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Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau
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eBook413 Seiten6 Stunden

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau

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Über dieses E-Book

Ella, eine Frau Anfang 50, steckt nach über 30 Ehejahren mitten in der Scheidung. Um mit ihrem Gefühlschaos klarzukommen, beginnt sie, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben und wird von den Erinnerungen des Erlebten aus Kindheit und Jugend überrollt.

Doch damit nicht genug. Während sie versucht, ihr eigenes Leben neuzuordnen, wird sie ständig gezwungen, ihren beiden Söhnen Pit und Tobias aus Krisensituationen herauszuhelfen. Auch das Verhältnis zu ihrer Tochter Anna ist nicht spannungsfrei. Die größte Fessel jedoch ist ihr geschiedener und alkoholabhängiger Mann Paul. Es gelingt Ella einfach nicht, sich um sich selbst und ihre Bedürfnisse zu kümmern; sie reibt sich auf für die Familie und die eigene Firma. Sie verliert den geliebten Bruder, die Mutter, einen Freund.

Nach Jahren der Opfer könnte Ella mit ihrem Lebensgefährten Nick eigentlich ihren Lebensabend genießen, doch dann kommt alles anders.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Juli 2014
ISBN9783847696681
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    Buchvorschau

    Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau - Helga Bögl

    Die Trennung

    Mit einem lauten Knall schlug Ella die Wohnzimmertüre hinter sich zu. Sie war wütend und hatte sich wieder einmal mit ihrem Mann Paul gestritten. Es ging immer um das gleiche Thema: Sie wollte die Scheidung und er nicht. Hinter der Türe konnte man ihn noch toben hören, aber es war kein richtiges Toben, es war mehr ein Gelalle, weil er schon wieder einmal getrunken hatte. Er war Alkoholiker, und seit Jahren ging das nun schon so. Immer wieder, wenn Ella von einer Scheidung sprach, fing er an zu toben. Er hatte es ja auch sehr bequem hier im Haus. Ella kümmerte sich um alles. Neben ihrem Beruf versorgte sie nicht nur ihn und ihren jüngsten Sohn Tobias, sondern auch noch Haus und Garten. Sie liebte ihr Haus, das sie damals nur bauen konnten, weil sie viel Unterstützung von ihren Eltern und einen Bausparvertrag von ihrem Bruder bekommen hat.

    Von ihren drei Kindern war Tobias der Jüngste, und er war auch der einzige, der noch zu Hause wohnte. Er stand kurz vor dem Diplom, und das war auch der Grund, warum sie immer noch hier geblieben ist. Sie wollte warten, bis er seinen Dipl.-Ing. in der Tasche hatte, aber sie hatte es satt, die beiden hinten und vorne zu bedienen. Tief in ihrem Herzen wartete sie auf ein Wunder, das die Lösung zu ihren Problemen bringen würde. Sie wusste, sie würde eine Scheidung nur erreichen, wenn sie beide, wie es das Gesetz verlangt, ein Jahr getrennt von Tisch und Bett leben würden, doch dass sie und Paul unter einem Dach leben würden war nicht möglich.

    Seit Jahren führten sie und Paul schon keine Ehe mehr. Es war nur noch so ein „Nebeneinanderherleben" wegen der Kinder. Paul sah Ella schon längst nicht mehr so, wie ein Mann seine Frau sieht. Er betrachtete sie wie sein Eigentum. Sie hatte manchmal das Gefühl, er sah in ihr so eine Art Nippesfigur, eine, die man im Schrank stehen hat, mit der man nichts anfangen kann, aber die man auch nicht hergeben möchte, weil man sie keinem anderen gönnt. Er hatte keine Hobbys, saß den ganzen Tag vor dem Fernseher und trank eine Flasche Bier nach der anderen. Tobias, dem das Lernen leicht fiel, war nicht viel besser als sein Vater. Manchmal hatte er gar keine Lust, zur Uni zu gehen, und oft lag er noch im Bett, wenn Ella bereits aus dem Büro heimkam. Keiner der beiden machte auch nur einen Finger krumm, um sie zu unterstützen.

    Es war zum Verrücktwerden, und sie hatte das Gefühl zu ersticken, wenn sie noch länger bleiben würde. Schon seit Tagen grübelte sie, wie es weiter gehen sollte, und sie hatte für alle Fälle bereits einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt. Sie war fest entschlossen auszuziehen. Sollten die beiden doch mal sehen, wie sie zurechtkamen.

    Heimlich hatte sie sich ein kleines Apartment gemietet, in das sie sich immer dann zurückzog, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt. Aber das war natürlich nicht der einzige Grund. Sie hatte seit Jahren einen Geliebten, mit dem sie sich hier, meistens am Wochenende, traf. Und es gab noch einen weiteren Grund, sie hatte ein schönes Hobby. Sie liebte das Schreiben, und das konnte sie zu Hause nicht. Seit Paul wegen seiner Trunksucht verfrüht in Rente geschickt wurde, war er meistens schon am frühen Morgen angetrunken. Er meckerte und stänkerte ständig und gab einfach keine Ruhe. Manchmal war es überhaupt nicht mehr auszuhalten. Hier aber hatte sie ihre Ruhe. Sie schrieb ab und zu Artikel für eine kleine Zeitschrift an ihrem Ort. Sie schrieb gerne Gedichte, die auch schon veröffentlicht worden sind.

