefs einer kleineren slawischen Gruppe (vielleicht eines Clans?) ist awarischen Ursprungs. Nach späteren Nennungen konnte man sogar die Grenzen des karantanisch besiedelten Raumes in der Steiermark rekonstruieren: östlich einer Linie, die im 12. Jahrhundert von Norden her – baierisch – besiedelt wurde, gibt es keine Župan-Nennungen mehr; dort heißt der entsprechende Funktionär »Richter«. Ihre Funktion in vorgrundherrschaftlichen Verhältnissen bleibt einigermaßen dunkel. Später lebte der Begriff in der grundherrschaftlichen Ordnung des Hochmittelalters weiter und bedeutete etwa »Amtmann« oder eben auch »Richter«.

    Die Binnenstruktur des ganzen weiten Bereiches war durch die Natur geprägt. Tallandschaften innerhalb der Alpen, getrennt durch relativ unzugängliche Höhenzüge, aber verbunden durch relativ leicht begehbare Pässe (Schoberpass, Neumarkter und Obdacher Sattel usw.) erlaubten regionale Siedlungs- und Herrschaftsverdichtung. Zentrum dieser Herrschaft war in Nachfolge spätantiker Strukturen das Zollfeld mit der Karnburg (civitas Carantanorum), doch kommt für die Zeit davor auch ein Herrschaftszentrum in der Nachfolge des alten Teurnia (»Liburnia«) bei Spittal an der Drau, vielleicht auch bei Moosburg in Frage. Südlich der Karawanken existierte um 800 ein von Karantanien unabhängiges Fürstentum der »Krainer«. Karantanisch waren auch der Lungau und das Murtal, ebenso das Ennstal. Die nördlichen Kalkalpen waren die Grenze nach Norden – noch im 12. Jahrhundert galt die Gegend um den Ötscher als Grenze zu »Kärnten«. Die Ostgrenze verlief vielleicht entlang der Fischbacher Alpen nach Süden.

    Die Slawen in der Kremsmünsterer Gründungsurkunde (777) waren ebenso wenig »Karantanen« wie die übrigen Donauslawen. »Slawen« waren die meisten jener Leute, die im awarischen Herrschaftsbereich keine Awaren waren, was mit der Vermutung, die Kremsmünsterer Slawen seien aus dem Awarengebiet zugewandert, gut übereinstimmen würde. Später sollte für diese Westslawen der Name der »Böhmen« in Gebrauch kommen (vgl. Ortsname »Böheimkirchen« in Niederösterreich, östlich von St.Pölten). In der Karolingerzeit waren jedenfalls slawische Dialekte die dominanten Idiome nicht nur in Karantanien, sondern auch im heutigen Niederösterreich und seinen Nachbargebieten; auch in Oberösterreich nördlich der Donau und auch im Gebiet zwischen Traun und Enns wurden slawische Idiome gesprochen.

    2.3 Die Awaren

    Mit ziemlicher Sicherheit waren die in Europa auftauchenden Awaren identisch mit jenen Steppennomaden, die nördlich der Chinesischen Mauer zwischen 520 und 550 ein bedeutendes Reich aufgerichtet hatten. Diese Reichsbildung wurde durch einen geglückten Aufstand türkischer Stämme vernichtet. Die Awaren wandten sich daraufhin nach Westen, in die Gegend nördlich des Asowschen Meeres. 562 kam es zu kriegerischen Zusammenstößen mit den Franken. 567 verbündete sich der Awarenchef Bajan mit den in Pannonien sitzenden Langobarden gegen die Gepiden. Nach deren Vernichtung zogen die Langobarden nach Italien ab. Damit beginnt die Zeit der awarischen Herrschaft über große Teile des östlichen Mitteleuropa. Vom Aufstand Samos und von der Katastrophe der Awaren vor Konstantinopel 626 war schon die Rede. Bis zum Ende des 7. Jahrhunderts war damit die Expansionskraft der Awaren gebrochen. Um 680 sollen jedoch neue Gruppen zugewandert sein, was nicht nur zu einer Renaissance des Reiches führte. Es erfolgte eine Siedlungsverdichtung und gleichzeitig eine stärkere West-Ausbreitung bis hin zum Alpenostrand. Awarische Gräberfelder sind ab der Mitte des 7. Jahrhunderts im südöstlichen und nordöstlichen Niederösterreich belegt. Die späteren Awaren sind nach dem archäologischen Befund weitgehend zu Ackerbauern geworden. Ihre Bewaffnung und ihre Kampfweise behielten sie aber bei. Um 700 dürfte ein awarischer Vorstoß Lorch an der Enns zerstört haben.

