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Haarprobe: Der Coiffeur kommt nach Hause
Haarprobe: Der Coiffeur kommt nach Hause
Haarprobe: Der Coiffeur kommt nach Hause
eBook245 Seiten3 Stunden

Haarprobe: Der Coiffeur kommt nach Hause

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Über dieses E-Book

Nach dem unerwarteten Tod seines Vaters kehrt der erfolgreiche Szene-Coiffeur David Friedrich von Berlin in seine Heimatstadt Basel zurück. Ursprünglich nur zur Beerdigung und Abwicklung der Formalitäten angereist, beschliesst er, einem Impuls folgend, den alteingesessenen, äusserst renommierten Coiffeursalon des Vaters in der St. Alban-Vorstadt zu übernehmen.Als er in einem versteckten Wandfach säuberlich beschriftete Haarsträhnen von Kundinnen findet, verdächtigt er seinen Vater – zu dem er jahrelang keinen Kontakt mehr hatte –, eine sehr spezielle Obsession gepflegt zu haben. Doch hinter den Haarproben steckt mehr, wie er bald herausfindet. Um dem Geheimnis, dem schon sein Vater bis zu seinem tödlichen Unfall nachgegangen ist, auf die Spur zu kommen, benötigt er die Hilfe seines alten Schulkollegen Eddie, dem Pöstler im Quartier, der auf dubiose Weise über alles informiert zu sein scheint, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Doch dieser hat noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Kann er ihm vertrauen? Und was hat David von seinem Vater noch alles nicht gewusst?
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum9. Okt. 2023
ISBN9783729624108
Haarprobe: Der Coiffeur kommt nach Hause

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    Buchvorschau

    Haarprobe - Markus Wüest

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Juni 1950

    Die Ankunft

    Die Elsässerin

    Der Schulfreund

    Juni 1950

    Das Geschäftliche

    Die Krähe

    Der Pfarrer

    Juli 1959

    Die Begegnung

    Das Rätsel

    Die Überraschung

    September 1959

    Die Freundin

    Die Kontaktaufnahme

    Der Wischmopp

    Das Ohrläppchen

    Der Professor

    Dezember 1961

    Die Kunst

    Das Handwerk

    Die Zweitwohnung

    Die Initialen

    Die Neue

    Das Kuckuckskind

    Der Niesreflex

    April 1964

    Der Zusammenhang

    Das Hoodie

    Der Vater

    Der Deal

    Über den Autor

    Über das Buch

    Markus Wüest

    Haarprobe

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍n‍em Strukturbeitrag für die Jahre 2021‍–‍2024 unterstützt.

    © 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Thomas Gierl

    Korrektorat: Tobias Weskamp

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub: 978-3-7296-2410-8

    www.zytglogge.ch

    Markus Wüest

    Haarprobe

    Der Coiffeur kommt nach Hause

    Roman

    empty

    Für Peter und Tony

    Juni 1950

    Paul nutzte jede Gelegenheit, um Häuser zu zeichnen. Er wollte Architekt werden. Das war sein großer Traum. Deshalb gab er sich in der Schule auch alle Mühe. Selbst wenn ihm nicht alles gefiel, was sie lernen mussten. Aber mit Fräulein Kamber hatten sie eine Lehrerin, die sie, so gut es ging, förderte. Zwar war ihm schon ganz am Anfang untersagt worden, mit der linken Hand zu schreiben, was für ihn das Natürlichste gewesen wäre. Aber damit war er nicht allein. Auch André und Hans-Georg war das ausgetrieben worden.

    Auf seinem Schulweg kam er an der großen Baustelle an der Ecke Grellinger- und Hardstraße vorbei. Am Morgen war er meist in Eile und hatte keine Zeit zuzuschauen, wie die italienischen Gastarbeiter – die «Tschingge», wie man sie nannte – am Fundament arbeiteten. Wie sie Eisen verlegten und verwoben, wie sie Schachtwände konstruierten, in die in einem nächsten Arbeitsschritt der Beton gepresst würde. Aber auf dem Heimweg – am Mittag und am Abend – vergaß er dort manchmal völlig die Zeit und blieb viel zu lange stehen, was ihm immer wieder Schelte, einmal sogar eine saftige Ohrfeige eintrug.

