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Der Sohn des Knochenzählers
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eBook115 Seiten1 Stunde

Der Sohn des Knochenzählers

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Über dieses E-Book

Titus' Mutter verschwindet auf mysteriöse Weise. War es Flucht, ein Unfall oder gar Mord?

Acht Monate ist es her, dass Titus' Mutter spurlos verschwand. Als Italienerin war sie im Dorf eine Fremde geblieben. Der Vater hatte sie von einer Forschungsreise mitgebracht. Nun kursieren Gerüchte, Vermutungen: Hat der See sie verschluckt, ist sie mit einem Liebhaber durchgebrannt oder wurde sie Opfer eines Verbrechens?

Titus ist schon seit Jahren ein Außenseiter. Durch ein Brandmalgezeichnet, meidet er die Menschen. Das Angebot, dem neuen Totengräber zu assistieren und bei ihm zu wohnen, erscheint ihm als Möglichkeit, der Enge des Vaterhauses zu entkommen. Doch der Totengräber ist kein Unbekannter.

Evelyn Grill führt ihre Leser in eine düstere Welt voller Geheimnisse. Fesselnd bis zum großen Knall!
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum25. Juni 2013
ISBN9783701743308
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    Buchvorschau

    Der Sohn des Knochenzählers - Evelyn Grill

    Wiechert

    Er hatte die Frau noch nie gesehen. Sie kam aus Wien, das war zu hören. Sie nannte ihn gleich beim Vornamen. Sie sei eine Berufskollegin, behauptete sein Vater, die an seinem Archäologischen Institut zwei Tage lang irgendwas, wahrscheinlich Knochen oder Schädel, untersuchen wollte. Deshalb würde sie auch bei ihnen übernachten. Er interessierte sich nicht für die berufliche Tätigkeit seines Vaters, auch seine Mutter hatte sich kaum dafür interessiert, soweit er sich erinnerte, bald hatte der Vater auch aufgehört ihnen davon zu erzählen. Aber jeder im Dorf kannte das sogenannte Institut, das den weltberühmten keltischen Grabfunden angeschlossen war; sein Vater leitete es, zwangsläufig, denn er war der einzige Wissenschaftler. Er hatte ein halbes Dutzend Gehilfen, meist Männer, die durch die Schließung des Salzbergwerks ihre Arbeit verloren hatten und die unter seiner Überwachung nach keltischen Gräbern suchten. Man nannte ihn im Dorf den Knochenzähler. In dem Institut, es bestand aus einem langgestreckten Holzbau, wollte die Frau aus Wien etwas zu tun haben. Sie sollte also bei ihnen übernachten. Wo, bitte, wollte der Vater sie unterbringen? fragte er sich. Es gab nur den feuchten Kellerraum mit einem Bett und einem stinkenden, braun emaillierten Ölofen darin, außerdem eine Menge Bücher mit vergilbten Lederrücken auf braunen Regalen, und Schachteln, die sich auf dem Boden stapelten. Er bedauerte jetzt, daß er sich bisher nie für den Inhalt der Kartons interessiert hatte. Ein Fenster gab es nicht, nur einen schmalen Lichtschacht.

    Die Person ließ sich tatsächlich im Keller unterbringen. Sie mußte ziemlich arm sein, ihr Brotberuf brachte ihr offensichtlich zu wenig ein, um sich für ein, zwei Nächte in einem der beiden Gasthöfe, die es im Dorf gab, ein Zimmer zu nehmen. Das Bett stammte aus der Haushaltsauflösung seiner Großeltern väterlicherseits, genauer gesagt, es war das Bett seiner Großmutter, das der Vater nicht zum Sperrmüll geben wollte. Er war der Meinung, man würde es irgendwann noch gebrauchen können, das Bett und die Matratze und das Federbett und das Kissen. Seine Mutter war nicht dieser Meinung gewesen, denn sie hielt es für modrig und mottenbesiedelt, aber sie setzte sich nicht durch, vielleicht wollte sie sich nicht durchsetzen, denn der Kellerraum interessierte sie wenig.

