Brüder mit schlanken Beinen
Von J.C. Caissen
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Über dieses E-Book
Der Vater, der noch nicht richtig Fuß gefaßt hat im Berufsleben, gibt sich alle Mühe, seinen Kindern eine gute Erziehung zu geben, kann jedoch nicht immer seinen Jähzorn im Zaum halten.
Die Mutter hat ihre Heimat, Ostdeutschland, ihrem Mann zuliebe verlassen und leidet erst unter der herrischen Schwiegermutter, die ungern mit dem dreckigen Flüchtling ihre Wohnung teilen möchte, später dann unter den bedrückenden Lebensbedingungen, in die sie hineingeraten, bedingt durch Arbeitslosigkeit und die sehr schnell in die junge Ehe hineingeborenen drei Kinder. Ihr Körper und ihr Nervenkostüm sind den Belastungen nicht gewachsen, und so erleben die Kinder eine Kindheit mit einer schon sehr früh nervlich kranken Mutter.
Der jungen Corinna wird dies sehr bald schmerzlich bewußt, sie beißt sich durch die Höhen und Tiefen ihrer Kindheit, meistert Herausforderungen ihres Erwachsenseins und trifft schließlich die große Liebe ihres Lebens. Aber vorher muss sie noch eine risikoreiche Entscheidung treffen.
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Buchvorschau
Brüder mit schlanken Beinen - J.C. Caissen
Vorwort
Ein jedes Kind hat seine eigene Kindheit und seine eigenen Eltern, auch wenn es zusammen mit Geschwistern in derselben Familie aufwächst, so ist die Kindheit des einen Kindes nicht vergleichbar mit der des anderen Kindes. Jedes Kind erlebt so seine Kindheit von sich selbst ausgehend und unterschiedlich zu der der Geschwister.
Die Tage, jeder einzelne, die da kommen und gehen – wusstest du, daß genau das dein Leben ist? Beginne zu leben,- heute, nicht erst morgen! So lange du lebst, kann die Wirklichkeit immer wieder verändert werden. Erst wenn du stirbst, ist alles statisch.
Dieses Buch ist meinem Sohn gewidmet.
1
Ihr war ein wenig kalt, und sie hielt sich immer noch am Baum fest, den Schlüpfer auf Halbmast in den Kniekehlen.
Corinna war gerade vier Jahre alt und wollte nur im Sandkasten spielen. Käthe, die Kittelschürze hatte sie halb offen, kam aus dem Haus gerannt, wütend und schimpfend, hatte sie es verdammt eilig, zu Corinna zu kommen.
„Was machst Du denn da? Du verdammter Taugenichts, lass sofort die Kleine in Ruhe!"
Corinna begriff gar nicht, was hier eigentlich gerade geschah. August, der nette Onkel, der älterer Bruder von Käthe, hatte sie doch nur gebeten, den Schlüpfer mal runter zu ziehen, und ihr dann dabei etwas geholfen.
Nun zog sie ihn langsam wieder hoch. Sie schämte sich, doch wusste sie eigentlich nicht richtig warum, und sie hatte Angst, da Käthe jetzt mit ihr schimpfen würde. August kannte sie seit sie Käthe kannte. Käthe, die nicht mehr ganz taufrische, schlampige Arbeitslose, die oft auf sie und die Brüder aufpasste, wenn die Mutter arbeiten mußte. Käthe lebte zusammen mit ihnen in einer Wohnung. Eine miese Wohngegend, hässliche Häuser mit vielen Wohnungen, zerbeulte Mülltonnen an einem schmutzigen Abstellplatz vor dem Eingang. Elstern hatten Mülltüten aus halboffenen Tonnen herausgezerrt; deren Inhalt lag nun verstreut auf dem Gehweg. Einige abgewetzte, nicht mehr so grüne Rasenflächen mit braunen Trampelpfaden, ein paar Bäume, alte, schon sehr magere, zerzauste Büsche, eine rostige Schaukel, einer der Sitze hing seit langem nur noch an einer Kette, drumherum ein Zaun, der an einem Ende herunter getreten war, eine Bank, ein Sandkasten, dessen Sand schon vor Jahren hätte ausgetauscht oder zumindest aufgefüllt werden müssen, eben der Sandkasten, an dem Corinna spielen wollte, daneben ein schief hängender Papierkorb, alles an einer Durchfahrtsstraße, trotzdem nicht viel Verkehr eigentlich, irgendwo in der Peripherie von Bielefeld.
