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Brücken bauen. Mauern einreißen.: Kunst & Buch - 25 Jahre Mauerfall
Brücken bauen. Mauern einreißen.: Kunst & Buch - 25 Jahre Mauerfall
Brücken bauen. Mauern einreißen.: Kunst & Buch - 25 Jahre Mauerfall
eBook325 Seiten3 Stunden

Brücken bauen. Mauern einreißen.: Kunst & Buch - 25 Jahre Mauerfall

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Über dieses E-Book

Klopfende Herzen, feste Umarmungen und knatternde Trabis – das kommt all denen bekannt vor, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer hautnah miterlebten oder in den Medien verfolgten. Auch 25 Jahre später hat der historische Tag nichts an Bedeutung und Emotionalität eingebüßt.
Wir sind der Meinung, dass jede einzelne Erinnerung an diese Zeit wichtig ist und riefen anlässlich des Jubiläums im Jahr 2014 dazu auf, persönliche Geschichten und Momente mit uns zu teilen. So wurden viele Menschen unverhofft, schnell und ganz unkompliziert zu Autorinnen und Autoren in diesem Buch, ganz im Sinne des Self-Publishings. Die Beiträge bieten einen spannenden und emotionalen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Teilung, der vielfältige Denkanstöße liefert.
Wir reisten mir unserem Projekt zur Frankfurter Buchmesse 2014 und waren am Jubiläumswochenende im Berlin Story Bunker vor Ort. Nach diesen anstrengenden und vor allem schönen Wochen freuen wir uns sehr über das einmalige Ergebnis, das Ihnen nun vorliegt: das Buch "Brücken bauen. Mauern einreißen."
Wir danken allen Teilnehmern ganz herzlich dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Gedanken mit uns und der Öffentlichkeit geteilt haben.
Die Projektkoordinatorinnen Deborah Schmidt und Carolin Reif
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Nov. 2014
ISBN9783737518802
Brücken bauen. Mauern einreißen.: Kunst & Buch - 25 Jahre Mauerfall

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    Buchvorschau

    Brücken bauen. Mauern einreißen. - epubli GmbH

    Impressum

    Copyright: © 2014 epubli

    Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    ISBN: 978-3-7375-1880-2

    Brücken bauen.

    Mauern einreißen.

    Vorwort

    epubli

    Klopfende Herzen, feste Umarmungen und knatternde Trabis – das kommt all denen bekannt vor, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer hautnah miterlebten oder in den Medien verfolgten. Auch 25 Jahre später hat der historische Tag nichts an Bedeutung und Emotionalität eingebüßt. Wir sind der Meinung, dass jede einzelne Erinnerung an diese Zeit wichtig ist und riefen anlässlich des Jubiläums im Jahr 2014 dazu auf, persönliche Geschichten und Momente mit uns zu teilen. So wurden viele Menschen unverhofft, schnell und ganz unkompliziert zu Autorinnen und Autoren in diesem Buch, ganz im Sinne des Self-Publishings. Die Beiträge bieten einen spannenden und emotionalen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Teilung, der vielfältige Denkanstöße liefert. 

    Wir reisten mir unserem Projekt zur Frankfurter Buchmesse 2014 und waren am Jubiläumswochenende im Berlin Story Bunker vor Ort. Nach diesen anstrengenden und vor allem schönen Wochen freuen wir uns sehr über das einmalige Ergebnis, das Ihnen nun vorliegt: das Buch „Brücken bauen. Mauern einreißen." 

    Wir danken allen Teilnehmern ganz herzlich dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Gedanken mit uns und der Öffentlichkeit geteilt haben. Die Projektkoordinatorinnen

    unterschriften

    Trennung, Ohnmacht,

    Entdeckungen

    Die Zeit vor dem Mauerfall

    Wer war Ilona Rose

    Annerose Scheidig

    Frau Ilona Rose war eine rothaarige, hübsch aussehende Frau im mittleren Alter. Anna vermutete, in ihr eine interessante Persönlichkeit zu finden, und meinte, es müsse sich lohnen, mehr über diese Frau zu erfahren. Sie begann Frau Ilona Rose, die ehelos lebte, drei Kinder hatte und hin und wieder Herrenbesuch bekam, zu beobachten.

    Annas Mutter lebte auch mit vier Kindern alleine und zu ihr kam hin und wieder ein Mann zu Besuch. Zu ihm sollte Anna »Onkel« sagen. Aber das war etwas anderes, denn diesen Mann kannte Anna und er gehörte irgendwie zur Mutter.