    Paul und sie hatten bereits seit Jahren getrennte Schlafzimmer, und wenn sie ihn rumoren hörte, was nicht selten vorkam, lag sie so manche Nacht wach und wünschte sich dann, in ihrem Apartment zu sein. Weil sie sich mit ihrem Beruf und mit ihrer Familie überfordert fühlte, flüchtete sie immer öfter in ihre kleine Welt, in das Apartment. So auch heute, und sie war fest entschlossen, Paul endgültig zu verlassen. Sie nahm sich vor, gleich morgen ihre Anwältin anzurufen.

    Mit dem Koffer in der Hand hatte sie, ohne ein Wort zu sagen, das gemeinsame Haus verlassen und fuhr in ihr kleines Reich, wie sie es nannte. Gleich nach dem Eintreten warf sie sich auf das breite, französische Bett in der Mitte des Raumes. Sie war unglücklich, unentschlossen und voller Zweifel, ob sie auch das Richtige getan hatte. Schon oft hat sie hier auf dem Bett gelegen und über ihr verpfuschtes Leben nachgedacht. In all den Jahren hatte sich eine Menge Groll angestaut, und sie hatte einmal gelesen, dass es hilfreich sein kann, seine Gedanken und seinen Ärger niederzuschreiben. Aber bei ihr war es ja nicht nur der Ärger. Sie hatte manchmal das Gefühl, als sei sie angekettet. Angekettet an Paul, und sie schaffte es einfach nicht, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. In Gedanken flüchtete sie sich oft in die Vergangenheit.

    Alles hatte sie zum Schreiben vorbereitet. Die alte Schreibmaschine von zu Hause hergebracht und Papier besorgt, aber wo sollte sie beginnen? Sie fand einfach nicht die richtigen Worte, um mit ihrer Geschichte zu beginnen.

    Sie hatte nie das Bedürfnis gehabt, über ihre Kindheit zu sprechen, doch in letzter Zeit verirrten sich ihre Gedanken immer öfter in die Zeit, in der sie noch ein kleines Mädchen war. Es war schon merkwürdig, dass sie, immer wenn sie unglücklich war, und hierher flüchtete, an bestimmte Ereignisse in ihrer Kinderzeit denken musste. Vielleicht lag es ja daran, dass sie alles so lange hingenommen hatte, weil sie als Kind so streng erzogen wurde. Vater duldete keinen Widerspruch. Sagen durften sie und ihr Bruder immer nur dann etwas, wenn er es erlaubte oder wenn sie von ihm etwas gefragt wurden. Besonders streng war Vater, wenn sie alle bei Tisch saßen. Der Teller musste immer leer gegessen werden, und um das durchzusetzen, stand der Teppichklopfer stets griffbereit. „Vielleicht ist das ja so, wenn man älter wird, dass man dann viel an die Zeit von früher denkt", ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte schon einmal gehört, dass Menschen, wenn sie älter wurden, sehr oft in der Vergangenheit leben, und schließlich war sie ja bereits etwas über fünfzig. Vielleicht gehörte sie auch schon dazu, weil sie so viel an früher dachte und so viel grübelte?

    Erinnerungen an die Kindheit

    Ja früher, das war eben eine andere Zeit. Eine Zeit, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Damals, nach dem Krieg, war sie mit ihren Eltern, es war 1946 im Mai, aus der Tschechoslowakei ausgewiesen worden. Sie war knapp acht Jahre alt. Deutsche Kinder hatten es in den Jahren 1945/46 nicht leicht. Sie durften nicht zur Schule gehen und so versuchte Ellas Oma, dem Kind ein bisschen Lesen und Schreiben beizubringen.

    Viele Begebenheiten aus ihren Kindertagen hatten sich in Ellas Gedächtnis festgebrannt. So konnte sie den Tag nie vergessen, an dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, der damals noch ganz klein war, in den Luftschutzkeller geflüchtet war, der ein paar Häuser weiter zur Verfügung stand. Die Sirenen heulten, und die Menschen liefen alle aufgeregt durcheinander. Jeder versuchte, ein paar seiner Habseligkeiten in den Keller mitzunehmen. Ihre Mutter stellte plötzlich fest, dass sie das Sparbuch vergessen hatte. Sie ließ die beiden Kinder in dem Keller allein, um nochmals schnell nach Hause zu laufen und das Sparbuch zu holen. Ella umklammerte ihren kleinen Bruder und hatte furchtbare Angst, dass Mutter nicht wiederkommen würde. Es war ein solches Stimmengewirr und Durcheinander, und viele Leute drängten eilig in den Keller. Sie spürte große Erleichterung und klammerte sich ängstlich an die Mutter, als diese wiederkam.

    Auch der gefangene Soldat, der durch das Fenster um Brot bettelte, fiel Ella wieder ein. Die damalige Wohnung ihrer Eltern war in einer langen Gasse gegenüber einem Gefängnis. Oft hörte Ella Schüsse, die durch die Mauern drangen, und manchmal auch Schreie. Als sie einmal mit den Nachbarskindern auf der Straße spielte, klopfte ein Mann von innen an das Gefängnisfenster. Das Fenster ragte nur halb aus der Erde, es musste dort der Keller gewesen sein. Der Mann deutete mit der Hand an den Mund und machte Zeichen, als ob er Hunger hätte. Ella rannte zu ihrer Mutter und erzählte ihr, was sie gesehen hatte. Die Mutter gab ihr einen halben Laib Brot, den Ella dann dem Mann durch die Gitterstäbe am Fenster durchsteckte, und der Mann verschwand dann eilig mit dem Brot.

