Noch 172 Tage bis zum Sommer: Eine istrische Reise
Von Lidija Klasic
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Über dieses E-Book
Wo beginnt der Süden, wo Istrien? Beginnt der Süden nach Rijeka, bei der einzigartigen Brücke über den Fluss Rijecina, oder dort, wo man das erste Mal den Duft von Tomaten und Meer riecht? Klima, Landschaft, Geschichte haben die Menschen, die Kultur, die Küche Istriens geprägt. Lidija Klasic ist dem Zauber dieses Landstrichs erlegen und sie ist tief den Menschen hier verbunden: sei es der Schweizer Köchin in einem entlegenen Hotel oder der Freundin, die, dort wo die Eulen wohnen, zu anregenden Grillabenden lädt. Klasic erzählt von einem Brief, den Nora Joyce ihrem Mann von einem Kuraufenthalt in Karojba schickt, sie spürt den Wurzeln eines bedeutenden jüdischen Erfinders nach und berichtet von einer Berliner Straßenbahn in Rovinj.
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Buchvorschau
Noch 172 Tage bis zum Sommer - Lidija Klasic
Sommer.
Wo fängt Istrien an?
Viele unserer Freunde behaupten, die geografischen Anfänge Istriens sollte man schon in der Hafenstadt Rijeka suchen, nämlich an der architektonisch einzigartigen Brücke über den Fluss Riječina, die auch ein Platz ist. Dort steht, lässig an die Brüstung gelehnt, ein Passant aus Bronze, Janko Polić Kamov, ein außerhalb Kroatiens viel zu wenig bekannter avantgardistischer Schriftsteller. Rebellisch wie er war, reiste er quer durch Westeuropa, gestaltete neue künstlerische Strömungen wie den Futurismus mit und schrieb einen Roman, der als Vorläufer von James Joyce’ Werken verstanden werden kann. Kamov starb kaum 24-jährig 1910 in Barcelona, in einer Zeit, als vor dem Ersten Weltkrieg in Europa eine trügerisch harmonische Stimmung, geprägt durch den Geist des Fin de Siècle, herrschte. Entlang der Nordadria tourten fast gleichzeitig Anton Tschechow, James Joyce und Thomas Manns Figur Gustav von Aschenbach, die kaum weniger von der kleinlich konservativen Gesellschaft angewidert waren als Kamov. Vorausschauende Menschen, die nie das Glück hatten, zusammenzutreffen, geschweige denn, einander zu befruchten. Heute schaut der bronzene Kamov ein bisschen amüsiert auf die Passantenströme und weiter in Richtung Westen – nach Istrien – auf einen Küstenstrich, der sich grün und schmal zwischen dem Meer und den steilen Abhängen des Učka-Gebirges dahinschlängelt. Das ist die Riviera von Opatija – sechs, sieben Orte, früher einfache Fischerdörfer, heute im Juli und August von einer Überzahl an Menschen und Autos, von Lärm und Verschmutzung heimgesucht, doch außerhalb der Saison durchaus bezaubernd.
Auch vor mehr als einem Jahrhundert galt diese andere, östliche Seite der Adria als begehrenswertes Ziel für erlesene Reisende. „Ich habe so oft und jedes Mal mit solcher Bezauberung von diesem irdischen Paradies gelesen, schrieb Tschechow, als er 34-jährig etwas ermüdet und lungenkrank in Opatija weilte. „Waren Sie schon einmal in Abbazia
, fragte er in seiner Erzählung „Ariadna – und beschrieb Opatija als „ein schmutziges slawisches Städtchen mit nur einer Straße, die ewig stinkt und die man nach einem Regen nicht ohne Gummischuhe überschreiten kann
. Als der Icherzähler vorsichtig „mit hochgekrempelten Beinkleidern über die enge Straße stieg und vor lauter Langeweile harte Birnen bei einer alten Frau kaufte, die, als sie in mir den Russen erkannte, die Preise alsbald in fehlerhaftem Russisch nannte, ich mich jedes Mal staunend fragen musste, wohin ich eigentlich ginge und was ich hier zu schaffen hätte, zumal ich immer wieder Russen begegnete, die ebenso betrogen worden waren wie ich, überfiel Anton Pawlowitsch eine altmodische, heutigen Touristen wie deren Gastgebern wohl unbekannte Empfindlichkeit: „Oh, wie ich mich dann ärgern konnte, wie ich mich dann schämte.