    Frau Ilona Rose und Annas Mutter plauderten oft stundenlang im Treppenhaus. Das hörte sich zuweilen an, als ständen mehrere Frauen zusammen, so eilig gingen Worte und Gelächter hin und her. Frau Ilona Rose sprach schrill und schnell, Annas Mutter sanft und gedämpft; sie tuschelten oft, so, als gäbe es etwas zu verheimlichen. Dabei fiel Anna auf, dass ihre Mutter im Gesicht viel jünger aussah, obwohl sie die Ältere von beiden war. Doch was die Kleidung betraf, da sah Frau Ilona Rose jünger aus, und das erschien Anna recht sonderbar.

    Die beiden Frauen lachten viel und zankten sich manchmal. Waren sie zerstritten, dann hörte Anna komische Worte wie: »Die Hure da oben...« Das verstand Anna nicht und sie wollte herausfinden, was eine Hure war. Also saß sie bald öfter und länger am Fenster und beobachtete Frau Ilona Rose und ihre Kinder noch genauer. Sie erkannte bald: Die vier dort oben schienen recht sonderbar zu sein! Dagmar war schüchtern und konnte niemandem in die Augen sehen. Sie war rundlich, wirkte langweilig, hatte dunkle Haare und traurige braune Augen. Elke war hibbelig, dünn, rothaarig, mit trotzigen grünen Augen. Und Michael, der Jüngste, war blondgelockt mit träumerischen blauen Augen. Ein niedliches Kerlchen, das aber furchtbar stotterte. Er sei vom Wickeltisch gefallen, hieß es. Im Gegensatz zur Mutter wirkten alle drei vernachlässigt, äußerlich wie auch innerlich.

    Oft wurde es oben in der Wohnung laut, und zumeist waren es die Stimmen der Herrenbesuche. Aufgrund dessen hörte Anna einmal ein Streitgespräch zwischen ihrer Mutter und den Großeltern, in dem die Mutter die zornige Frage stellte: »Warum schmeißt ihr sie nicht raus, wenn ihr euch so aufregt?« Sie hörte die Oma antworten: »Wer nimmt sie, wer weiß, wo sie bleibt. Sieh, die Kinder, ist das nicht schlimm genug? Wie oft sind sie alleine. Hier guckt wenigstens mal einer nach ihnen. Michael, der arme Tropf, ist schon verstört genug!« Dann wurde leiser gesprochen, was Anna neugieriger machte. Sie musste das Ohr an die Tür legen, um besser verstehen zu können. Aber das mochte sie eigentlich nicht, darum entschied sie, einfach wie gewohnt in Omas Wohnung zu gehen, um den Dreien ein bisschen näher zu sein. Leider ohne Erfolg; das Gespräch wurde abrupt beendet. Wenn sie noch mehr erfahren wollte, musste ein Plan her und sie beschloss, sich mit Elke anzufreunden.

    Elkes verrücktes Wesen war leider extrem anstrengend. Sobald sich Anna ihr näherte, lief diese wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Also begann Anna, Elke weniger zu beachten und suchte den Kontakt zu Dagmar. Ihre Gedanken dabei waren, Elke aus den Augenwinkeln zu beobachten, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Dagi zögerte, sie wollte sich auf Anna einlassen, blieb aber durch Elkes Gegenwart gehemmt. Elke hielt Abstand und musterte Anna, was Anna genoss, aber nicht so recht verstand, schon gar nicht die drohenden Blicke Dagi gegenüber.

    Anna bat ihre ältere Schwester Lina um Rat. Lina meinte mit ablehnender Handbewegung: »Wenn du mit Elke spielen willst, gehst du am besten morgens nach oben. Die Alte schläft dann. Die ist nachts auf Ritt und kommt erst morgens, so gegen fünf, nach Hause. Elke kann dann nicht abhauen, sie muss auf Mike aufpassen. Der hat einen ganz schönen Knall, der rastet oft aus, und Dagi ist ein Angsthase. Da muss Elke hinhalten, damit die Alte pennen kann!« Anna erschrak über diese Art von Erklärungen nicht mehr. Sie bekam immer häufiger mit, wie mal schlecht, mal gut über Frau Ilona Rose gesprochen wurde, je nach Stimmung im Haus.