    Baiern und Awaren scheinen aber in der Folge ihre Grenzen respektiert zu haben. Erst die Awarenfeldzüge Karls des Großen (791–803) brachten dann das Ende der awarischen Herrlichkeit. Nach der endgültigen Niederlage empfingen die Unterworfenen die Taufe. Es wurde ein christlicher awarischer Klientelstaat des Frankenreiches gebildet. Diese Restawaren erhielten zuletzt eine Art Reservat im heutigen Ost-Niederösterreich und Westungarn bzw. Burgenland. Nach etwa 820 hört man nichts mehr von ihnen. Das bedeutet nicht, dass sie physisch ausgerottet wurden oder ausstarben, sondern nur, dass sie als Ethnos nicht mehr existierten, dass sich also niemand mehr als Aware selbst bezeichnete oder bezeichnen ließ.

    Karte 2: Das Gebiet des heutigen Österreich im Frühmittelalter (7/8. Jahrhundert n. Chr.).

    Vielleicht die eindrucksvollste kulturelle Hinterlassenschaft der Awaren, möglicherweise ein kleiner Teil des sagenhaften Schatzes der Awarenkhane, der von den Franken nach der Eroberung des zentralen »Ringes« der Awaren angeblich in zahlreichen Ochsenkarren nach Westen abgeschleppt wurde, ist der so genannte »Schatz von Nagyszentmiklos«, geborgen 1799 in einem kleinen ungarischen (heute rumänischen) Dorf (Sânnicolau Mare). Er besteht aus 23 Gefäßen, Kannen, Schüsseln und Schalen aus purem Gold. Zwei sind mit Stierköpfen verziert, auf einer befindet sich die Darstellung eines Reiterkriegers. Der Schatz wird auf das 8. und 9. Jahrhundert datiert, könnte also auch auf die Bulgaren zurückgehen, die im 9. Jahrhundert im Osten der ungarischen Tiefebene herrschten.

    2.4 Die Alpenromanen

    In den Alpengebieten haben größere Gruppen von Provinzialromanen das Ende des Römerreiches überdauert. Noch lange über das Ende der besonderen Institutionen hinaus wurde im Montafon und Vinschgau bis ins 16. Jahrhundert eine romanische Sprache gesprochen, die als »Rätoromanisch« in Graubünden und als »Ladinisch« in Südtirol bis heute weiterlebt.

    Ein eigenes Land dieser ziemlich selbstständigen Alpenromanen war die Raetia Curiensis, Churrätien. In geschützter Lage blieb ein Rest des römischen Rätien in Form der Herrschaftsbildung der »praesides« und Bischöfe von Chur bestehen. Die Würde des Bischof und des Präses blieb dabei durch längere Zeit in der Hand einer Familie, zuletzt jener der so genannten »Viktoriden«. Das Bistum Chur galt zwischen dem 5. Jahrhundert und 842 als Suffragan des Erzbistums Mailand. Danach wurde Chur der Mainzer Kirchenprovinz zugeordnet. Herrschaftlich wurde das Gebiet jetzt enger mit den Alemannen verbunden. Der erste Herzog von Schwaben, Burchard, nannte sich marchio Curiensis Raetiae, Markgraf von Churrätien. An der Bischofswahl wirkte der populus, das »Volk« (also die politisch Berechtigten), mit.

    Churrätien umfasste ungefähr das heutige Graubünden. Auch das südliche Vorarlberg mit dem Zentrum Rankweil war Teil dieses Herrschaftsgebietes. Vom historischen Land Tirol gehörte der Vinschgau dazu, wo Chur ja bis in die Neuzeit geistliche und weltliche Herrschaftsrechte ausübte. In diesem Rätien galt ein eigenes Recht, die auf die »Lex Romana Visigothorum« zurückgehende Lex Romana Curiensis. Nach dieser Quelle waren Curialen in der Tradition spätantiker Dekurionen für die öffentlichen Abgaben verantwortlich. Sie sollten nur aus den besitzenden Gruppen stammen. In den kleineren Siedlungen erscheinen maiores mit gewissen Aufgaben betraut, gleichwie Pfarrer. Eine Besonderheit in der Wirtschaftsweise war die Almwirtschaft.

    Unfreie sind ebenso bezeugt wie ausgedehnter Besitz des Bischofs, seiner Klöster und Kirchen. Dieser Besitz bot später die Grundlage für die Ausstattung des karolingischen Grafen. Er galt also als »öffentliches« Gut. Auch hier kommt es im 8. Jahrhundert zu Klostergründungen (Pfäfers, 735/40), deren Ausstattung zur Fortentwicklung grundherrschaftlicher Lebensweisen führte.