Heute, auch bei sintflutartigem Regen, wie er manchmal am Mittelmeer herabströmt, versinkt Opatija nicht mehr im Schlamm. Eine andere Beobachtung Tschechows hat aber bemerkenswerte Aktualität, nämlich dass von hier aus sowohl Fiume als auch die fernen, von lila Nebeln gefärbten Inseln sichtbar sind. Das Ganze könnte ein schönes Bild ergeben, wenn nicht der Ausblick auf die Bucht durch „die vielen Hotels nebst ihren Dependancen völlig versperrt wäre, diesen Gebäuden hässlicher bürgerlicher Architektur, mit denen die gierigen Krämer das grüne Ufer besät haben, so dass man in dem Paradiese fast nichts als Fenster und Terrassen erblicken kann …" Der arme Tschechow, was würde er heute erst meinen?
Den unschönen Auswüchsen entzieht man sich am besten durch einen Wechsel der Perspektive – entweder beobachtet man die Kvarner Bucht von ganz oben von der Straße, die zum Učka-Tunnel führt, oder ganz aus der Nähe. Zum Beispiel an einem Tisch in einer Gasse von Volosko, dem ehemaligen Fischerhafen, den Tschechow während seines Zwei-Tage-Abbazia-Abenteuers bestimmt nicht wahrgenommen hat.
Das kleine „Konoba Tramerka haben wir per Zufall entdeckt, als ich in dem mondänen, durch „urbane Villen
, einen Jachthafen und schicke Restaurants völlig veränderten Ort Erinnerungen meiner Kindheit auffrischte. Vergebens suchte ich die kleine Villa mit dem altmodischen Balkon und dem zum Meer gewandten Garten, wo meine Tante und ihre Schwestern, ganz in Weiß gekleidet, auf der Terrasse aus einem Buch, womöglich Tschechow, lasen … Aber damals war sie noch nicht meine Tante. Zu unserer Familie in Crikvenica, vierzig Kilometer südlicher, stieß dieses patriotisch gesinnte Mädchen erst, als sie meinen Uronkel heiratete, dessen deutlich ältere Schwester, meine Urgroßmutter, von allem Italienischen schwärmte, in Triest zur Schule gegangen war und später einen Ungarn ehelichte. Eine Überfülle an Nationalitäten war stets ein Merkmal dieser Gegend, die mit einem Zuviel an Geschichte und einem Zuwenig an historischer Gunst gesegnet ist. Das „Konoba Tramerka, dessen Name von einer unbewohnten Insel bei Zadar rührt, hat nur wenige Tische – drei auf der Straße, entlang der alten Mauer, und weitere acht in zwei Gasträumen. „Siebzehn Stufen von der Küche vors Haus
, sagt Kristijan Ivančić, der sein Lokal gemeinsam mit dem Philosophen und Koch Andrej Barbieri vor einigen Jahren eröffnet hat. Seine Idee war eine „ehrliche Küche, die von der Qualität ihrer Zutaten lebt. Tagesfrische lokale Produkte nach traditionellen regionalen Rezepten und ohne viel Schnickschnack schonend zuzubereiten klingt einfach. Wenn diese Kochart auch relativ unkompliziert ist, zeitraubend ist sie trotzdem. „Jeden Morgen gehe ich hinunter zum Hafen und schaue mir an, was die Fischer in ihren Netzen haben
, erzählt Kristijan Ivančić.