Wie waren sie eigentlich dort gelandet? Eine unschöne, aber vielleicht sogar für die Zeit nicht unübliche Geschichte.
Corinnas Eltern und die Geschwister wohnten bei der Großmutter, der Mutter von Werner, Corinnas Vater. Großmutter Alwine war beileibe keine einfache Frau. Sie war herrisch, liebte ihren Sohn Werner über alles, - hatte ihn im Griff - und hatte von Anfang an eine Abneigung gegenüber ihrer Schwiegertochter Ruth, dem schmutzigen Flüchtling von drüben, aus dem Osten. Wo immer sie konnte, schikanierte sie Ruth, und abends, wenn Werner und Ruth schon zu Bett gegangen waren, klopfte sie gern noch einmal an deren Zimmertür, trat ein und wollte „nur schnell" noch etwas mit ihrem Sohn besprechen, während sie bei ihm auf der Bettkante saß und seine Hand tätschelte. Ruth hätte sie am liebsten aus dem Zimmer geworfen, hielt aber lieber den Mund. Sie waren ja auf ihr Wohlwollen angewiesen. So versuchte sie immer den Mund zu halten und es der Schwiegermutter irgendwie recht zu machen, die sie jedoch kritisierte oder beleidigte oder sie ständig belächelte. Werner sah dies oft, knirschte mit den Zähnen, war aber nicht Manns genug, seine Mutter in die Schranken zu weisen, stattdessen suchte er verzweifelt um eine Sozialbauwohnung an, für sich und die Familie, um der Situation zu entfliehen. Das Amt bewilligte ihnen aber nie eine Wohnung, denn sie hatten ja eine schöne Bleibe bei der Mutter.
Es gab andere Familien, denen es viel schlechter ging, die nirgendwo eine Bleibe hatten.
Das Verhältnis zwischen Mutter Alwine und Werners Frau Ruth wurde immer unerträglicher. Die junge Ehe wurde auf eine schwere Probe gestellt. Die Alte wusste nur zu gut, die Abhängigkeit der jungen Familie auszunutzen.
So kam der verzweifelte Werner eines Tages auf die wahnwitzige Idee, eine schöne, teure Wohnung anzumieten, dessen Miete er niemals würde bezahlen können. Er wollte sie auch gar nicht bezahlen, aber das behielt er für sich. Und tatsächlich fand er einen Vermieter, der ihm vertraute. Bereits die zweite Miete blieb er schuldig, und so wurden sie einige Monate nach dem Einzug auch gleich wieder aus der Wohnung heraus geklagt und in eine Siedlung für Obdachlose verwiesen, in eben diese Unterkunft, in der sie die Räumlichkeiten nun mit Käthe teilen mußten. Das war Werner zunächst erst einmal egal und Teil seiner Taktik. Denn nun endlich standen sie, die Familie mit drei kleinen Kindern, auf der Warteliste für eine eigene Sozialbauwohnung. Das war Werners verrückter Plan gewesen, der auch schließlich aufging, allerdings war der Weg dorthin sehr unschön, kostete Nerven und dauerte länger als er es sich eigentlich gedacht hatte.
Nun mußten sie sich erst einmal die Zimmer in dieser Wohnung für Obdachlose teilen, Käthe, die Eltern, die beiden Jungs und Corinna. Es war nicht klar, wer eigentlich bei wem wohnte, Corinna und ihre Familie bei Käthe oder umgekehrt. August wohnte nicht zusammen mit Käthe, aber eigentlich kam er zu oft vorbei, um Käthe zu besuchen und lungerte um die Häuser herum. „Mach, daβ du wegkommst, du elender Nichtsnutz, bringst mir nur Ärger. Wir sprechen uns noch." Käthe war hochrot im Gesicht. Sie war nun am Sandkasten, riss Corinna am Arm, weg von August, der sich linkisch, mit hochgezogenen Schultern davonschlich, ohne Eile. Sie zerrte Corinna ins Haus, murmelte irgendwas vor sich hin, wütend, aber sie redete nicht mit ihr, ließ sie einfach nur in der Diele irgendwo stehen und verschwand in der Küche. Corinna ging in das Zimmer, das die drei Kinder mit den Eltern teilten.