    Er lebte zusammen mit seiner Mutter an der Adlerstraße in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Seinen Vater kannte er nicht. Pauls Großeltern wohnten im selben Haus, einem modernen Block, und da seine Mutter arbeitete, war sie über Mittag nie daheim. Dann aß er bei den Großeltern und erst am Abend war er bei seiner Mutter. Mit seinem Großvater verstand er sich hervorragend. Der hatte immer schon gerne mit ihm gespielt oder war mit ihm auf längere Spaziergänge durchs Quartier gegangen, wenn wieder mal dicke Luft geherrscht hatte.

    Vor allem die Großmutter war schuld, wenn es gelegentlich dicke Luft gab. Von ihr hatte Paul auch die Ohrfeige kassiert, weil sie seine Antwort frech fand, als er gesagt hatte, ihr Essen sei eben nicht so gut wie das von der Mutter, deshalb habe er nicht pressiert.

    Das Schuljahr war fast vorbei. Am Ende der Woche würden sie die Zeugnisse erhalten. Und Paul war sich ziemlich sicher, dass es ihm mit seinen Noten fürs Gymnasium reichen würde. Fräulein Kamber hatte so eine Andeutung gemacht. Dann könnte er den Weg einschlagen, von dem er träumte: die Matur machen, an die ETH gehen und Architektur studieren.

    Es war ein sehr warmer, fast schon heißer Tag Mitte Juni. Strahlender Sonnenschein. Und keine Hausaufgaben, da das Schuljahr ja fast zu Ende war, mussten sie nicht mehr büffeln. Also war er wieder bei der Baustelle stehen geblieben. Kurz nach 12. Er hatte fasziniert beobachtet, wie der große Kran die nächste Ladung Armierungseisen ablud und wie der Vorarbeiter – oder Polier, wie man ihn nennt, so hatte ihm der Großvater erklärt – exakte Anweisungen gab, wo die schwere Last hinkommen sollte.

    Wieder vergaß er die Zeit. Nicht böswillig, nicht weil er die Großmutter ärgern wollte. Einfach nur, weil er sich nicht satt sehen konnte.

    Doch dann rannte er los. Durch den Singerweg hoch, scharf um die Ecke rechts die Adlerstraße hinunter heim.

    Seine Großmutter kochte. In beiderlei Hinsicht. Sie kochte das Mittagessen am Herd und sie kochte, weil Paul trotz all seiner Versprechen, sich nicht mehr zu verspäten, schon wieder viel zu lange auf sich hatte warten lassen.

    Der Großvater saß schon am Tisch. Auf seinem Teller hatte er schon eine dampfende Omelette. Er schaute Paul an. Wohlwollend, durchaus. Aber Paul konnte an diesem Blick auch ablesen, dass er keine Hilfe zu erwarten hatte. Jedenfalls im Moment noch nicht. Er hatte sich selbst in den Schlamassel geritten und er war, das sollte der Blick wohl heißen, nun dem Zorn der Großmutter ausgeliefert. Der, auch dessen war sich Paul, wenn er mit sich ehrlich war, bewusst, nicht ungerechtfertigt war.

    Es war im Grunde ein riesiges Missverständnis. Großmutter hatte das Gefühl, Paul verachte sie und provoziere sie absichtlich fast jeden Tag. Und Paul hatte das Gefühl, seine Großmutter lehne ihn ab, habe ihn nicht gern und bringe kein Verständnis dafür auf, dass er halt gerne an Baustellen stehen blieb, statt sich unverzüglich auf den Heimweg zu machen.

    Sie haute ihm keine runter. Sie fluchte und sie schimpfte nicht. Aber ihr Blick war vernichtend. Sie machte sich selbst eine Omelette fertig und setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch. Sie machte keine Anstalten, ihm auch noch eine zu backen.

    «Wenn Dir diese Bauarbeiter so wichtig sind, dann frag doch, ob du mit ihnen essen kannst, statt heimzukommen», zischte sie Paul an. «Du wirst ja ohnehin bald einer von ihnen sein und Eisen legen.»

    «Ich werde nicht Eisen legen», gab er zurück, den Tränen nahe. «Ich werde der Architekt sein, der die Pläne zeichnet!»

    «Nein, das wirst du nicht. Dafür müsstest du aufs Gymnasium gehen und später studieren. Beides ist völlig unmöglich. Dafür ist kein Geld da.» Sie kratzte wutentbrannt mit der Gabel in ihrem Teller. «Das heißt, wenn dein Vater zu Dir stehen würde, wäre schon Geld da, aber dem ist deine Mutter ja nicht gut genug. Und du auch nicht!»