    Und an die Zeit der Zwangsausweisung konnte sich Ella noch ganz genau erinnern. Die Leute in dem kleinen Dorf, in dem sie geboren wurde, wurden zusammengetrieben wie eine Viehherde und in ein Auffanglager gesteckt. Sie konnte sich noch an eine große Halle mit Betonfußboden entsinnen, auf dem Stroh ausgelegt war, und dort schliefen viele Menschen. Es waren vor allem Frauen mit Kindern und viele alte Leute. Mutter besaß einen Blechnapf, mit dem Ella zum Essenholen geschickt wurde. Ihre Mutter musste bei Ellas kleinem Bruder bleiben, der zu dieser Zeit krank war. Alle Leute mussten vor dem Ausschank in der Suppenküche in einer langen Reihe anstehen, und jeder wartete geduldig, bis er an der Reihe war und ein wenig zu essen bekam. Es gab wirklich nur wenig, meistens nur ein bisschen Suppe mit einigen Kartoffelstückchen, manchmal gab es auch etwas Tee und eine kleine Scheibe Brot. Was sonst noch in dem Lager geschah, hatte sie gedanklich irgendwie verloren. So sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, es war nichts mehr da, es war wie ausgelöscht. Nun ja, sie war auch ein sehr verträumtes Kind und hatte vielleicht alles nur verdrängt und konnte sich deshalb an viele Vorkommnisse nicht mehr erinnern.

    Die Verladung auf dem Bahnhof, als alle in die vielen Waggons gezwängt wurden, konnte sie sich wieder ins Gedächtnis rufen. An der Grenze nach Deutschland mussten alle aussteigen. Alle mussten in einen großen Waschraum gehen und sich ausziehen, und zwar nackt. Dann kamen irgendwelche Leute und besprühten die Menschen zuerst mit einem weißen Pulver, um sie dann abzuduschen. Es hieß, es sei wegen der Läuse und Flöhe, die sonst eingeschleppt werden könnten. Alle mussten zurück in die Waggons, und die Fahrt ging dann weiter. Unvergessen war Ella noch der Bahnhof, an dem einige Leute aussteigen mussten. Bauern standen dort mit Traktoren und Anhängern. Ganz plötzlich war auch ihr Vater da. Mutter fiel ihm in die Arme. Während alle auf die Anhänger verladen wurden, erzählte Vater, wie er sie gefunden hatte. Er berichtete auch, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich bis zur Grenze versteckt halten musste. Es war ein großes Durcheinander auf dem Bahnhof. Keiner wusste, was man zu erwarten hatte. Als alle Leute aus den Waggons auf die Traktoren und Hänger verteilt waren, ging die Fahrt weiter. Vorher hatte noch jeder vom Roten Kreuz, das auf dem Bahnhof anwesend war, eine Zahnbürste mit Zahnpasta bekommen. Dazu erhielt jeder eine warme Decke und einen Becher mit heißen Tee. Zusätzlich bekam von den Erwachsenen jeder ein aufklappbares Feldbett. Das wusste Ella noch genau. Viele Jahre danach hatte Vater dieses Bett immer noch, und wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam und das Wetter war schön, legte er sich mit diesem Feldbett in den Garten.

    Am Bahnhof musste Ella noch zur Toilette. Sie staunte, denn da war eine richtige Toilette mit Kloschüssel, und ein Waschbecken war auch da. Es war nicht wie im Waggon, wo in der Mitte ein Loch im Boden war, und wenn einer „musste, breiteten ein paar Leute ihren Mantel aus, standen mit dem Rücken zum Loch, und mit ausgebreiteten Mänteln verdeckten sie die Blicke, so dass die Notdurft verrichtet werden konnte. Auch bei Großmutter gab es kein solches Klo. Da gab es ein kleines Häuschen hinten im Stall. Man setzte sich auf ein Brett, das über einem Loch befestigt war, und zum Säubern nahm man altes Papier. Wenn man einmal nachts musste, nahm Großmutter einen Nachttopf, ein sogenanntes „Potschamperl unter dem Bett hervor, das dann am Morgen ausgeleert wurde.

    Ella wusste noch, dass sie damals auch die Großmutter und den Großvater aus einem der Waggons aussteigen sah, und die Tante, die Schwester ihrer Mutter, war auch mit dabei. Auch sie wurden alle auf einen Anhänger verladen. Die Fahrt ging über holprige Straßen, durch einen dichten Wald und über einen Feldweg. Dann waren sie plötzlich im Hof bei einem Bauern, und es kamen zwei Frauen, die beim Absteigen behilflich waren.