    Eines Morgens schlich Anna mit starkem Herzklopfen die steile Holztreppe nach oben. Sie wusste genau, welche Stufen knarrten. Mühevoll überstieg sie diese; niemand durfte vorgewarnt werden. Doch dann verließ sie der Mut und sie rannte wieder nach unten in die elterliche Wohnung. Dort warf sie sich aufgeregt in den Wohnzimmersessel. Glücklicherweise war niemand da, denn sie schämte sich fürchterlich für ihre Feigheit. Den Kopf in beide Händen versteckt, schrie es in ihr: »Nein, ich bin nicht feige, nein, nein, nein!«

    Am nächsten Morgen startete sie den zweiten Versuch. Sie schlich, mit etwas weniger Herzklopfen als am Vortag, die steile Holztreppe nach oben. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Keine Reaktion. Mutig klopfte sie das zweite Mal fester. Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Michael stand direkt vor ihr und sechs weit aufgespannte Augen starrten sie an.

    Jetzt gibt es kein Zurück, dachte Anna panisch und rief schnell ein freundliches »Guten Morgen« über Michaels Kopf in die Stube hinein. Sogleich wurden die Blicke eine Spur ängstlicher und bohrender. Anna sah schnell ablenkend zu Michael hinunter. Ein plötzliches und liebenswürdiges »Komm doch rein« erinnerte Anna, warum sie überhaupt an diese Tür klopfte.

    »Ich, ich wollte mal gucken, wie, wie es euch, äh, Ihnen geht«, stotterte Anna und fühlte sich ertappt. Die Frau und Mutter, die eigentlich schlief, bot ihr schlaftrunken einen Platz am Tisch an: »Magst du ein Brötchen? Hier ist Wurst, da Käse. Möchtest du Milch oder Kaffee?« Anna lehnte dankend ab.

    Frau Rose schwankte im Morgenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt, ungekämmt, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, plump auf ihren Stuhl zu. Neben ihrer Kaffeetasse standen ein Schnapsglas und eine fast leere Schnapsflasche. Gutmütige, müde Augen musterten den Gast; hängende Mundwinkel bliesen den Zigarettenqualm an ihm vorbei. Das Gesicht der Frau sah jetzt noch älter aus.

    Der Frühstückstisch war maßlos vollgepackt. Nur der Duft von frischen Brötchen verbreitete einen Hauch Gemütlichkeit. Etwas verstört lehnte Anna nochmals das Angebot ab, etwas zu essen. Jetzt saß auch sie, wie die anderen, stumm auf dem Stuhl und wagte sich kaum zu rühren. Elke und Dagmar wichen wie gewohnt zurück, guckten ins Leere. Michael legte seinen Kopf auf den Schoß der Mutter. Anna fühlte sich wie ein Eindringling. Verlegen sah sie in die Runde, sah die Frau hilflos an, die mit heiserer Stimme versuchte, diese seltsame Situation zu erklären, wobei sie Anna immer wieder Schnaps und Zigaretten anbot. Doch Anna lehnte wiederholt freundlich ab. Frau Rose stutzte dann für einen Augenblick, wohl flüchtig erkennend, dass sie doch keine erwachsene Person vor sich hatte.

    Nach solchen Unterbrechungen erzählte die Frau verzweifelt vom Schmerz, vom Zorn über die DDR und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Dabei liefen ihr erneut ein paar Tränen über die Wangen, und die Zigarettenzüge wurden hastiger. Sie erwähnte Heidrun, ihr erstes Kind, das sie seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen hatte, und nach dem sie sich schrecklich sehnte. Als die Mauer von einem Tag zum anderen gebaut wurde, war sie im Westen auf Arbeitssuche, Heidrun im Osten bei den Großeltern. Sie konnte nicht zurück, hatte aber versucht, die Tochter zu sich herüberzuholen. Doch plötzlich brach der Kontakt ab, zu den Eltern, zu dem Kind; ihrer aller Leben war in Gefahr geraten. Später habe sie nichts mehr über sie in Erfahrung bringen können. Der ganze Schmerz, diese schreckliche Ungewissheit, was warum geschah, brachte sie fast um. Letztlich scheiterte ihre Ehe daran.