Die Gardinen waren nicht richtig aufgezogen, es war düster im Zimmer. Corinna setzte sich in eine Ecke, ihren großen Teddy Lullu fest an sich gedrückt. Was war denn nur geschehen? Ihr hatte es auch nicht gefallen, daß August an ihr herum fingerte, aber er hatte sie nicht angeschrien, so wie Käthe das oft tat. Er hatte ganz sanft gesprochen. Käthes Schreien war ihr noch im Ohr, es war furchtbar, sie mochte nicht, wenn jemand schrie.
Am Abend las ihr der Vater die Gutenacht-Geschichte vor, wie immer. Das waren die schönsten Momente, denn sie liebte ihren Vater und wenn sie groß sein würde, wollte sie ihn heiraten, das war schon so gut wie abgemacht.
„Papi. Der August hat mir heute die Hose runter gezogen, und die Käthe wurde ganz, ganz böse, und dann durfte ich nicht mehr im Sandkasten spielen."
„Was sagst Du da? Was hat der August gemacht?" Der Vater ließ erschrocken die Hände sinken, die das Buch hielten.
Corinna erschrak. Hatte sie jetzt etwas Falsches gesagt? Würde der Vater jetzt mit ihr schimpfen? Wahrscheinlich hätte sie es gar nichts sagen sollen. Sie wickelte den Bettdeckenzipfel um den Daumen und saugte an ihm, bis er ganz feucht war.
„... der hat doch nur gesagt, ich soll mal stillhalten, er wollte was nachgucken."
Mehr wollte sie aber nicht sagen, und der Vater nahm auch wieder das Buch zur Hand und las weiter. Aber irgendwie war die Stimmung dahin, sein Gesicht war nicht mehr so harmonisch, und die Vorlesestunde wurde auch viel eher als sonst üblich beendet.
Corinna drückte Lullu an sich und hörte Stimmen durch die angelehnte Zimmertür. Käthe und die Eltern redeten aufgeregt durcheinander. Käthe war jetzt nicht mehr so laut wie am Sandkasten, aber die Stimme des Vaters klang drängend, fast bedrohlich. Irgendwann fielen ihr aber einfach die Augen zu.
„Heute gehen wir einen Arzt besuchen, nur du und ich. Ich will mit dem ein wenig reden, und du bist dabei."
Der Vater strahlte Corinna an, auch wenn er überhaupt nicht so unbeschwert wirkte. Sie machte gern Dinge zusammen mit ihrem Vater. Eigenartig, aber doch schön, daß er heute mal Zeit hatte und nicht ins Büro mußte. Die Mutter mußte wie immer in die Fabrik.
Als sie zum Arzt kamen, zog der gerade seinen weißen Kittel aus. Er beugte sich zu Corinna herunter und streckte ihr freudig die Hand entgegen.
„Hallo, ich bin der Thomas und wie heißt Du?"
„Corinna" strahlte sie ihn an und nahm seine Hand. Die war groß. Größer als die des Vaters und etwas fleischig.
„So ein toller Name. Du, ich wollte, daß wir uns gemeinsam mal ein paar Bilder hier an dem Tisch anschauen, sieh mal, sind die nicht schön? Vielleicht kannst Du mir helfen bei meiner Arbeit?"
Sie rutschte auf den kleinen Stuhl, den er für sie zurückgezogen hatte, und dann saßen sie alle drei, der Vater, der Arzt ohne Kittel und sie, an einem kleinen runden Kindertisch, die Erwachsenen mit hochgezogenen Knien auf den kleinen Stühlen. Auf dem Tisch lagen verschiedene Holztafeln, auf denen bunte Bilder aufgeklebt waren.
„ Weißt Du vielleicht, was die da machen, die Kinder, hier auf diesem Bild? Erzähl doch mal, was du alles siehst auf dem Bild?"
Es war wirklich ein hübsches, fröhliches Bild. Darauf war ein Haus zu sehen, rundherum ein Garten, Apfelbäume blühten im grünen Garten. Die Sonne schien. Am Gartenzaun lief bellend ein kleiner braun weißer Hund. Der Briefträger stand mit dem Fahrrad am Briefkasten. Am weit geöffneten Fenster des Hauses stand eine ältere Frau. Sie winkte von innen zu den beiden Kindern, die draußen im Garten spielten. Die Kinder hatten eine Decke auf dem Rasen ausgebreitet und spielten mit ihren Puppen und anderen Spielsachen. Eines der Kinder winkte zurück, das andere war vertieft ins Spiel mit Puppentassen und -tellern.