Es war an einem späten Nachmittag Ende Mai. Obwohl die Sonne schon wärmte, war auf dem Lungomare, der Spaziermeile zwischen Opatija und Volosko, noch nicht viel los. Ende Mai ist die Makrelenzeit in der Kvarner Bucht, wenn auch große Schwärme, wie früher, nur noch ganz selten vorkommen. Ein Freund, der auf der anderen Seite, auf einer der „von lila Nebeln gefärbten Inseln", der Insel Krk, geboren wurde, erzählte, dass in seiner Kindheit das Meer im Frühling vor lauter Makrelen wimmelte. Wenn seine Mutter zum Abendessen welche braten wollte, ruderten sein Vater und er mit ihrem Holzboot nur einige Züge vom Ufer hinaus, und in wenigen Minuten konnten sie so viele Fische an Land ziehen, wie für ein üppiges Essen für die ganze Familie nötig waren.
Jetzt ist die Kvarner Bucht fast leergefischt, aber an diesem Tag verirrten sich einige größere Exemplare dieser glänzenden, blausilbernen Fische mit weißem Bauch in die Netze der Fischer von Volosko. Es ist nicht einfach zu unterscheiden, um welche Art es sich handelt. Fische aus der Makrelen-Familie ähneln einander sehr, im Volksmund werden sie die „drei Schwestern genannt: škombra, Skuša bokulja (Scomber scomber, Scomber scombrus), palamida, Skuša polanda (Sarda sarda, Polanda sarda) und lokarda, Skuša plavica, lancarda (Scomber japonicus, Scomber capensis). Am besten schmecken die „Schkombren
, mit etwas Übung kann man sie an dem blitzweißen Bauch und den im Vergleich zu den beiden anderen Arten kleineren Augen gut erkennen. Kristijan macht da keinen Fehler, genau diese, also „škombre, habe er heute Morgen gekauft; als er sie sah, wusste er sofort, wie sie am besten schmecken würden. Er suchte vier schöne Exemplare aus, jedes schwerer als ein halbes Kilo. Fische in dieser Größe kann man gut filetieren, also sollte es „pochierte Makrelenfilets mit Kaperncreme auf einem Rucola-Bett
geben. Dazu nahm Kristijan noch einen Eimer Wasser mit in die Küche, denn einer seiner Tricks ist, die Makrelen in Meerwasser zu kochen.
Viel glücklicher als Tschechow fühlte sich an dieser Riviera zehn Jahre später sein Landsmann Vladimir Nabokov. Die reiche Familie Nabokov weilte zur Zeit des russisch-japanischen Kriegs und der Unruhen in Petersburg und Moskau, am Anfang des 20. Jahrhunderts, im Ausland, und so mieteten die Eltern mit zwei Söhnen, einem Hauslehrer, einem Zimmermädchen, einem Butler, einem russischen Kindermädchen und einer englischen Gouvernante 1904 für ein paar Monate eine geräumige Villa an der damals modernen Riviera von Opatija. „Ihr Name war Neptun oder Apollo – ich kann immer noch ihr gelbliches, spitzes Türmchen auf alten Bildern von Abbazia erkennen, schrieb Nabokov in seiner Autobiografie „Erinnerung, sprich!