    Anna war vollständig überfordert: Osten, Westen, DDR, Gewalt, Mauerbau, Flucht, Todesangst, Heidrun, noch ein Kind, Scheidung, Unrecht, alles Worte, die in ihrer Kinderseele Schmerz hervorriefen. Sie verstand nichts, sah die Tränenflut der Frau, der Mutter, die Menge an hastig gerauchten Zigaretten und die immer wieder angebotenen Schnäpse.

    Irgendwann stand Frau Rose auf, bedankte sich für das Zuhören, sagte, dass sie jetzt schlafen müsse und schleppte sich ins Zimmer nebenan. Anna blieb allein zurück. Die anderen hatten sich längst davongeschlichen. Bestürzt, aber leise, verließ Anna den Raum. Das gerade Erlebte wollte sie nicht stören. Tiefes Mitgefühl überfiel sie. Sie nahm es mit, ebenso den Zorn und die Wut über ein Land, das in sich gespalten schien, Familien zerstörte, unsagbares Leid hervorrief.

    Anna war gerade zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem geteilten Deutschland hörte, und sie erfuhr soeben, was eine durch Gewalt bewirkte Trennung auslösen konnte.

    Am nächsten Tag erlebte Anna, wie eine Frau nicht die Frau ist, die sie wirklich war, als sich beide im Treppenhaus begegneten. Frau Rose war wieder Frau Ilona Rose, hübsch gekleidet und geschminkt, die Haare flott frisiert, ein Lächeln im Gesicht mit der stets wiederkehrenden Frage: »Wo ist deine Schwester? Ich höre sie so gerne lachen.«

    Gedichte

    Bernd Ernting

    Ein Grenzfall

    Wir sind das Volk! ruft das Volk laut

    Dass es Mielke im Innersten graut

    Die Prager Botschaft schon übervoll

    Hegt das Politbüro nun großen Groll

    Honecker, erster Staatsrat ist ratlos

    Er tritt zurück und schaut tatlos

    Zu, wie Krenz die Grenze fallen lässt

    Hat Angst, dass er verurteilt zu Arrest

    Landet doch mancher Mauerwerker

    Zuvor auch schnell in diesem Kerker

    Wenn er ein Loch im Steine ließ

    Das ihm den Weg nach draußen wies

    Die »SEDDR« in sich zusammenfällt

    Die Grenzen offen - in die weite Welt

    Die Menschen weinen, lachen, lallen

    Sich überglücklich in die Arme fallen

    »Flüchtende« gab es dann noch viele

    Honecker selbst flüchtete nach Chile

    Wusst er denn nicht - der arme Tropf

    Die dickste Mauer war in seinem Kopf

    Der Mauerstachel

    Wir sind das Volk…

    Honecker

    Überschlauer Mauerbauer

    Keift

    Verrat am Stacheldraht

    Doch

    Was die Menschen

    Erhoffen

    Wie lange schon…

    Grenzen

    Gibt es nicht mehr

    Offen

    Ist die DDR

    Schabowski

    Liest keinen Schabernack

    Übernacht

    Wurd quasi Staat und Stasi

    Abgeschafft

    Wir sind ein Volk.

    Ich und der Kohl können nix dafür…

    Was kann der Kohl denn schon dafür

    Dass wir ein Volk sind

    Was kann der Kohl denn schon dafür

    Dass der »Osten« blüht…

    Die Leute tun, als wäre Kohl ein Held

    Dabei tat er das, mit unser aller Geld

    Die Ostverträge hatte Brandt gemacht

    Die Perestroika ist von Gorbatschow

    Die Große Freiheit kam, hurra, juchhei

    Vom Leipz’ger Volk* und Kirche Nikolei

    Was kann der Kohl denn schon dafür

    Dass wir so schön sind…

    Was kann der Kohl denn schon dafür

    Dass wir ein Volk sind

    Was können Wessis schon dafür

    Dass »es« elegant gelang

    Die Ossis haben das allein gewendet

    Ein wenig haben wir dafür gespendet

    Die Volksarmee wollte nicht schießen

    Auch die Russen hatten keine Lust

    So kam die Freiheit - welch ein Glück

    Nach Sozialismus-Urlaub gern zurück

    Was kann der Kohl denn schon dafür

    Dass wir so schön sind…

    *Stellvertretend genannt für Alle.

