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Der Teufel nebenan: Roman
Der Teufel nebenan: Roman
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eBook356 Seiten4 Stunden

Der Teufel nebenan: Roman

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Über dieses E-Book

Der junge, unvermögende Student Albert Holzknecht lernt die reiche Witwe Melanie Simrock kennen. Melanie ist von dem unerfahrenen Mann sehr angetan und die beiden heiraten. Melanies Vermögen ermöglicht Albert eine hohe Stellung in einer Keramikfabrik – der Einzelgänger kommt unter Leute und es dauert nicht lange, da ihm seine Ehefrau Untreue und Affären mit anderen Frauen unterstellt. Ihre Eifersucht steigert sich zum Psychoterror, die Streitereien zwischen dem Paar nehmen immer unbarmherzigere Formen an und das unglückliche Ende ist abzusehen.
Gina Kaus' Roman ist ein Psychodrama wie aus einem individualpsychologischen Lehrbuch, die Protagonisten sind Paradeneurotiker im Sinne der Individualpsychologie Alfred Adlers – und auf fatale Weise durch Minderwertigkeitskomplexe und Eifersuchtsneurose miteinander verbunden. Kaus versteht es jedoch, das Paar nicht in eine Schwarz-Weiß-Schablone zu pressen, sondern das unglückliche Zusammenspiel der beiden Charaktere zu beleuchten.
Der 1940 verfasste Roman nebenan wurde 1956 mit Lilli Palmer und Curd Jürgens in den Hauptrollen unter dem Titel Teufel in Seide verfilmt – und avancierte damit zum Bestseller. In der Romanfigur des Arztes Dr. Heinsheimer setzte Kaus Alfred Adler ein literarisches Denkmal.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2018
ISBN9783903184213
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    Buchvorschau

    Der Teufel nebenan - Gina Kaus

    VITA

    ERSTER TEIL

    1

    Die Mutter pflegte zu sagen: »Albert ist ein Mensch, den man nicht allein lassen darf.«

    Der Vater widersprach: »Du redest ihm das ein. Ich kann nicht finden, daß er unselbständiger ist als andere Jungen in seinem Alter. Und wenn er es wäre, so müßte man ihn eben deshalb einmal allein ins Leben schicken. Du willst es einfach nicht wahrhaben, daß er ohne dich auskommen kann, und wenn er wirklich ein Schwächling ist, so bist du schuld daran.«

    Es handelte sich darum, ob Albert in der Provinzstadt, wo sie daheim waren, oder in der Reichshauptstadt seine Studien vollenden sollte. Seine Mittelschulen hatte er mit Glanz absolviert, alle Lehrer hielten Großes von ihm. »Er könnte mal was werden«, sagten sie. Seine Kollegen sagten das gleiche. Aber niemand konnte so richtig sagen, was er eigentlich werden sollte.

    »Wenn du dich einmal richtig aussprechen würdest«, sagte der Vater, »es wäre dann viel leichter, einen Beschluß zu fassen.«

    Albert sah unschlüssig zwischen den Eltern hin und her. Er war ein großer Junge mit breiten athletischen Schultern und einem großen freundlichen Gesicht, das später vielleicht einmal schön werden würde. Vorläufig war es noch ein unfertiges Gesicht, halb kindlich, halb männlich. Nur die Nase hatte sich schon zu ihrer endgültigen Form entschieden, sie war groß und breit, beinahe eine Kartoffelnase. Obwohl er schlank war, sah man ihm an, daß er in nicht allzu ferner Zeit dick werden würde, daran würde weder eine mäßige Lebensweise noch ausgiebige sportliche Betätigung etwas ändern. Es lag in seinem Charakter, dick zu werden, und sein Charakter stand in seinem Gesicht geschrieben. Mit sehr viel sportlichem Training würde er die kernige Massivität eines Boxers erreichen können – aber sportliches Training lag ihm nicht. Wer ihn mit sehenden Augen ansah, konnte wissen, daß er es ohne Widerstand hinnehmen würde, mit dreißig Jahren dick zu sein.