    Jede Familie wurde bei einem anderen Bauern abgeladen, alle aus den Waggons wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt. Großmutter und Großvater und auch die Tante wurden bei einem Bauern im gleichen Dorf wie Ella und ihre Eltern abgeladen, und Ella freute sich, dass sie alle beisammen waren. Nur ihre beiden Onkel, die Brüder ihrer Mutter, fehlten noch. Die seien immer noch in Kriegsgefangenschaft in Russland, so hatte sie einmal gehört, als die Erwachsenen sich unterhielten. Sie liebte ihre Großmutter sehr, denn sie hatte ja die ersten fünf Jahre bei ihr auf dem Bauernhof verbracht. Sie war ein „lediges Kind, wie man damals sagte, und ihre Eltern heirateten erst, als Vater von der Front heimkam. Das war genau an ihrem ersten Geburtstag. Das Häuschen, das Ellas Familie zugewiesen bekam, war vorher ein sogenanntes Austragshaus gewesen. Das ist ein kleines Häuschen neben einem Bauernhof, in welches üblicherweise der Bauer oder die Bäuerin einzogen, falls eines der Kinder den Hof übernehmen würde. Meistens war das der ältere Sohn. Aber in diesem Falle gab es auf dem Bauernhof keinen männlichen Erben. Es waren nur drei heiratsfähige Töchter da, und die älteste davon hatte ein verkürztes Bein und hinkte. Die Bäuerin mit ihren Töchtern war nicht gerade erfreut, weil sie Ella und ihre Familie aufnehmen mussten. Das Häuschen, das nun ihr neues Heim werden sollte, stand lange Zeit leer und wurde vorübergehend als Unterkunft für die Schweine genutzt. Es war zwar saubergemacht und notdürftig hergerichtet, aber der Geruch der Schweine hing noch in der Luft. Die Wände waren noch eine Handbreit über dem Boden ganz feucht und schmutzig. Es waren zwei kleine Räume. Man ging durch den einen Raum in den anderen, das war bei Ella noch sehr präsent. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Vater vor sich, wie er mit einer Kelle den feuchten und stinkenden Mörtel vom unteren Rand der Mauern kratzte und neuen Mörtel aufzog. Ihre Mutter schrubbte den Bretterboden mit einer Wurzelbürste und murmelte: „Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf. Die erste Verpflegung bekam die Familie von der Bäuerin. Etwas Milch und etwas Brot, und am Abend wurde die ganze Familie beim Bauern zu einer Brotsuppe eingeladen. Nie im Leben hatte ein Essen so gut geschmeckt. Es gab gekochte Kartoffeln, die mit einem Löffel aushöhlt wurden, und dieser Inhalt wurde zur Brotsuppe gegessen, in die man noch vorher etwas Milch gegossen hatte.

    Ellas Mutter arbeitete von da an als Magd beim Bauern. Sie half im Stall und auf dem Feld, und verdiente sich ab und zu etwas Geld durch Näharbeiten. Sie hatte in der Tschechoslowakei Damenschneiderin gelernt, und so wurde sie bald bei verschiedenen Bauern eingeladen, um Kleidung auszubessern oder auf Hochzeiten zu helfen, die Braut zu schmücken. In dieser Zeit musste Ella immer auf ihren kleinen Bruder aufpassen und nach dem Mittagessen das Geschirr spülen. Sie hasste das als Kind, und auch heute noch mochte sie es nicht, Geschirr abspülen zu müssen. Ihre Mutter half auch sehr oft bei den Bauern, die Aussteuer für die Braut herzurichten, und Ella konnte sich mit Schmunzeln noch daran erinnern, wie da geschummelt wurde. Im Aussteuer-Schrank wurde hinter die Wäsche Zeitungspapier gestopft, die Wäsche dann mehrmals gefaltet und von hinten mit dem Zeitungspapier gestützt, damit es von vorne so aussah, als hätte die Braut ganz viel Wäsche im Schrank. Es war ja Brauch, dass die Hochzeitsgäste sich die Mitgift der Braut ansehen durften.

    Ihre Mutter war überhaupt sehr geschickt. Sie konnte so vieles, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Sie machte selbst Bier. Es war zwar sehr dunkel, aber es schmeckte toll. Natürlich hatte Ella heimlich genascht, sonst hätte sie ja nicht gewusst, wie es schmeckt. Damals legte man für den Winter Vorräte an, denn frisches Gemüse gab es im Winter nur, wenn man vorgesorgt hatte. Ellas Mutter hatte eine Kiste im Schuppen, vollgefüllt mit Sand. In diese Kiste wurde Gemüse für den Winter eingegraben, das heißt, mit Sand zugedeckt, damit es frisch blieb. Am schönsten aber war es, wenn Ellas Mutter zu Weihnachten Schokolade machte. Sie verrührte Kakao und Zucker in einer Schüssel. Dann schmolz sie etwas Kokosfett und rührte dieses in die Kakao-Zuckermasse, bis ein gleichmäßiger Brei entstand. Das Ganze füllte sie dann in kleine Förmchen aus Aluminium. In eine bereits vorbereitete große Schüssel, die mit Schnee gefüllt war, legte sie diese Förmchen. Durch die Kälte des Schnees gefror die Kakao-Masse. Die Förmchen wurden dann aus der Schüssel mit dem Schnee herausgenommen, umgedreht und gestürzt. Ella und ihr Bruder freuten sich jedes Jahr schon vor Weihnachten auf diese wundervoll schmeckende Schokolade. Ihre Mutter konnte sogar Seife selbst herstellen. Oder sie schichtete Eier in ein großes Glas mit Kalkbrühe, damit die Familie jederzeit Eier hatte im Winter, wenn die Hühner nicht so viele Eier legten. Ellas Vater half zu der Zeit als Maurer in einer kleinen Baufirma im Dorf. Statt Geld brachte er oft Speck, Brot, ja sogar Hammelfleisch oder Milch mit nach Hause, manchmal auch Eier oder Fleisch von einem Kaninchen.