    Eine Hauptstadt mit »B«

    Cornelia Theda

    Wir hatten das Jahr 1978 und ich war ein junges Ding, gerade mal 20 Jahre alt. Endlich hatte ich ein eigenes Auto, einen uralten VW Käfer. Damit wollten meine Schwester und ich gemeinsam auf große Reise gehen. Und das erste und beste Ziel, das uns einfiel, war West-Berlin. Denn dort lebte ein Großteil unserer Familie: Tanten, Onkel, Cousins etc.

    Es war schon eine Strecke vom Ruhrgebiet, die wir zu bewältigen hatten, aber wir fühlten uns sehr erwachsen. Mit unserer »Lebenserfahrung« und diesem tollen Auto stand uns quasi die Welt offen – aber nicht die DDR. Egal, Berlin war für uns der Inbegriff des Lebens – groß, wild, gefährlich, bedrückend, befreiend – es war also klar, dass kein anderes Ziel in Frage kam.

    Am Grenzübergang Marienborn ordnete ich mich, ganz die Erwachsene, die ich ja nun laut Führerschein war, in die Spur Richtung »Berlin« ein.

    Mit der Beschilderung »Transitstrecke« konnte ich jedoch überhaupt nichts anfangen. Das klang für mich nach »Transsibirien« oder »Transsylvanien«, auf jeden Fall sehr, sehr suspekt. Denn ich wollte ja nach Berlin, und so stand es auch auf den Hinweisschildern geschrieben.

    Als ich dann endlich an den Kontrollschalter heran rollen durfte, stürzte ein VoPo auf unser Käferchen zu, wie immer, mit geschulterter MP, tief in die Stirn gezogener Mütze und äußerst finsterem Blick. Meine Schwester und ich zitterten vor Angst. Wir wussten ja, dass es immer so war. Man kam sich wie ein Verbrecher vor, aber ohne elterlichen Schutz war die Situation schon bedrohlich.

    Der VoPo schnauzte mich in diesem typisch humorlos-militärischen Ton an, der wahrscheinlich für diese Berufsgruppe erfunden worden war. Vielleicht gab es sogar Sprachkurse, um die hohe Kunst dieses arroganten, zutiefst verächtlichen Tons zu lernen. Er blaffte: »Wohin?« Ich antwortete zitternd und stotternd: »Äh, nach Berlin«, und setzte vorsichtshalber noch nach, damit auch keine Missverständnisse aufkamen: »zu meinem Onkel…«. Beinahe hätte ich noch »Hans« hinzugefügt, aber mein Gehirn konnte noch gerade signalisieren, dass dieser Herr Onkel Hans sehr wahrscheinlich nicht kannte.

    »Hauptstadt oder West?« Ich schluckte und überlegte fieberhaft, was dieser Kerl damit meinen konnte. Wieso Hauptstadt? Berlin war alles, aber doch keine Hauptstadt. Es war eine Insel, ein Abenteuerspielplatz, eine Zeitbombe, ein Käfig, ein Paradies. Aber eine Hauptstadt?

    Also meinte ich, vor Naivität und Aufrichtigkeit strotzend, diesen Mann aufklären zu müssen und stellte richtig: »Aber das ist doch Bonn!« Meine Schwester kicherte los, sie kugelte sich zusammen und ihr liefen Tränen über die Wangen, um nicht lauthals loszulachen.

    Der VoPo verzog keine Miene, wedelte mit seiner Waffe herum und knurrte dann fatalistisch:

    »Zurücksetzen, richtig einordnen und ab nach WEST-Berlin. Für so was wurde die Transitstrecke gebaut«. Also setzte ich brav zurück, ordnete mich richtig ein und fuhr, immer noch mit schlotternden Knien, über die berühmt-berüchtigte Transitstrecke in die vorher-und-jetzt-endlich-wieder-aber-damals-auf-gar-keinen-Fall-Hauptstadt, die mit keiner anderen Stadt der Welt zu vergleichen war und ist und die ich über alles liebe.

    Jenseits der blauen Grenze

    Dorit Linke

    Auszug aus »Jenseits der blauen Grenze« (Magellan Verlag)

    Unsere Taschen liegen vergraben unter einem Hagebuttenstrauch. Findet sie jemand, ist alles vorbei. Die Feldflasche habe ich mit Muttis Gürtel am Körper befestigt. Er hat eine goldene Schnalle und ist so hässlich, dass sie ihn nicht vermissen wird.

    Nachher müssen wir im richtigen Moment loslaufen und kriechen, so wie wir es beim Pioniermanöver gelernt haben.