    Paul schmiss den Tornister auf den Boden. Stampfte, als wäre er noch ein Kleinkind. Aber er war in seiner Wut derart hilflos, dass ihm kein anderes Ventil blieb. Er war nicht jähzornig, es wäre ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen, seine Großmutter anzugreifen. Aber er war bis tief in seine Seele verletzt. Weil er wusste, dass sie ihn nicht anlog. Und der Satz «wenn Dein Vater zu Dir stehen würde» hallte in seinen Ohren noch lange nach. Er würde ewig nachklingen, aber das wusste er damals noch nicht.

    Er rannte aus der Wohnung, schlug die Tür hinter sich zu, eilte die Treppe nach unten hinaus auf die Straße. Er wollte weg, nur weg.

    Die Ankunft

    Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, und das gefällt ihm. Diese nicht zu bändigende Strähne, die sie bestimmt mehrmals pro Stunde zu zähmen hat, macht ihr Gesicht interessanter. Ein Gesicht, das ansonsten eher langweilig ist. Keine auffälligen Merkmale da, die sich der neugierige Betrachter würde einprägen können. Keine hohen Wangenknochen, keine besonders geschnittenen Augen, kein ausgeprägter Mund. Da tut diese Strähne gut.

    David Friedrich rührt stumm in seinem Tee und beobachtet, ohne als Beobachter aufzufallen. Er hat seinen Rollkoffer so neben sich an den Tisch gestellt, dass er in dem hübschen kleinen Café, das er nicht gekannt hat, das für ihn neu ist, so wie vieles hier in der Stadt für ihn neu ist, niemandem den Weg versperrt. Er hat die «Basler Zeitung» vor sich auf dem Tisch liegen, hat sie auch aufgeschlagen, sogar ein wenig darin geblättert, aber nichts gelesen.

    Wenn er liest, wenn er blättert, dann in seinen Erinnerungen an die letzten drei Wochen. Sein Vater ist am Dienstag, dem 13. Januar, überraschend gestorben. Wie der Zufall es wollte, auf dem Fußgängerstreifen neben dem Haupteingang des Spitals. Er hatte einen Krankenbesuch gemacht und befand sich auf dem Heimweg, als ihn ein Auto streifte und er so unglücklich auf den Kopf fiel, dass er auf der Stelle tot war.

    David war erst Stunden später informiert worden. Offenbar hatte es bei der Polizei eine Weile gedauert, bis die nächsten Angehörigen hatten eruiert werden können. Der Plural stimmt nicht. Der nächste Angehörige, denn außer ihm gibt es niemanden. Seine Mutter ist schon lange tot, Geschwister hat er nicht. Onkel Roger wäre noch in Frage gekommen, aber der lebt in Portland, Maine, USA.

    Er hatte sein Geschäft sofort geschlossen. «Auf unbestimmte Zeit», wie er auf die kleine Kreidetafel geschrieben hat. War nach Basel geflogen. Hatte alles Notwendige arrangiert. Eine «Beerdigung im engsten Kreis» hatte er vorgehabt. Bis er dem Druck der Angestellten des Alten nicht mehr hatte standhalten können: Das gehe nicht. All die Kundinnen! Unmöglich. Ein Affront. Er solle sich das besser noch einmal überlegen. Was er auch getan hatte.

    David nippt an seinem Tee. Immer noch heiß, aber egal, jetzt braucht er einen Schluck. Die Bedienung mit der wilden Strähne kümmert sich gerade um den älteren Herrn, zwei Tische neben ihm. Gute Figur. Sehr schöne Beine. Ihren Hinterkopf hätte man etwas geschickter modellieren und damit besser zur Geltung bringen können. Drei, vier Minuten Arbeit, mehr nicht.

    Er ist also wieder in Basel. Mit dem Rollkoffer. Und die «unbestimmte Zeit» hängt noch immer in der Tür seines Geschäfts in Berlin.

    Kein Wunder, dass er nicht lesen mag. Nur seinen Gedanken nachhängen, denn es treibt ihn viel zu viel um. Berlin gegen Basel eintauschen? Heimkehren? Für immer? Und was würden seine Kundinnen sagen? Und Silke und Petra? Oder Tess? Oje, sie vor allem.