Corinna plapperte munter drauf los, erzählte, was sie sah. Ein Bild nach dem anderen sahen sie sich an, und alle Bilder beschrieb Corinna.
„Ja, jetzt sehe ich das auch. Endlich weiß ich, was da alles zu sehen ist und die Geschichten dazu. Das hast du ganz toll gemacht, Corinna. Du hast mir sehr geholfen."
Irgendwann waren alle Bilder angeguckt, der Arzt ohne Kittel stand langsam auf, streckte den Rücken, und der Vater nahm Corinnas Jacke vom Haken.
Der Arzt ohne Kittel sagte „Das sieht alles okay aus. Sie müssen wissen, manche Kinder erzählen, daß z.B. die Frau am Fenster die Kinder mit dem gekrümmten Finger hereinlocken will, ungefähr so wie die böse Hexe in Hänsel und Gretel. Nein, nein, ihre Tochter ist absolut glaubwürdig. Ich werde das so schreiben in meinem Bericht."
Der Arzt ohne Kittel, er war Kinderpsychologe der Polizei, verabschiedete sich freundlich. Der Vater nahm Corinnas Hand, lächelte sie an, und sie gingen hinaus. Die Hand ihres Vaters fühlte sich besser an als die des Arztes. Sie war warm, nicht so wabbelig, und Corinna spürte seinen festen, aber trotzdem nicht harten Händedruck. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Ihr Vater, den sie später mal heiraten würde.
„Jetzt gehen wir erst einmal ein Eis essen. So schön, wie du dem Arzt geholfen hast, hast du dir das jetzt wirklich verdient".
Tage später saßen sie am Frühstückstisch, alle zusammen. Die Brüder waren quirlig wie immer. Sie stopften sich Brot in den Mund, der Vater ermahnte sie, ordentlich am Tisch zu sitzen und nicht zu schmatzen. Aber sie hatten es eilig, mußten zur Schule. Und ab, - da waren sie auch schon durch die Tür, tschüss, tschüss.
Corinnas Brüder. Heiner, sie nannte ihn nur einfach Enne, weil es einfacher war. Er war drei Jahre älter als sie, also sieben Jahre alt und Tobias, sie nannte ihn Tobbe, der Älteste, war sechs Jahre älter als sie, also zehn.
Enne war der pfiffige, hübsche, der freche, spontane, der immer was ausheckte und dann aber auch dafür mutig die unvermeidbare Strafe einsteckte, manchmal sogar grinsend, was den Vater zur Weißglut brachte. Dann zeigte dieser seinen Jähzorn, den alle seine Kinder, das eine mehr, das andere weniger ausgeprägt, geerbt hatten. Aber Enne war auch absolut geradeaus, sagte, was er dachte, auch wenn es gerade nicht angenehm zu hören war. Und er beschützte Corinna immer, gegen alle und jeden. Dafür liebte sie ihren Bruder Enne. Später sollte sie ihn mal mit Omar Sharif aus dem Film Doktor Schiwago vergleichen, aber da war er schon so um die achtzehn und der Schwarm aller Mädchen.
Tobbe war ruhiger, zurückgezogen, erst denken, dann handeln. Bloß nichts riskieren, etwas feige, hellhäutig, rothaarig, etwas ungelenk, sich immer der erdrückenden Verantwortung des Ältesten bewusst und deshalb meistens der Spielverderber. Enne und Corinna nannten ihn deshalb den 'Volkspolizisten'. Oft heckten Corinna und Enne gemeinsam Dinge aus, die Tobbe dann bei der Mutter petzte, wohl petzen mußte, was diese prompt abends dem Vater weitertrug. Sie selbst war zu schwach, um einen Streit mit ihnen auszutragen oder zu bestrafen, das tat dann der Vater, wenn er abends vom Büro nach Hause kam. Und so wurde aus mancher spontanen und freudigen Begrüßung bald ein ernstes Gespräch und Strafe.
Heute blieb der Vater länger am Frühstückstisch sitzen, zusammen mit Corinna und der Mutter, die aber bald auch zur Arbeit gehen mußte. Corinna wunderte sich, daß der Vater gar nicht ins Büro mußte und sie auch nicht in den Kindergarten gebracht wurde. Er wandte sich zu ihr.
„Du und ich, wir müssen heute zur Polizei gehen und denen über August erzählen, als er mit dir am Sandkasten war. Die möchten das gern hören, weißt du, und wir sollen dorthin kommen."