    Er sah zwischen den Eltern hin und her, dann sagte er: »Wenn es nach mir ginge, möchte ich Philosophie studieren.«

    »Philosophie«, sagte der Vater. »Was heißt das – Philosophie? Was kann man damit anfangen?«

    »Wenn ich Philosophie studiere, kann ich in vier Jahren fertig sein. Dann könnte ich meinerseits an einer Universität Philosophie unterrichten. Und dabei bliebe mir Zeit genug, um für mich weiterzustudieren.«

    »Was weiterzustudieren?« fragte der Vater.

    »Philosophie«, sagte Albert.

    Beide Eltern schwiegen und waren unzufrieden. Der Vater hatte erwartet, Albert würde sagen, er wolle Ministerpräsident werden. Die Mutter hatte gehofft, er würde irgendein Lebensziel angeben, bei dem man Millionär wird. Sie waren beide vom Leben ziemlich verbraucht, weder reich noch bedeutend, und sie konnten nicht verstehen, daß ihr Sohn, der jung war, nicht höher hinaus wollte.

    »Um Philosophie zu studieren«, sagte die Mutter, »braucht er doch nicht in die Stadt zu fahren.« Sie wußte nicht genau, was Philosophie war; aber da man damit nicht sehr reich werden konnte, dachte sie, es sei etwas Minderwertiges, was sich wohl auch an einer kleinen Provinzuniversität vorfinden würde. Ausführlich zählte sie die Vorteile des Daheimbleibens auf, niemand hörte ihr zu, da sie nur Selbstverständliches sagte.

    Der Vater ging mit großen Schritten im Zimmer hin und her und sagte eine Menge kluger Sachen, die er zwar aus Büchern und Zeitungsartikeln hatte, die aber in gewissem Sinne doch ihm gehörten, da sie ihm einleuchtend und für seine persönlichen Zwecke von ihm verarbeitet worden waren.

    »Es kommt nicht allein darauf an, was ein junger Mensch lernt – es kommt darauf an, was er daraus macht, auf ihn selbst kommt es an, auf seine Persönlichkeit. Das Vaterhaus ist nicht der richtige Ort, um eine Persönlichkeit herauszubilden und abzuschleifen. Zum Beispiel«, sagte er und wies auf den Sohn, »sieh dir Albert in diesem Disput an. Benimmt er sich so, wie ein junger Mann in seiner Situation sich verhalten sollte? – Nein! Er verhält sich vollkommen passiv und wartet unsere Entscheidung ab, anstatt seinen eigenen Willen als den allerwichtigsten Faktor in die Waagschale zu werfen. Warum zum Teufel«, wandte er sich an den Sohn, »warum sagst du nicht, daß du in die Stadt fahren willst?«

    »Aber er will doch gar nicht!« rief die Mutter, ehe Albert Zeit hatte, irgend etwas zu äußern.

    Sie hatte Tränen in den Augen, und Albert bemerkte es. Aus Gründen, die er niemandem hätte erklären können, waren ihm diese Tränen unerträglich. Er hätte, und wenn es ihm noch zehntausendmal wichtiger gewesen wäre, nicht aussprechen können, daß er für sein Leben gern zur Stadt fahren wollte. Ja, in diesem Augenblick, als er seine Mutter weinen sah, hatte er nicht einmal mehr die richtige Erinnerung daran, wie wichtig ihm in den letzten Monaten diese Reise gewesen war, wie er sich alles ausgemalt und wie er mit seinen Freunden davon gesprochen hatte. Er hatte nur mehr den einen Wunsch, der Vater möge endlich aufhören, in ihn zu dringen, und alle Dinge beim alten lassen.

    »Da siehst du, was für ein Mensch er ist«, sagte der Vater mit tiefer Mißbilligung, »er ist nicht einmal imstande, sich gegen deinen unsinnigen mütterlichen Egoismus durchzusetzen. Wie soll er sich da jemals gegen Fremde oder gar gegen Feinde behaupten? Behalte ihn in Gottes Namen hier!« schrie er die Mutter an. »Füttere ihn mit nahrhaften Dingen, gib acht, daß er keine kalten Füße bekommt und nachts nicht zu spät nach Hause kommt – mach einen unbrauchbaren, lächerlichen Waschlappen aus ihm! Du wirst nicht mehr viel Mühe damit haben!«

    Damit ging der Vater aus dem Zimmer und schlug die Tür zu.