    Als Kind musste Ella oft bei Bauern im Nachbardorf abends zur Stallzeit, wenn die Kühe gemolken wurden, mit der Milchkanne vorbeikommen, um Milch abzuholen, die ihr Vater als Lohn für seine Arbeit bekommen hatte. Auf einem dieser Wege hatte sie ein Erlebnis, das sie nie vergessen konnte. In dunkler Nacht musste sie zu einem etwa vier Kilometer entfernten Bauernhof in den Nachbarort gehen. Ganz allein über Wiesen und Felder, vorbei an Büschen und umzäunten Viehweiden. Hinter jedem Busch hätte da jemand lauern können, und sie hatte furchtbare Angst. Es gab in dem Ort einen Schafhirten, der etwas behindert war. Alle nannten ihn den „Zucker-Spitz-Franzl und machten sich über ihn lustig, wenn er mit seiner Schafherde über die Felder zog. Er redete nie und hatte immer nur ein Grinsen im Gesicht. Als Ella an diesem Abend durch die finstere Nacht lief, stand dieser plötzlich neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er war da, wie aus dem Nichts. Sie erschrak fürchterlich, und eine panische Angst überkam sie. Sie fing an zu laufen, und ihre Schritte wurden immer schneller. Grinsend lief er neben ihr her. So richtig sprechen konnte er nicht, er lallte etwas, das Ella nicht verstand. Sie blickte zur Seite und bemerkte, dass sein Hosenschlitz offen war, und er hielt seinen Penis in der einen Hand und mit der anderen freien Hand zeigte er darauf und grinste. Ella lief schneller, ja sie rannte geradezu, solche Angst hatte sie, und der Franzl rannte immer neben ihr her und lallte. Der Hof des Bauern, zu dem Ella musste, befand sich gleich am Ortsanfang, und als sie in den Vorgarten einbog, war dieser Franzl plötzlich verschwunden. Weinend fiel sie der Bäuerin um den Hals, doch diese lachte und sagte: „Aber du weißt doch, das ist der Depp, und der tut dir doch nichts. Sie bekam ihre Milch, und die Bäuerin begleitete sie noch ein Stück auf dem Nachhauseweg. Aber zu Hause erzählte sie von ihrem Erlebnis natürlich nichts.

    Als Ella so dasaß in ihrem Apartment und in Erinnerungen schwelgte, merkte sie gar nicht, wie schnell die Stunden vergangen waren. Es war schon spät, und das Wochenende war auch schon vorbei. Es wurde Zeit, dass sie zu Bett ging, denn am nächsten Morgen musste sie wieder zur Arbeit. In der Firma war gerade nicht das beste Betriebsklima, und sie war froh, als endlich der Arbeitstag zu Ende ging. Als sie dann wieder heimkam, nahm sie ihr altes Fotoalbum zur Hand und fing an, darin zu blättern.

    Da war zum Beispiel ein Klassenfoto von 1948, zwei Jahre nachdem sie in das Dorf gekommen waren. In der Tschechoslowakei durften die deutschen Kinder nicht zur Schule gehen, und so wurde sie erst im Dorf eingeschult, als sie schon fast acht Jahre alt war. Damals gab es noch die Zweiklassenschule, denn in dem Dorf waren nicht so viele Kinder. Im Umland waren lauter kleinere Dörfer oder Höfe verstreut, deren Kinder auch in die Schule in Ellas Dorf gehen mussten, und oft einen langen Schulweg vor sich hatten. In jedem Klassenzimmer waren zum Beispiel zwei Reihen Bänke. Eine Reihe galt für die erste Klasse. Die zweite Bankreihe für die zweite Klasse. Nachdem aber in der Reihe für die erste Klasse kein freier Platz mehr war, wurde Ella ein Platz in der zweiten Reihe, die eigentlich für die zweite Klasse war, zugewiesen.

    Überhaupt sah es in den Klassenzimmern ganz anders aus als heute. Es gab mehrere lange Tischreihen auf jeder Seite mit jeweils drei Sitzmöglichkeiten auf einer davor stehenden langen Bank. Jeder dieser Tische war leicht schräg in Richtung zu den Kindern. Am oberen, höheren Teil befand sich eine Rinne, in der man seine Stifte ablegen konnte. Für jedes der Kinder war dann im Abstand von etwa fünfzig Zentimetern eine Mulde in diesem Tisch mit einem integrierten Tintenfass, in das man bei Bedarf seine Schreibfeder, die an einem hölzernen Federkiel befestigt war, eintauchen konnte. Wenn die Feder etwas zu sehr beansprucht wurde, spaltete sie sich vorne und die Schrift wurde manchmal zu dick, und oft entstand auch ein Tinten-klecks auf dem Schreibblatt. Dann bekam man entweder zu Hause Schelte oder gleich in der Schule, denn der Lehrer war sehr streng. Er wollte, dass aus seinen Schülern tüchtige Menschen wurden.