Er machte ein völlig unbeschwertes Gesicht, nahm noch einen Schluck Kaffee zwischendurch, lächelte sie wieder an. Aber irgend etwas in seinem Tonfall war trotzdem anders, etwas gespannt.
„Aber wieso denn, ich habe doch gar nichts gemacht."
Der Vater lachte sie an, beugte sich rüber zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.
„ Nein, du hast überhaupt nichts angestellt, und Angst brauchst du schon mal gar nicht zu haben. Aber der August, der hat schon öfter kleinen Mädchen die Hosen runter gezogen und die Mädchen haben sich dann ganz furchtbar erschrocken und geweint und die Eltern sind deshalb böse auf den August. Und das will die Polizei jetzt dem August mal sagen. Denn das darf man ja nicht, jemand anderem einfach die Hose runter ziehen."
Sie selbst hätte aber doch überhaupt nicht geweint, entgegnete Corinna dem Vater, denn sie sei ja auch schon groß, und außerdem hätte sie ja den August gekannt. Warum mußten sie dann trotzdem zur Polizei? Verheimlichte der Vater ihr etwas? Nein, sie vertraute ihm blind und sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
Der Vater und sie traten auf ein großes, uraltes Gebäude in der Innenstadt zu, mit verschnörkelten, in Stein gehauenen Ornamenten über den Fenstern und einer großen Steintreppe, die zu einer übergroßen, reich verzierten Eichentür führte. Über der Eichentür, genau in der Mitte, war eine Frau mit einer Waage in der Hand in den Stein gehauen. Die Frau schaute genau geradeaus, hoch oben, über ihre Köpfe hinweg. Von einer Säule an der Treppe flatterten mit klatschendem Flügelschlag Tauben auf und flogen in großem Bogen davon. Der Vater drückte die schwere Eichentür auf. Sie suchten das richtige Zimmer in den langen Fluren, in denen jeder Fußschritt als Echo von den Wänden widerhallte, und betraten dann schließlich einen Raum mit mehreren länglichen Tischen. Hinter den Tischen standen Stühle. Einige andere Leute waren bereits im Raum, saßen hinter der Tischreihe, mit dem Gesicht zu ihnen, und redeten in gedämpftem Ton mit den Nachbarn rechts und links. Der Ton war angespannt, nicht unbeschwert. Der Vater begrüßte einen noch stehenden Mann, wechselte ein paar Worte, dann setzten auch sie sich hinter die Tischreihe vor ihnen, gegenüber der anderen Tischreihe. Langsam wurden die Leute ruhiger, bis keiner mehr etwas sagte. Es war ganz still, obwohl es in dem Raum sehr hallte, nur das Scharren von ein paar Schuhen war noch zu hören und das Hüsteln einer älteren Frau mit Handtasche und Taschentuch.
Dann ergriff einer der gegenüberliegenden Herren das Wort, Corinna hielt die Hand des Vaters ganz fest und er erwiderte den Druck, nickte ihr lächelnd zu. Sie hörte die Leute reden, verstand selbst aber weder die Bedeutung der Worte, noch die Zusammenhänge. Was gab es denn so Interessantes zu reden, sie wollten doch mit August reden. Der war auch gekommen, den hatte sie schon gesehen.
Plötzlich stand einer der Herren von der rechten Tischkante auf und kam direkt auf Corinna und ihren Vater zu. Corinnas Herz begann schneller zu schlagen, der Vater drückte die Hand noch ein wenig fester. Der Herr ging neben Corinnas Stuhl in die Hocke.
„Hallo, Corinna. Ich heiße Michael. Ich wollte dich mal was fragen. Du weißt, der Mann, der mit dir am Sandkasten war, der hat dir doch deine Unterhose herunter gezogen, ja?"
Der Vater ließ plötzlich Corinnas Hand los, legte ihr aber sofort den Arm um die Schulter. Sein Arm fühlte sich warm und beschützend an.
„Ja..."
Sie wagte nicht, laut zu sprechen und flüsterte wohl nur ein wenig, aber der Herr, der Michael hieß, lächelte ihr aufmunternd zu und sprach weiter.
„Dieser Mann, siehst du den hier im Raum, Corinna, der mit dir am Sandkasten war?"
Corinna schaute verstohlen zu August hinüber, nickte und schaute dann sofort auf die Tischplatte.
„Gut. Kannst Du ihn uns auch zeigen? Kannst Du mit dem Finger mal auf ihn zeigen?"