    Albert fühlte sich hundeelend. Er hatte gehofft, der Vater würde die Sache für ihn durchsetzen. Aber es war eigentlich ganz klar, daß es anders kommen mußte. Der Vater, obwohl weitaus intelligenter und fremden Leuten gegenüber weitaus weltgewandter als die Mutter, setzte in Wirklichkeit nie etwas gegen sie durch. Seine Energie erschöpfte sich in klangvollen Worten, während ihre sanfte Beharrlichkeit bisher noch immer recht behalten hatte.

    Albert wußte auch genau, woran es lag. Die Mutter, bei aller Bescheidenheit ihres Auftretens, war innerhalb ihres Bezirkes von der Richtigkeit ihrer Ansichten voll und ganz durchdrungen. Er aber, ebenso wie der Vater, waren im Grunde genommen Zweifler. Sie hielten es immer für möglich, daß sie irren könnten. Die Mutter war in Wirklichkeit die Mutigere, sie nahm die Verantwortung für das, was nach ihrem Willen geschah, ohne weiteres auf sich und schien nie etwas von dieser Last zu spüren.

    2

    So schien es Albert, aber dann zeigte es sich, daß alles offenbar ganz anders war.

    Als er zwanzig Jahre alt war, starb sein Vater ganz plötzlich, und acht Tage später verlangte die Mutter, er solle nach der Stadt übersiedeln. Auf seine Frage erwiderte sie, daß sie damit einen Wunsch des Toten erfülle. Aber das hätte sie gewiß nicht getan, wäre ihr nicht endlich klargeworden, daß er mit diesem Wunsch immer recht gehabt hatte. Irgendwelche ehelichen Differenzen, von denen er nichts ahnen konnte, waren offenbar auf Alberts Rücken ausgetragen worden. Es war sehr viel Reue in der Haltung der Mutter, denn sie betrieb Alberts Abreise mit großer Eile und Energie.

    Der Vater war Beamter in einer Versicherungsgesellschaft gewesen und hatte seiner Familie eine bescheidene Rente und ein kleines Barvermögen hinterlassen. Die Mutter übergab Albert dieses Barvermögen – es waren nur ein paar tausend Kronen – und rechnete ihm vor, daß er bei bescheidenster Lebensführung drei bis vier Jahre damit auskommen könnte. Außerdem gab sie ihm Empfehlungen in einige angesehene Häuser, von denen er aber niemals Gebrauch machte.

    Übrigens hatte Albert Verwandte in der Stadt. Einen Onkel Josef, der Offizier bei der Infanterie war, und einen anderen Onkel, Fritz, der es als Architekt zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Aber dieser Onkel Fritz war das schwarze Schaf der Familie, denn er lebte seit Jahren im Konkubinat mit einer Französin, die niemand je zu Gesicht bekommen hatte und die man »das Frauenzimmer« zu nennen pflegte. Die Mutter trug Albert strenge auf, Onkel Fritz erst anzurufen, wenn er ein eigenes Zimmer hatte, und ihn zu sich zu bitten – natürlich nur ihn allein. Aber es kam anders. Onkel Fritz lud Albert sofort zum Abendbrot, und er wußte nicht, wie er es hätte ablehnen können.

    Onkel Fritz bewohnte den sechsten Stock eines ganz modernen Hauses. Er war sehr stolz auf die Wohnung, die er einem »ganz gewöhnlichen Dachboden« abgezwungen hatte, einen sehr großen Arbeitsraum und fünf winzige Zimmerchen, wie für Schneewittchens Zwerge, in denen aber die behaglichsten aller Lehnstühle Platz hatten – offenbar, weil nichts Überflüssiges umherstand.

    Das »Frauenzimmer« rief aus der Küche, man solle zu ihr kommen. Sie stand an einem kleinen, weißemaillierten Gasherd, hatte eine weiße Schürze vorgebunden und sah genauso warm und appetitlich aus wie der Auflauf, den sie gerade aus dem Rohr nahm. Albert dachte, sie würde sehr verlegen sein. Sie aber nahm ihn mit weichen, warmen Händen beim Kopf, küßte ihn auf beide Wangen und sagte: »Du nennst mich einfach Martha«, sie sprach das Deutsche ganz geläufig, bloß mit einem starken ausländischen Akzent, »und wenn du etwas brauchst, so kommst du zu mir. Fritz ist ein sehr guter Kerl, aber unpraktisch wie ein kleines Kind. So und jetzt hilf mir die Teller hineintragen.«

    Es war die erste ordentliche Mahlzeit, die Albert seit den acht Tagen seines Aufenthaltes in der Stadt in den Magen bekam, denn er hatte noch nicht heraus, wie man in Restaurants gut und billig essen kann. Es gab Bier zu Tisch und nachher einen ausgezeichneten Obstschnaps.