    In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es nicht viel zu essen, und die Kinder in den Dörfern freuten sich jedes Mal auf die Pause in der Schule. Da gab es manchmal eine Schulspeisung, gespendet von den Amerikanern. Zuweilen gab es eine Tasse Kakao und dazu ein Stück Gebäck, und darauf freuten sich alle schon die ganze Woche. Dann gab es auch ab und zu eine Haferschleimsuppe. Weil diese immer so sämig über den Löffel tropfte, gaben ihr die Kinder einen Spitznamen. Sie nannten sie „Rotzglocken-Suppe". Sie schmeckte nicht so besonders, aber weil es ja so wenig zu essen gab, war man sogar über diese Gabe froh.

    Einmal als der Lehrer krank war, hatten die Kinder eine Aushilfslehrerin, die von den Jungen immer geärgert wurde. Manchmal wusste sie sich nicht mehr zu helfen, dann nahm sie einfach einen Teppich-Klopfer, stieg dann auf die Tischreihe, ging dort entlang und schlug jedem Jungen, egal ob schuld oder nicht schuld, mit diesem in den Rücken. Dieses Bild hatte Ella noch heute vor Augen. Wenn auch diese Schläge nichts halfen und die Buben nicht aufhörten, Unsinn zu machen, rannte sie über den Hof hinüber zum Pfarrhof und holte den Pfarrer. Doch wenn der dann endlich prustend und nach Luft ringend ankam, waren die Buben schon längst durch das Fenster geklettert und über einen Anbau, der am Schulgebäude war, auf und davon. Als das neue Schuljahr anfing und die Zweitklässler in die dritte Klasse kamen, wurde Ella in die dritte Klasse mitversetzt und keiner merkte es, denn sie hatte ja immer bei den Aufgaben für die zweite Klasse mitgemacht. Sie kam also in die nächste Klasse, in dem die Dritt- und Viertklässler in einem Raum waren. Danach folgten die fünfte und die sechste Klasse.

    Auf dem Land waren die Kinder damals nicht so flott mit dem Lernstoff wie in der Stadt. Ella kam deshalb erst nach der sechsten Klasse auf das Gymnasium. Eigentlich wollte sie gar nicht auf ein Gymnasium gehen, aber ihr Vater bestand darauf. Er wollte mit seiner Tochter vor den Leuten im Dorf angeben, denn Ella war das einzige Mädchen aus diesem Dorf, das auf ein Gymnasium ging. Die tägliche Fahrt dorthin war zu dieser Zeit nicht einfach. Schulbusse gab es keine und Autos schon gar nicht. Alle Wege wurden mit dem Fahrrad bewältigt, doch die Straßen waren nicht einmal ausgebaut, es gab nur aufgeschüttete Schotterwege. So musste sie jeden Tag eine Strecke von acht Kilometern zur Schule hin und acht Kilometer von der Schule nach Hause mit dem Fahrrad zurücklegen. Sie musste auf ihrem Schulweg über einen ziemlich steilen Hang fahren und durch einen langen Wald. Doch meistens fuhr sie nicht allein, es fuhren noch fünf Jungens aus dem Dorf mit ihr, die auch alle auf das Gymnasium gingen. Doch wenn sie Nachmittagsunterricht hatte, musste sie den Weg von der Schule nach Hause oft alleine zurücklegen. Im Winter war es immer schon früh finster und sie fürchtete sich oft sehr. Die Wege waren so schlecht, dass es nicht selten vorkam, dass Ella mit einem Loch im Fahrradschlauch nach Hause kam. Vater wurde diese Flickerei im Laufe der Zeit zu dumm, und er zeigte ihr, wie man einen Fahrradschlauch flickte. Manchmal musste sie mitten im Wald ihr Flickzeug auspacken, um das Loch im Fahrradschlauch zu reparieren. Deshalb kam es dann vor, dass sie später nach Hause kam, oft erst am Nachmittag. Manchmal traf sie hungrig zu Hause ein, und dann kochte ihre Mutter einen Grießbrei, weil doch die Essenszeit schon vorüber war. Auch kam es vor, dass ihr die Mutter, wenn sie beim Bauern bei der Ernte half, den Grießbrei schon vorher gekocht hatte und über dem Wasserschiffchen am Herd warm hielt, dann war dieser Brei oft schon ganz eingetrocknet. Aber er schmeckte auch so, wenn man Hunger hatte.