    Die Person lächelte ihn an und sagte: Titus, ein schöner Name und faselte gleich etwas vom römischen Kaiser Titus und Vespasian und der Zerstörung Jerusalems, an der angeblich dieser Titus beteiligt gewesen sei, und dann fragte sie ihn, immer noch diese Art Kampflächeln im Gesicht, ob er schon einmal in Rom gewesen sei – natürlich war er schon in Rom gewesen vor Jahren mit seiner Schule –, aber er antwortete nicht. Trotzdem fuhr sie fort, wenn er einmal nach Rom käme, sollte er sich den Titusbogen anschauen. Da wandte er sich ab, sodaß sie seine linke Gesichtshälfte sehen konnte. Sofort war sie still und, er glaubte zu hören, daß sie förmlich nach Luft schnappte. Bevor er sich davonmachen konnte, rief ihm der Vater noch zu, daß er heute und morgen nicht zu Hause essen werde. Als er die Holztreppen in sein Zimmer hinaufpolterte, merkte er, daß er am ganzen Leib zitterte. Gott sei Dank hatte er noch drei Flaschen Bier im Kasten, die er nach und nach leerte. Das beruhigte ihn und stellte ihn wieder auf die Füße. Aus dem Hamsterkäfig kein Laut, kein Rascheln. Er trat mit dem Fuß dagegen, ganz leicht, die beiden Hamster hasteten aus ihren Schlupflöchern und rannten wie von Sinnen herum, bis sie sich wieder verkrochen. Er überlegte, ob er noch einmal einen Fußtritt anbringen sollte, ließ es aber, es begann ihn zu langweilen.

    Zwei Tage lang sah er seinen Vater nicht mehr. Auch von der Person, die im Keller genächtigt haben mußte, bemerkte er keine Spuren, das heißt, der Mantel, ein verblichen-grüner Trenchcoat, so ein Burberry-Fake, dessen Taschen er natürlich durchsucht, jedoch nichts außer Papiertaschentüchern und Halspastillen entdeckt hatte, war weg. Er hatte an den Ärmeln geschnuppert, sie rochen nach irgendwelchen Kräutern. Vielleicht Minze oder Salbei. Er konnte Gerüche schlecht unterscheiden. Allerdings fand er die Tür zum Kellerraum erstmals verschlossen. Er wußte gar nicht, daß sich der Raum verschließen ließ. Er hatte noch nie einen Schlüssel an der Tür gesehen. Das machte ihn mißtrauisch, und er begann wieder zu zittern, der kalte Schweiß brach ihm aus. Er preßte sein Auge ans Schlüsselloch, doch er sah nichts, nur Finsternis. Klar. Hätte er sich sparen können.

    Obwohl er nicht damit rechnete, die Frau je wiederzusehen, konnte er sie nicht vergessen. Sie trieb sich in seinen Gehirngängen herum wie eine Laborratte in einem Labyrinth. Je länger er sie nicht sah, desto deutlicher wurde die Erinnerung an sie. Sie wollte einfach nicht verblassen. Ihr schmales, ja hageres, strenges Gesicht und ihre tiefliegenden Augen in einer undefinierbaren Farbe, die ihn aufmerksam gemustert hatten – was hatte sie bloß an ihm zu interessieren? – dieser Blick, er hatte etwas Inquisitorisches, verfolgte ihn. Das strenge Lächeln auf schmalen Lippen erinnerte ihn an seinen Musiklehrer, dessen Mundgeruch, den er ihm beim Singen der alpenländischen Lieder zwischen seinen schwarzen Zähnen hindurch ins Gesicht blies, abgestoßen hatte. Auf modische Kleidung legte die Frau anscheinend wenig Wert. Der braune Stoff, Filz oder Loden, so was Kompaktes, lag wie ein Panzer um ihre Figur, und die Schuhe waren breit, entenlatschig. Er mußte zugeben, daß sie für das hiesige Klima und die alpine Umgebung nicht unpassend gekleidet war.