    Seit etwa 540 stand Churrätien nicht mehr unter gotischer, sondern unter fränkischer Herrschaft. Die Bischöfe erscheinen nach 610 auf Synoden der fränkischen Reichskirche. Dennoch blieben die Eingriffe der fränkischen Könige geringfügig. Erst nach der endgültigen Unterwerfung der Alemannen in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts (746) wurde der fränkische Einfluss stärker. Dies ist besonders auch im Zusammenhang mit den beginnenden Italienzügen – Karl der Große eroberte 773/74 das Langobardenreich – zu sehen, denn das Churer Gebiet beherrscht wichtige Alpenübergänge. Nach dem Tod des letzten Viktoriden zog Karl der Große die Zügel fester an, Rektoren und Bischöfe wurden von ihm eingesetzt. 806 wurde die Bischofsfunktion von der des Rektors getrennt. Fränkische Grafen kamen ins Land, der reiche Landbesitz der Viktoriden diente als Ausstattung für die neuen Machthaber.

    Die Bischöfe von Chur konnten späterhin ihre weltliche Macht (wieder) ausbauen. Das war wohl auch der Grund, warum in ihrem Herrschaftsbereich das Rätoromanische fortbestand.

    2.5 Die Alemannen

    Etwa zur gleichen Zeit, als in Chur die Viktoriden herrschten, gehörte der nördliche Teil Vorarlbergs schon zum Siedlungsgebiet der Alemannen, ebenso das Lechtal. Bekanntlich haben diese schon im 3. Jahrhundert das Gebiet zwischen Rhein und Donau (das Dekumatenland) besetzt, wahrscheinlich vollzog sich hier ihre Ethnogenese, unter Einbeziehung diverser Gruppen, die früher als »Sueben« galten. Erst im 4. und 5. Jahrhundert schoben sich ihre Siedlungen auch in das Gebiet südlich von Rhein und Bodensee vor. Die einzelnen Stämme hatten Könige, die diverse Verträge untereinander und mit den Römern abschlossen. Nach der Niederlage der Alemannen gegen Chlodwig (506) wurde ein Teil des Stammes von Theoderich unter seinen Schutz genommen und durfte auf dem von den Goten noch beherrschten Gebiete Rätiens siedeln – vielleicht auch im nördlichen Vorarlberg. Seit 536 war aber das ganze Stammesgebiet der Alemannen unter fränkischer Herrschaft. Immer wieder kam es zu Verselbstständigungstendenzen. Noch im 8. Jahrhundert waren mehrere Feldzüge und brutale Maßnahmen (Blutbad von Cannstatt, 746) nötig, mit denen Karl Martell und Pippin die Alemannen endgültig unterwarfen.

    Entscheidend für die spätere Entwicklung im Bodenseegebiet wurde die Gründung von St. Gallen und die Ausstattung des Konstanzer Bistums durch König Dagobert (615–630). Bis ins 19. Jahrhundert gehörte das nördliche Vorarlberg kirchlich zu Konstanz. Und St. Gallener Besitz spielte für die weitere Entwicklung (Grundherrschaft, Aufbau von Adelsherrschaften auf der Basis des Kirchenbesitzes) eine große Rolle. Schließlich ist der allgemein bekannte St. Gallener Klosterplan (entstanden um etwa 819/826) sozusagen das gesamteuropäische Muster für mittelalterliche Klosteranlagen.

    2.6 Das karolingische Ostland

    Unter Karl dem Großen wurden die frühmittelalterlichen gentes auf dem Boden der ehemaligen römischen Provinzen im Ostalpengebiet und an der Donau intensiver dem fränkischen Reich eingegliedert; die nördlich der Donau gelegenen Gebiete blieben überwiegend außerhalb des Reiches. Seit der Absetzung Tassilos III. (788) gab es keine baierischen Herzöge mehr. Die churrätischen Romanen verloren ebenfalls ihre eigentümliche Sonderstellung (806). Etwas länger dauerte die Weiterexistenz des karantanischen Stammesfürstentums. Auch dieses wurde ab 828 nicht mehr besetzt. Seither erscheinen auch hier Amtsträger des fränkischen Königs als Grafen. Seit 822 ist auch kein awarisches Fürstentum mehr nachweisbar, das Volk der Awaren verschwand überhaupt. Die Alemannen waren schon 746 ziemlich brutal gedämpft worden.

    Räumlich griff die karolingische Herrschaft weit aus. Wohl im Sinne der Ideologie einer Wiederherstellung des römischen Reiches waren es im Südosten ziemlich genau die ehemaligen Provinzgebiete von (Ufer-)Noricum und Pannonien, die Karl der Große seinem Reich einverleibte. Karantanien hatte ja in etwa dem alten Binnennoricum entsprochen, das Awarenland Pannonien

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