    Ella war ein verträumtes Kind und kam oft von der Schule spät nach Hause. Auf dem Heimweg gab es doch so viel zu sehen und zu entdecken. Im Frühling zum Beispiel die Buschwindröschen oder die Maiglöckchen, die am Waldrand wuchsen und so wunderbar dufteten. Sie kannte viele Pflanzen und Pilze. Einmal sah sie im hohen Gras ein kleines Bambi liegen, das sie so gerne gestreichelt hätte. Doch sie hatte in der Schule gelernt, dass man Jungtiere nicht anfassen sollte. Ella liebte Tiere sehr. Menschen gegenüber war sie jedoch immer voller Misstrauen. Eines Tages entdeckte sie bei ihren Streifzügen durch die Natur versteckt zwischen zwei Wiesen ein kleines Rinnsal. Rund um dieses Bächlein wuchsen viele Dotterblumen. Ella war ganz hingerissen von den gelben Blumen, die da in der Sonne leuchteten. Sie kannte ja viele Blumen mit Namen, das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, und sie wusste, dass diese Blume so hieß, weil sie so gelb war wie der Dotter eines Eies. Sie kannte den Klatschmohn und die blauen Kornblumen, die ihre Köpfe zwischen den Ähren auf den Kornfeldern in den Himmel streckten. In den Wiesen wuchsen Grasnelken, Vergissmeinnicht, Löwenmaul und Löwenzahn. Auch eine Pflanze, die Sauerampfer hieß, wuchs dort, und man konnte die Blätter sogar essen, und das taten die Kinder oft. Dazwischen der Gewürzkümmel, den sie mit der Großmutter oft gesammelt hatte. Doch keine der Pflanzen, fand Ella, war schöner als die Dotterblume, und so wurde dieser Platz zwischen den Wiesen an dem kleinen Bächlein der Lieblingsplatz von ihr. Am schönsten war es, wenn sie hier im Gras lag und dem Gezirpe der Grillen zuhörte. Sie bildete sich sogar ein, wenn sie mit einem Ohr ganz nah am Boden lag, das Gras wachsen zu hören. Verträumt schaute sie dann in den Himmel, und entdeckte in den Wolken die unterschiedlichsten Gesichter, so dass sie oft die Zeit vergaß. Sie berührte das Zittergras, das neben ihr wuchs und wunderte sich, wenn die kleinen Herzchen im Wind hin und her wiegten. Sie verfolgte das Auf- und Abschweben der Feldlerche und war ganz fasziniert von ihrem wunderschönen Gesang. So kam es immer wieder vor, dass sie verspätet nach Hause kam und das Essen dann kalt war.

    Ella verriet nie jemandem ihren Lieblingsplatz, aber zum Muttertag pflückte sie immer für ihre Mutter einen kleinen Strauß von diesen Dotterblumen, denn Blumenläden, so wie man sie heute kennt, gab es damals noch nicht. Oft merkte ihre Mutter gar nicht, dass es schon spät war, wenn Ella nach Hause kam, denn sie half hin und wieder beim Bauern auf dem Feld bei der Ernte. Es kam auch vor, dass ihre Mutter den kleinen Bruder mit auf die Wiesen nahm, die gemäht wurden. Der freute sich dann und saß jauchzend auf dem heimfahrenden Heuwagen. Morgens zur Schule fuhr Ella meistens mit den Jungen, aber am Nachmittag hatte sie oft noch zusätzlichen Unterricht. Manchmal war es Handarbeit, manchmal war es Sport oder Chorsingen. So war sie auf dem Nachhauseweg oft allein. Mit fortschreitender Jahreszeit war es am Spätnachmittag, wenn sie heimfuhr, meistens schon dunkel. So passierte es einmal, dass in dem Wald, den sie ungefähr zwei Kilometer zu durchfahren hatte, Amerikaner, die in der Nähe stationiert waren, Manöver abhielten. In der Schule war es wieder einmal spät geworden, und als sie durch den Wald heimradelte, stand plötzlich ein Amerikaner mitten auf der Straße, und es sah so aus, als ob er sie anhalten wollte. Ella bekam es mit der Angst zu tun. Sie sah sich um, als ob sie Hilfe erwarten würde. Erleichtert stellte sie fest, dass einer der Jungen, die mit ihr aufs Gymnasium gingen, hinter ihr in der Ferne zu sehen war. Auch der Amerikaner sah das, und er verschwand ganz plötzlich wieder im Wald. Ella erwähnte das Vorkommnis mit keinem Wort zu Hause.

    Eigentlich hatte sie kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern und war als Kind auch nicht glücklich in ihrem Elternhaus. Sie war ja „nur ein Mädchen. Ihr Bruder, der war als Junge das Ein und Alles ihrer Eltern, das bekam sie oft zu spüren. Immer, wenn er etwas angestellt hatte, wurde sie dafür bestraft, weil sie angeblich nicht genügend auf ihn aufgepasst hatte. Ihr Bruder war vier Jahre jünger als sie und das „Herzibinkerl, wie Oma immer sagte. Er bekam auch immer alles, was er wollte, und sie nicht. Er hatte einen Fußball, er hatte ein Luftgewehr und er hatte Schlittschuhe. Das traf sie am meisten, denn sie hätte so gerne auch Schlittschuhe gehabt. Wenn sie wenigstens einen Schlitten gehabt hätte, denn es gab in ihrem Dorf einen kleinen Hügel, wo die anderen Kinder Schlitten gefahren sind. Doch wo sollten sie einen Schlitten hernehmen? Sie hatten ja kein Geld. Und weil auch ihr Bruder sich so sehr einen Schlitten wünschte, ging ihr Vater in den Wald, hielt nach einem Baum Ausschau, der dick genug war, fällte ihn, und in der Scheune beim Nachbarn zimmerte er daraus einen Schlitten.