    »Hast du dich schon einmal ordentlich betrunken?« fragte Onkel Fritz.

    »Doch. Am Abend nach der Matura. Ich glaube, ich war der Besoffenste von allen, ich weiß überhaupt nicht, was ich getan und was ich geredet habe. Nachher haben sie mir weismachen wollen, ich habe mich schrecklich unanständig aufgeführt. Aber das glaube ich nicht. Ich habe meinen ehemaligen Klassenprimus verprügelt, das ist wahr, und am nächsten Tag habe ich ihn um Entschuldigung gebeten. Man soll sich nicht betrinken«, sagte er mit starker Stimme, »man soll nicht Dinge tun, deren man sich am nächsten Tage schämt!«

    Er hatte keine Ahnung, daß er wieder betrunken war.

    »Und die Frauen?« fragte Martha lächelnd. »Hast du eine Freundin daheim zurückgelassen?«

    »Die Frauen«, sagte Albert und machte eine große, breite Bewegung mit den Armen, wobei er an die Wände des winzigen Zimmerchens stieß, »die Frauen interessieren mich nicht.«

    Fritz und Martha begannen gleichzeitig zu lachen. Albert staunte erst darüber, dann lachte er gutmütig mit.

    »Offen gestanden – ich habe Angst vor den Frauen. Man hat wenig Freude mit ihnen, ich habe das an meinen Freunden gesehen. Manche von ihnen haben sich verliebt – die einen wurden verlassen und waren sehr unglücklich darüber, die anderen aber konnten ihr Mädchen nicht mehr loswerden und waren noch unglücklicher. Es ist wie eine Rechnung, die falsch aufgestellt ist und die nie aufgehen kann.«

    Er war wirklich ziemlich betrunken, jedenfalls sprach er weit mehr, als es in seiner Gewohnheit lag. Onkel Fritz legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte vergnügt:

    »Du bist es, der die Sache falsch ansieht. Ich verstehe nichts von Mathematik und weiß nicht, ob Rechnungen unbedingt aufgehen müssen. Aber ich glaube, ich verstehe etwas von Frauen, und ich kann dir sagen, es kommt nicht darauf an, wie die Sache ausgeht.«

    »Worauf kommt es denn an?« fragte Albert, ehrlich interessiert.

    »Mein Gott – wenn du mich so fragst! Es kommt nicht auf das Vollkommene an, sondern auf das Ungefähre. Nicht auf das Ewige, sondern auf das zeitlich Begrenzte.«

    Martha nahm ihm das Schnapsglas aus der Hand. »Drück dich wie ein vernünftiger Mensch aus, sonst bekommst du keinen Schluck mehr«, sagte sie.

    »Über solche Dinge kann man nicht vernünftig reden!« Onkel Fritz fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, er hatte nicht mehr sehr viele, aber sie kamen doch in beträchtliche Unordnung. »Vernünftig gesprochen, hat er vielleicht ganz recht. Ohne Frauen könnte man mehr arbeiten, mehr verdienen. Aber wozu arbeiten, wozu verdienen? Und zum Teufel – warum soll man nicht ab und zu unglücklich sein? Was hat er vorhin gesagt? Man soll nicht Dinge tun, die man am nächsten Tag bedauert. Unsinn. Man soll sie tun, sonst ist das Leben überhaupt nicht wert, gelebt zu werden. Man soll sich einen Rausch antrinken und den Katzenjammer in Kauf nehmen. Und man soll die Leiden der Liebe in Kauf nehmen, sonst kann man sich einfach begraben lassen! Was meinst du dazu?« fragte er Martha und legte seine Hand auf ihr Knie, was Albert veranlaßte, verlegen wegzusehen.