. Außer dem Gang nach Rijeka und „grauenhaften Besuchen beim gehassten Friseur im nahen Fiume, was regelmäßig mit Tränen endete, gefiel dem Fünfjährigen in Opatija alles, obwohl er hier seinen ersten Abschiedsschmerz kennenlernte, als seine englische Gouvernante entlassen wurde. „Der entzückenden Miss Norcott wurde eines Abends in Abbazia befohlen, auf der Stelle zu gehen. Sie umarmte mich im morgendlichen Zwielicht des Kinderzimmers, in einem hellen Regenmantel und weinend wie eine babylonische Weide, und an diesem Tag bin ich untröstlich geblieben trotz der heißen Schokolade, welche das alte Kindermädchen der Petersons bereitet hat und dem speziellen Butterbrot, auf dessen Oberfläche meine Tante Nata, geschickt meine Aufmerksamkeit umlenkend, ein Gänseblümchen gezeichnet hat, dann eine Katze und schließlich die kleine Meerjungfrau, von der ich gerade mit Miss Norcott gelesen hatte, und wegen der ich auch geweint hatte …
Die Villa, in der die Familie Nabokov wohnte, ist heute Teil des Hotels Miramar, in dem betuchte Gäste ein Wellness-Angebot genießen, wahrscheinlich nicht einmal ahnend, dass einige Meter weiter eines sonnigen Morgens Anfang Mai 1908 in der Wohnung über der Apotheke im eben fertig gebauten eingeschossigen Gebäude in der Hauptstraße von Opatija der spätere Erfinder einer Pille geboren wurde, deren Name zum Inbegriff des Entspannens geworden ist. Nach US-amerikanischen Statistiken war dieses Medikament zwischen 1968 und 1987 das meistverkaufte der Welt: Valium.
Leo Henryk Sternbach war der erste Sohn einer hübschen schwarzhaarigen Frau ungarischer Herkunft, Piroška, geborene Cohn, und des deutlich älteren polnischen Apothekers Abraham Sternbach. Die Lebensgeschichte Leo Sternbachs folgt auf schier unglaubliche Weise der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
In Opatija gab es vor dem Ersten Weltkrieg zwölf Kliniken, die auf die Heilung von Bronchitis, Asthma und Herzkrankheiten spezialisiert waren. Die Apotheke auf der Hauptstraße lief sehr gut, Abraham Sternbach drehte von morgens bis abends Pillen, und der kleine Leo verbrachte seine Freizeit bei seinem Vater. Das Laboratorium interessierte ihn mehr als die Schule, wo er, laut seinem Biografen, schon damals erleben musste, wie ihn die anderen Kinder als „dreckig" beschimpften. Als nach dem Ersten Weltkrieg die österreichisch-ungarische Verwaltung von der italienischen abgelöst wurde, wurde in Abbazia auch die deutsche Schule geschlossen. Der dreizehnjährige Leo wurde zuerst nach Villach, dann nach Graz in die Schule geschickt, und nachdem der Vater seine Ersparnisse im Zuge der Wirtschaftskrise verloren hatte, zog die Familie zurück nach Krakau, aber auch dort unterlagen die Juden vielen Schikanen. Da sein Vater Apotheker war, wurde Leo zum Studium der Pharmakologie zugelassen und promovierte zusätzlich in Chemie. Durch einen glücklichen Zufall lernte er 1937 in Wien den späteren Nobelpreisträger Leopold Ružička kennen, der ihn in sein Forschungsteam in der Schweiz aufnahm, wo er dank seiner Stipendien auch nach dem deutschen Angriff auf Polen bleiben konnte. Drei Tage vor Hitlers Angriff im Westen wurde Sternberg von dem Schweizer Pharmakonzern Hoffmann-La Roche angestellt. Diese Firma beschäftigte immer noch jüdische Wissenschaftler, weil einige der Direktoren familiäre Verbindungen zu Juden hatten. Zwei Wochen später emigrierte der Präsident der Firma Roche aus Angst, dass die Wehrmacht auch in die Schweiz einmarschieren könnte, fluchtartig in die USA – ein Glück für Sternbach, denn der Präsident holte bald auch die vielversprechendsten Wissenschaftler aus den Schweizer Laboratorien nach. So kam auch Sternbach mit seiner Ehefrau nach New York – genau am Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion.
Es folgten 57 Jahre der Forschung im Dienste Roches, in deren Laboratorien Leo Sternbach selbst nach seiner Pensionierung im Jahre 1973 noch weitere zwanzig Jahre arbeitete. Seine wichtigste