    Du kannst noch zurück!, sagt er sich. Zurück zum Flughafen, die nächstbeste Maschine nach Berlin. Kreidetafel abhängen, mit dem nassen Schwamm reinigen, neue Botschaft drauf: «Weiter geht’s!» oder so. Genau. Schwamm drüber und endgültig die alten Bande kappen.

    Oder: jetzt «Zahlen!» rufen, der Strähne ein ordentliches Trinkgeld geben, Zeitung falten, weglegen, aufstehen, Rollkoffer ins Rollen bringen und den Aeschengraben hinunter, hoffentlich lebend über den Aeschenplatz kommen und dann via Malzgasse in die Dalbevorstadt.

    Dort ist er nicht gewesen. Vor einer Woche. Im Geschäft. Hat er gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Mit Marie-Jo hat er bloß telefoniert. Sie schmiss seit ein paar Jahren an der Stelle seiner Mutter den Laden, obwohl der Alte immer allen und jedem erzählte, er habe alles im Griff. Hatte er nicht. Wenn jemand im Geschäft alles im Griff hatte, dann Marie-Jo. Die Elsässerin mit der Energie von vier, dem Charme hoch zwei und dem Gedächtnis eines Elefanten. Sie hat er gebeten, das Notwendige zu veranlassen, als er sich vom ersten Schock erholt hat und ihm klar geworden ist, dass es nun an ihm lag, möglichst rasch ein paar erste, wichtige Entscheidungen zu treffen.

    Was denn das bedeute, hat sie wissen wollen, nach den Beileidsbezeugungen und den paar anderen höflichen Floskeln. Logisch. Laden dicht? Ja, für den Moment, hat er gesagt. Er wisse noch nicht, wie es weitergehen werde. Er werde die Löhne auf jeden Fall zahlen, so wie das ja auch gesetzlich vorgeschrieben sei, aber ohne seinen Vater sei es wohl gescheiter, sofort zu schließen.

    Marie-Jo hat, widerwillig, was er ihr nicht verübelte, gehorcht. Er hat die Beerdigung arrangiert, wichtigste Dinge geregelt und ist nach vier Tagen wieder verschwunden, um auch in Berlin ein paar Sachen zu regeln. Dass ein neuerlicher Flug nach Basel unumgänglich sein würde, war klar.

    Und jetzt hat er einen Plan. Am Flughafen in Schönefeld hat David sich vorgenommen, die Sache so anzupacken: direkt vom Bahnhof ins Geschäft. Nicht rauszögern, nicht Entschuldigungen und tausend Gründe finden, warum es doch klüger wäre, zuerst in die Wohnung – bei Airbnb gefunden – zu gehen. Nix da. Pack den Stier bei den Hörnern, David. Hat er sich gesagt. Hat er sich Mut gemacht. Sein Mantra an diesem speziellen Tag.

    Rollin’, rollin’, rollin’. Statt mit dem Tram diese eine Station bis zum Aeschenplatz zu fahren, geht er zu Fuß. Vorbei am neuen Baloise-Park inklusive schickem Hotel von Mövenpick, vorbei am KV, der Handelsschule, wo ihm einst die Geheimnisse der Buchhaltung beigebracht worden sind, bis hinunter zur Botta-Bank, die aussieht, als habe man eine gute Handvoll Fünfliber sorgfältig aufeinander gelegt ...

    Aber David geht nicht durch die Allee in der Straßenmitte. Sondern auf der rechten Straßenseite. Warum? Gewohnheit! Warum diese Gewohnheit? Darum.

    Es ist viel zu warm für einen Tag Mitte Februar. In Berlin hat sich David noch fast den Arsch abgefroren und sich deshalb für die neue Lederjacke entschieden, aber jetzt ist ihm in dem Ding heiß. Er spürt, dass er zu schwitzen beginnt, und hasst das.

    Der Himmel ist bedeckt. Würde ihn jetzt auch noch die Sonne aufheizen, passte es zu seinem sich ausbreitenden Missmut. Er schafft es heil über sämtliche Fußgängerstreifen am Aeschenplatz, was keine Selbstverständlichkeit ist. Dieses heillose Durcheinander von Straßen, Tramlinien und Fußgängerflüssen. Da muss man sämtliche Sinne beieinanderhaben, um nicht überfahren, überrollt, gerempelt oder angeschrien zu werden. Egal ob von einem Velofahrer, einer jungen Frau auf dem Trottinett oder einem behelmten Idioten auf einem E-Roller. Früher, in seiner Kindheit, hat zu den Stoßzeiten ein Polizist in einer Kanzel fast genau in der Mitte des Platzes das Durcheinander orchestriert – im Zusammenspiel mit einem Kollegen bei der Einmündung der Dufourstraße. Irgendwann sind sie abgeschafft worden, diese Dompteure der Ruhelosen.