    Martha küßte ihren Freund zunächst einmal auf den Mund. Dann sagte sie, während sie aufstand und den Tisch abräumte: »Männer zerbrechen sich immer viel zuviel den Kopf. Diese Dinge kommen von selbst – wie sie eben wollen. Wenn ich dir sage«, wandte sie sich an Albert, »daß ich mit siebzehn Jahren noch ins Kloster gehen wollte … Ich war in einen Vetter von mir verliebt, aber zum Sterben verliebt, und er hat eine andere geheiratet – er weiß bis heute noch nicht, daß er mich beinahe umgebracht hat. Und ich hätte nie geglaubt, ich könnte noch einen anderen Mann ansehen.« Sie strich Albert mit ihrer weißen warmen Hand über das Haar. »Ich glaube, es ist sehr gut, wenn man in der Jugend eine große Enttäuschung durchmacht. Scharlach, Keuchhusten und die große Liebe – alle diese Krankheiten soll man vor dem zwanzigsten Jahr durchmachen.«

    Als Albert zum erstenmal auf den Gedanken kam, nach der Uhr zu sehen, war es Mitternacht. Onkel Fritz sagte zu seiner Freundin: »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich Albert ein Stück begleiten. Sonst habe ich morgen einen schweren Kopf.«

    Auf der Straße fragte Albert plötzlich: »Warum heiratest du Martha eigentlich nicht?« Er hätte das nicht gefragt, wenn er weniger getrunken hätte.

    Onkel Fritz antwortete ohne jede Verwunderung: »Es gibt gar keinen Grund dafür – außer einem einzigen: daß es nämlich auch gar keinen Grund gibt, sozusagen aus heiterem Himmel zu heiraten. Vor zehn Jahren, als es mit uns beiden begann, hatte jeder von uns ein großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Seither haben wir, soweit ich mich erinnere, einfach nie mehr über dieses Thema gesprochen.«

    Wenn Onkel Fritz mit seiner Freundin niemals über dieses Thema gesprochen hatte, so offenbar nicht deswegen, weil er nicht gerne davon sprach: auf dem langen Heimweg mit dem zwanzigjährigen Neffen, den er zum erstenmal seit seiner Kindheit vor sich hatte, sprach er lange und ausführlich darüber. Er nannte die Ehe bald »ein Gefängnis«, bald einen »Shylockvertrag«, dann wieder »das Grab der Liebe« und noch alles mögliche sonst. Albert besaß zwar so gut wie keine Lebenserfahrung, trotzdem konnte sogar er bemerken, daß Onkel Fritz sich in diesen Reden gefiel, daß er offenbar stolz war auf seine unbürgerlichen Ansichten und auf sein unbürgerliches Leben, obwohl sein Heim viel ordentlicher und behaglicher war als irgendeines der bürgerlichen Heime, die Albert kannte.

    Als sie angelangt waren, bestand Onkel Fritz darauf, den Neffen bis in sein Zimmer zu begleiten. »Du bist nicht gewohnt zu trinken, am Ende fällst du noch über die Treppen.«

    »Aber ich wohne doch im Erdgeschoß.«

    »Das macht nichts.«

    Albert sperrte das Haustor auf und führte den Onkel über den Hof.

    »Du wohnst im Hinterhaus?«

    »Im Gartenhaus«, verbesserte Albert. Aber es war richtig, daß man den Garten, der nur aus fünf Bäumen bestand, auch einen Hof nennen konnte, ohne ihn zu beleidigen.

    Endlich standen sie in Alberts Zimmer. Onkel Fritz sah vom zerschlissenen Teppich zu dem schmutzigen Stuck an der Decke, er sah an den Wänden die Fotografien der vermutlich längst verstorbenen Verwandten der Hausfrau, er sah die billigen verschnörkelten Blumenvasen, Zwerge, Hunde und andere Scheußlichkeiten auf der Kommode und sagte schließlich:

    »Hoffentlich ist das Zimmer wenigstens hell und ruhig.«

    »Nein, das kann man nicht sagen. Hell ist es gar nicht, nicht einmal morgens. Und dann – der Garten gehört zu einer Schule, und in jeder Pause kommen die Kinder, um zu spielen.«

    Es fiel ihm plötzlich zum erstenmal auf, daß sein Zimmer sehr, sehr häßlich war. Während dieser ersten Woche seines Hierseins war er stolz darauf gewesen, überhaupt ein eigenes Zimmer zu haben, »ein möblierter Herr« zu sein.