    Ella musste grinsen. Dieser Schlitten steht noch heute in ihrem Haus im Keller. Einen von Hand geschnitzten Schlitten, wer hat das heute noch? Überhaupt waren zur jetzigen Zeit Sachen aus früheren Zeiten sehr begehrt. Es gab Sammler, die für solche alten Sachen viel Geld ausgaben, und obwohl dieser Schlitten schon ganz gebrechlich aussah, wollte sich Ella nicht von ihm trennen. Um die Schlittschuhe beneidete sie ihren Bruder sehr, und einmal hatte sie es gewagt, sich die Schlittschuhe des Bruders heimlich zu nehmen. Dann ist sie mit einer Freundin auf den zugefrorenen Dorfweiher gegangen. Sie schnallte sich die Schlittschuhe auf ihre einzigen Schuhe, die sie hatte, an. Damals hatten Schlittschuhe noch Krallen, die man an den Schuhsohlen einhängen musste, und wenn man keine stabilen Schuhe hatte, konnte es passieren, dass eine Schuhsohle auch schon mal abgerissen wurde. Genau das passierte Ella, und sie traute sich nicht nach Hause, sie wusste genau, was passieren würde. Sie würde Prügel vom Vater bekommen, doch ihre Freundin wusste Rat. Sie nahm Ella mit zu ihrem Vater, der Sattler war, und dieser nagelte die Schuhsohlen wieder an.

    Ihr Bruder wurde immer bevorzugt, und das nagte an ihr. Besonders, nachdem Ella ja jede freie Minute, die sie hatte, arbeiten musste. Nach der Schule ging sie als Kindsmagd zum Nachbarn, der war Metzger, und so fiel immer etwas zu essen ab, das sie dann nach Hause brachte. Besonders oft bekam sie einen Topf voll mit Kesselsuppe, das war eine Suppe, in der der Metzger seine Innereien und Würste kochte, und die immer so stark gerochen hat. Vor dieser Suppe graute ihr noch heute, und wenn sie die Augen schloss und sich diese vorstellte, stieg ihr dieser scheußliche Geruch immer noch in die Nase.

    Besonders in den Herbstferien gab es für Ella viel zu tun, nämlich Gänsehüten beim Bauern. Eine ganze Gänseschar musste sie zu einem kleinen Weiher am Ende des Dorfes treiben, sie im Weiher baden und auf der angrenzenden Wiese grasen lassen. Schlimm war es, wenn ein Gewitter im Anzug war. Da wurden die Gänse unruhig und fingen ein Stückchen über dem Boden aufgeregt zu fliegen an. Ella hatte dann alle Hände voll zu tun, sie beisammenzuhalten, und da wurde der Gänserich manchmal böse. Er fauchte und biss nach ihr, wenn sie ihn in der Gänseherde halten wollte. Vollzählig musste sie die Gänseherde am Abend beim Bauern wieder ins Gatter treiben, und dafür gab es dann ein Stück Speck und etwas Brot, das Ella dann nach Hause brachte. Es gab nicht viel in dieser Zeit. Sie erinnerte sich, wenn sie als Kind Durst hatte, machte Oma immer ein Gemisch aus Zucker, Wasser und einem Schuss Essig, und das war dann schon etwas ganz Besonderes. Limonade gab es erst viel später. Oma nannte es „Kracherl", weil es beim Öffnen der Flasche immer so zischte.

    Wenn Ella an ihre Kinderzeit dachte, daran, dass sie oft Schläge bekam und manchmal nicht einmal so richtig wusste warum, wurde sie ganz traurig. Manchmal schlug Vater sie nicht, er hatte dann eine andere Strafe. Er ließ Ella auf einem kantigen Holzscheit in der Ecke der Wohnstube niederknien, und das tat dann besonders weh, und man spürte den Schmerz im Knie noch ziemlich lange danach.

    Große Freude hatte sie mit einem Hund, den ihr Vater nach Hause brachte. Sie nannte ihn Lumpi und sie streichelte ihn jeden Tag, wenn sie an seiner Hundehütte vorbeiging. Er durfte nie frei herumlaufen, war immer an einer viel zu kurzen Kette angebunden. Das war so üblich, man sah keine Hunde auf der Straße herumlaufen. Einmal erlaubte ihr Vater nach vielem Betteln, dass sie Lumpi mitnehmen durfte, als sie beim Bäcker Brot holen sollte. Da geschah dann das Unglück. In dem Dorf sah man nie ein Auto fahren, es gab nur Fuhrwerke, die von Ochsen gezogen wurden, oder Handkarren. Doch genau an dem Tag, als Ella mit ihrem Lumpi zum Bäcker ging, kam ein Hochzeitsauto um die Ecke und überfuhr ihren Hund. Weinend lief Ella nach Hause, und ihr Vater holte den Hund und begrub ihn, nicht, ohne ihr fürchterliche Vorwürfe zu machen. Tagelang trauerte Ella, und noch lange Zeit danach pflanzte sie Blumen an die Stelle, an der ihr Lumpi begraben war.

    Mit Tieren hatte sie in ihrer Kinderzeit kein Glück. Sie hatte später dann eine Katze, die auch qualvoll starb, weil sie auf dem angrenzenden Feld eine vergiftete Maus gefressen hatte. Nur Hansi, der zahme Rabe, den ihr Bruder eines Tages nach Hause brachte, der lebte etwas länger. Als ganz kleiner Jungvogel wurde er von ihrem Bruder heimgebracht und

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