    Bloß nicht ins Licht der Scheinwerfer geraten, das kilometerweit über den Strand wandert. Die Stelle, die wir uns ausgesucht haben, ist gut, weit weg vom Grenzturm.

    Es ist viel NVA um uns herum. Direkt hinter uns steht ein Schild.

    Sperrzone. Betreten und Befahren verboten.

    Opa hat mir gesagt, dass ich auf die Posten aufpassen soll. Die werden an uns vorbeilaufen, außerdem werden Autos mit gleißenden Scheinwerfern herumfahren. Er hat mir auch gesagt, dass die Suchscheinwerfer nach einer Stunde zum Kühlen ausgeschaltet werden müssen. So einen Moment werden wir nutzen, um runter an die Ostsee zu laufen.

    Am Wasser liegt ein Findling, hinter dem wir uns verstecken können. Wir werden rasch unten sein. Der Sandstrand ist hier nicht so breit wie in Warnemünde. Später in der Ostsee tauchen wir einfach unter, wenn das Scheinwerferlicht auf uns zukommt.

    Mutti habe ich einen Zettel unter die Bettdecke gelegt. Sie soll sich keine Sorgen machen. Wird sie wohl trotzdem. Sie wird mich nicht in Kühlungsborn vermuten, sondern an der Neptunschwimmhalle auf mich warten. Gestern habe ich mich beinah verraten, weil ich ihr beim Wetterbericht über den Mund gefahren bin. Normalerweise interessiere ich mich dafür nicht.

    Fünfzig Kilometer bis nach Fehmarn. Das ist echt weit.

    Wenn die Strömung mitspielt, schaffen wir die Strecke in fünfundzwanzig Stunden. Momentan herrscht ablandiger Wind. Hoffentlich bleibt es dabei. Wenn es dunkel ist, werden wir losschwimmen, dann sind wir schon ein Stück vom Land entfernt, wenn die Boote in der Morgendämmerung nach Flüchtlingen suchen. Kommt eine Patrouille, tauchen wir unter und atmen durch unsere Schnorchel, die ich gestern im Keller mit Plastikschläuchen verlängert habe. Als Nachbarin Lewandowski mich damit hantieren sah, wollte sie wissen, wozu das gut sei. Ich habe ihr von den Karpfen im Dobbertiner See erzählt, die ich beobachten wollte.

    Neunzehn Grad Wassertemperatur, das ist gut. Weiter draußen wird es kälter sein. Das wird hart. So viel trainieren kann man gar nicht. Doch wir werden es schaffen. Endlich ist es so weit! Ich bin aufgewühlt und gleichzeitig ruhig, auf unser Vorhaben konzentriert.

    Andreas sieht blass aus. Zum Glück ist er dabei, ohne ihn könnte ich es nicht. Gerade hat er mir zugelächelt.

    Er hat Angst. Ich auch, aber darüber darf man nicht nachdenken. Andreas hält Die schwarze Feluke in der Hand. Für Sachsen-Jensi, in Folie eingeschweißt. Das einzige Mosaik-Heft, das ihm in seiner Sammlung noch fehlt, erschienen im November 1982. Im Westen bekommt er das nicht, wir müssen es ihm mitbringen. Das haben wir ihm versprochen.

    Piraten auf dem Cover, Fischerboote, hochschlagende Wellen, Leuchtfeuer und Männer mit Turbanen. Andreas betrachtet das Bild, das so blau ist wie die Dämmerung, die uns umhüllt. Bestimmt möchte er durch das Heft blättern, doch das geht wegen der Folie nicht.

    Ins Heft habe ich einen Zettel gelegt, da steht die Telefonnummer meiner Eltern drauf. Falls etwas passiert und jemand das Heft findet, weiß er, wo er anrufen muss.

    Was würde Sachsen-Jensi sagen, wenn er uns sehen könnte, hier in den Dünen, wartend, mit Blick auf die Ostsee? Hitze in meinem Magen, vor Aufregung! Ein angenehmes Gefühl. Ich bin glücklich, dass wir aufbrechen werden, fühle mich das erste Mal seit Monaten wieder leicht, fast unbeschwert. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es riecht nach Salzwasser und nach Algen. Ich öffne die Augen wieder. Hagebuttenfrüchte baumeln zwischen mir und dem spiegelglatten Wasser, einige Meter entfernt wächst Strandhafer.

    Sachsen-Jensi würde

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