Sie sagte nichts mehr, kriegte keinen Ton mehr raus, denn plötzlich schauten alle anderen Menschen in ihre Richtung. Sie schaute verstohlen zu ihrem Vater hoch, der ihr ermutigend zunickte. Dann zeigte sie auf August, der ganz rechts in der Tischreihe gegenüber saß. Sein Gesicht war überhaupt nicht freundlich. Sie sah ganz schnell wieder weg, zu ihrem Vater, der sie in den Arm nahm.
„Prima, Corinna, das hast du richtig gut gemacht. Du hast uns bei unserer Arbeit geholfen. Und jetzt kannst du mit deinem Vater auch schon wieder nach Hause gehen, ja?"
Der Vater stand auf, nahm ihre kleine, schwitzende Hand, dann gingen sie aus dem Raum, die Schritte hallten wieder bei jedem Schritt, die des Vaters dunkler und nicht so oft, ihre eigenen heller und viel öfter. Auf einen Schritt des Vaters kamen drei von Corinna. Sie verließen das Gebäude, gingen die große Treppe wieder hinunter und dann nach Hause. Es hatte angefangen zu nieseln, der Vater hatte keinen Schirm, nicht mal Mäntel hatten sie angezogen, als sie von zu Hause losgingen.
Der Vater redete nicht viel, Corinna fragte auch nichts, dachte nur, daß jetzt die Polizei wohl dem August sagen würde, daß er das nie wieder tun dürfe, die Mädchen erschrecken. Aber sie, sie habe sich ja eigentlich gar nicht erschrocken. Sie kannte ja den August, den großen Bruder von Käthe.
Jahre später sollte sie erfahren, daß August eine Gefängnisstrafe von mehreren Jahren hatte absitzen müssen. Es waren noch einige andere Mädchen mit ihren Eltern vernommen worden. Bei den anderen Mädchen hatte es Käthe scheinbar nicht geschafft, so schnell einzugreifen.
2
Die Familie zog um in eine andere Stadt, westfälisch, klein, Rheda. Der Vater hatte dort eine neue Arbeit bekommen, auch wieder im Büro, aber diesmal in einer großen Firma. Und jetzt bekamen sie auch eine eigene Wohnung. Die lag direkt gegenüber der großen Firma. Der Vater hatte nur wenige Schritte zu gehen zu seiner Arbeit. Alles sah sauber aus, viel schöner und neuer als in Bielefeld. Sie wohnten im Parterre und hatten sogar eine richtige Terrasse. Hinter der Terrasse lag ein riesiger Garten, d. h. erst mal war da überhaupt kein Garten, sondern einfach nur ein Lehmacker, denn das Haus war ganz neu gebaut worden, und der Garten war noch gar nicht fertig. Es sollte auch nicht nur ihr eigener Garten werden, vielleicht eingezäunt, nur für die Familie, mit dichten Bäumen drumherum, so daß keine Nachbarn hätten hineinschauen können, wenn die Mutter sich vielleicht im Bikini hätte sonnen wollen oder so, sondern dieser Garten sollte für alle da sein, alle Bewohner des Neunfamilienhauses sollten ihn benutzen können.
Das neue Haus hatte drei Etagen und nur drei Familien benutzen ihren, den mittleren, Eingang. Es gab auch noch einen linken Eingang und einen rechten Eingang. Auch da wohnten jeweils noch drei Familien. Corinna fand das neue Haus einfach schön, es roch so frisch nach neuer Farbe, wenn man ins Treppenhaus kam, und in der Wohnung hatten sie nun auch ein eigenes Badezimmer mit einer richtigen Badewanne. Und Tobbe, Enne und sie hatten ein gemeinsames Kinderzimmer und die Eltern ihr eigenes. Alles war schöner. Und Käthe waren sie auch los.
Der Vater hatte aus Corinnas altem Gitterbettchen eine Eckbank für die Küche gebaut, auf der sie beim Essen saß, zusammen mit Enne, mehr Platz war nicht. Die Mutter hatte für die Matratze einen Polsterbezug genäht.
„Ich will auf gar keinen Fall, daß Ihr draußen hinterm Haus spielt, kapiert?", sagte Ruth eines Tages beim Frühstück. Corinnas Mutter war der reinste Putzteufel und hatte sicher Angst, daß die Kinder Dreck in die schöne, neue Wohnung tragen würden. Enne maulte sofort los,