    Kurz darauf ist die Malzgasse erreicht. Ein Autofahrer gibt ihm sogar beim allerletzten Fußgängerstreifen mit eleganter Handbewegung zu verstehen, dass er ruhig von seinem Vortritt Gebrauch machen solle. Eine gute Seele.

    Die Hektik hat sich in Luft aufgelöst. Friede ist eingekehrt. Eine Katze rennt von links nach rechts über die Straße. Keine schwarze. Eine getigerte. Diese Ruhe in dieser Seitenstraße. Und diese verdammte Nähe bereits zum Geschäft. Rollin’, rollin’, rollin’. Wie weit noch? Hundert Meter? Zweihundert?

    Es gibt diesen letzten Impuls, umzudrehen. Noch hat ihn niemand zu Gesicht bekommen, der dieses Gesicht auch kennt.

    Die Dalbevorstadt, in die die Malzgasse mündet, ist die Lebensader eines der ältesten Viertel Basels. Fast jedes Haus stammt aus dem Mittelalter. Niedrig sind sie, die Gebäude dort. Schmal sind die meisten. Wenn man bei der Ecke Malzgasse und Vorstadt nach rechts abbiegt, in Richtung Dalbetor, einem der drei noch erhaltenen Stadttore, Teil der ehemaligen Stadtmauer, die erst 1860 geschleift wurde, trifft man ein gutes Stück weiter vorne auf der rechten Straßenseite ein paar größere, höhere, neuere Häuser. Und: Dalbe. So kürzen die Baslerinnen und Basler St. Alban ab.

    Fast hätte ihn ein Auto angefahren, als er beim Restaurant St. Alban-Eck zaudert. Schaudert, könnte man auch sagen. Wie viele Jahre, fragt er sich. Wie lange ist das her?

    Seit dem großen Streit damals ist er nicht zurückgekehrt. Und wenn er ausnahmsweise mal für einen Besuch in Basel war, hat er die Dalbe gemieden, als drohe ihm dort Tod oder Teeren und Federn. Stets hat er jeden erdenklichen Umweg in Kauf genommen, um nicht in die Nähe des Geschäfts des Alten zu gelangen.

    Die letzten zwanzig Meter.

    «Grüezi, Herr Friedrich», ruft jemand auffallend freundlich und mit klarer Stimme. David traut seinen Ohren kaum. Perplex schaut er sich um.

    Die alte Frau versucht aber nicht etwa, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, sondern geht überraschend behände mit ihrem Einkaufswagen weiter in Richtung Tor.

    David braucht einen Moment, um in seinem Gehirn für Ordnung zu sorgen. Denn er ist nicht Marie-Jo. Frau Müller? Frau Gantenbein? Frau Wertheimer? Ne, die ist tot. Beim Bügeln wie vom Blitz getroffen zusammengesackt. Hat Mutter ihm wenige Tage vor ihrem eigenen Tod noch erzählt. Frau Geiser?

    Egal. Ihn überraschen zwei Dinge. Die Selbstverständlichkeit, mit der die alte Frau ihn begrüßt hat, als ob er nicht 15 Jahre lang weg gewesen wäre. Und gleichzeitig die Beiläufigkeit. Als würde sie ihn täglich grüßen. Fast findet er es ein bisschen unverschämt, dass sie nicht versucht hat, ihm ein Gespräch aufzudrängen. Erst dann fällt ihm ein: Frau Ganter. Und sie ist bei der Beerdigung des Alten gewesen. Hat ihm die Hand geschüttelt. Vermutlich auch ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er ist zu abwesend gewesen, auf dem Friedhof Hörnli. Das wurde ihm nachher schmerzhaft bewusst. Viele Freunde des Alten, viele Kundinnen, viele Nachbarn waren gekommen – also hatte es selbstverständlich eine ordentliche Beerdigung gebraucht –, aber er war weit, weit weg gewesen. Verfluchte Shioban.

    «Wegen Todesfall geschlosen» heißt es im Schaufenster. Saubere Handschrift, gut sichtbar, mangelhafte Orthografie. Marie-Jo.

    Er kramt in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel, den sie ihm am

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