    Sein Freund Connie wunderte sich, daß er immer wieder von ihr sprach. Er traf ihn neulich wie gewöhnlich am See in seinem Bootshaus, wo er die Planken seines Boots mit schwarzer Farbe anstrich. Niemand im Ort strich sein Boot mit schwarzer Farbe an. Aber Connie war einmal in Venedig gewesen und fasziniert von den Gondeln. Er sagte, die Fuhren, wie die Boote hier hießen, hätten große Ähnlichkeit mit den Gondeln. Auch die hiesigen Boote wurden nur von einer Person, die am Heck stand, gerudert.

    Titus erzählte dem Freund, während der an den noch ungestrichenen Planken herumschmirgelte, von den Händen der Fremden. Grobe, zupackende Finger und breite, kurzgeschnittene Fingernägel. Er dachte an die Madonnenfinger seiner Mutter, und ihn ekelte vor den Händen der Frau. Laß doch gut sein, warum sprichst du immer von ihr, sagte Connie, hast du nichts anderes zu denken? Dann lud er ihn zu einem Zehn-Kilometer-Lauf ein. Den hatten sie früher regelmäßig gemeinsam unternommen, aber seit seine Mutter verschwunden war, nicht mehr. Connie wollte wie gewöhnlich durch den Sternwald laufen und auf die Briger Höhe und in der Gamsbergwarte einkehren. Die habe seit kurzem eine neue Wirtin gepachtet, die sei schwer in Ordnung. Da gehe immer was ab, lockte er. Touristinnen, vor allem Deutsche! Titus sagte wegwerfend: Kenn ich. Was sollte er mit Weibern, vor ihm würde jede die Flucht ergreifen. Hat er alles schon erlebt, danke, kein Bedarf mehr. Er trank sein Bier lieber allein und beobachtete seine Hamster, wie sie in ihren Käfigen herumkrochen und sich gelegentlich zu paaren versuchten, obwohl beide Männchen waren, oder mit gefletschten Zähnen aufeinander losgingen, weil beide Männchen waren.

    Wegen der Hamster war sein Vater anfangs der Meinung gewesen, daß er Tiere liebe und es daher nahe läge, daß er Biologie oder Zoologie studieren sollte. Einmal schlug er ihm auch das Studium der Tiermedizin vor. Ein Mißverständnis, das ihm zu mühsam war, auszuräumen. Das Verhältnis zu seinem Vater bestand seit jeher nur aus Mißverständnissen. Daran war er gewöhnt. Ein Verständnis seines Vaters für seine Interessen, ja, schon die Kenntnis davon, hätte ihn irritiert. Davor brauchte er keine Angst zu haben. Jedenfalls wollte ihn der Vater aus dem Haus haben. Mein Vater will mich offenbar in eine Universitätsstadt abschieben. Nach Innsbruck oder nach Salzburg, sagte er zu Connie. Immerhin war er einundzwanzig, hatte die Matura in der Tasche und sollte mit seinem Leben etwas anfangen. Studieren oder eine Lehre beginnen, sagte er, verlangt mein Vater. Das mit der Lehre meinte sein Vater nicht ernst, er versuchte ihm damit zu drohen, denn natürlich sollte er als der Sohn eines Akademikers nicht als Lehrling bei einem Installateur schuften. Lehre oder Studium, jedenfalls Ausbildung, das hätte deine Mutter auch gewollt, behauptete sein Vater und glaubte, damit ein schlagendes Argument in der Tasche zu haben, sagte er zu Connie. Der zuckte nur mit den Schultern: Nicht mein Problem.

    Er begann sein Werkzeug wegzuräumen. Titus fand es kühn, daß der Vater zu wissen vorgab, was seine Mutter von ihm erwartet hätte. Doch Connie hatte sich schon von ihm ab- und seiner Arbeit zugewandt. Das Boot würde das einzige schwarze Boot im Ort sein, überhaupt das einzige mit Ölfarbe angestrichene. Es würde auffallen. Aber Titus hatte heute dafür keinen Sinn. Er

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