    »Es war ganz einfach das erste Zimmer, das ich gefunden habe«, gestand er. »Ich bin im Hotel abgestiegen – aber das Hotel ist furchtbar teuer. Ich bin hier, in der Nähe der Universität, über die Straße gegangen und in die erste Haustür hinein, an der ›zu vermieten‹ stand. Ich dachte, es ist alles da, was ich brauche, ein Bett, ein Kasten, ein Schreibtisch und ein Lehnstuhl … der Lehnstuhl ist sogar sehr bequem und angenehm.«

    In diesem Augenblick klopfte es an der Tür und auf Alberts »Herein!« erschien, in einem Flanellschlafrock und in Pantoffeln, das graue Haar unter einem Netz, die Hausfrau.

    »Sie haben Besuch?« fragte sie.

    »Jawohl«, erwiderte der Onkel anstatt Alberts, »mein Neffe hat Besuch. Haben Sie vielleicht etwas dagegen?«

    Die Alte fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Nein, natürlich nicht. Wenn es kein Damenbesuch ist, habe ich nichts dagegen. Gute Nacht, die Herren.«

    »Sie ist eine sehr gutmütige Person«, sagte Albert, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, »sie bringt mir morgens das Frühstück ans Bett und hat sich angeboten, meine Wäsche in Ordnung zu halten. Sie hat bloß schreckliche Angst vor Damenbesuch.«

    »Höre einmal, mein Junge«, sagte Onkel Fritz beinahe ernst, »du wirst hier kündigen. Das ist ein scheußliches Loch, und deine Hausfrau ist ein scheußlicher alter Drachen. Ich verstehe gar nicht, wie du deinen Tee hinunterschlucken kannst, wenn diese häßliche Hexe ihn dir ans Bett stellt. Und mit der Zeit wirst du natürlich Damenbesuch haben wollen. Nimm dir einen Tag dafür Zeit und suche dir eine menschenwürdige Behausung bei gemütlichen Leuten, die nachts beide Augen zudrücken. Und wenn es etwas mehr kosten sollte« – er griff nach seiner Brieftasche –, »ich bin dir zwanzig Weihnachtsgeschenke schuldig. Da nimm – von einem alten Onkel ist es keine Schande!«

    Er stopfte Albert einen größeren Geldschein in die Rocktasche.

    »Und was ich dir noch sagen wollte: vergiß nicht, deinen Onkel Josef aufzusuchen. Ich kann ihn zwar nicht leiden und du wirst ihn auch nicht leiden können – ganz zu schweigen davon, wie zuwider du ihm sein wirst –, aber er hat ausgezeichnete Beziehungen zu allen möglichen einflußreichen Leuten, und wenn du mit deinen Studien fertig sein wirst, kannst du diese Beziehungen gebrauchen. Gute Nacht für heute!«

    3

    Drei Jahre später, als er seine Studien beinahe beendet hatte, bewohnte Albert noch immer das dunkle Hofzimmer mit dem zerschlissenen Teppich und dem schmutzigen Stuck an der Decke. Die Kinder lärmten jede Stunde im Garten, aber er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte sich auch an alle die häßlichen Fotografien an den Wänden und an die Nippesgegenstände auf der Kommode gewöhnt.

    Knapp nach dem nächtlichen Gespräch mit Onkel Fritz hatte er kündigen wollen, aber da er nicht wußte, wie man das macht, hatte er ein allgemeines Gespräch mit der Hausfrau begonnen, und in diesem Gespräch hatte die alte Dame, Witwe eines Postbeamten, bitter über die Schwierigkeiten ihres Daseins geklagt. Eine Tochter, die schlecht verheiratet war, kostete sie alle ihre Ersparnisse. Sie lebte ausschließlich von ihren beiden Mietern, von Albert und von einem jungen Mediziner, und Albert konnte seine Kündigung einfach nicht über die Lippen bringen, mitten in diesen wortreichen Jammer hinein.

    Er hatte später einmal versucht, wenigstens die überflüssigen Scheußlichkeiten aus seinem Zimmer entfernen zu lassen. »Frau Hessler«, hatte er gesagt, »ich brauche die Platte der Kommode für meine Bücher. Sehen Sie mal – der Schreibtisch ist schon ganz vollgeräumt.« Frau Hessler hatte mit trüben Augen auf die Hunde, Zwerge und Blumenvasen geblickt und nur erstaunt gesagt: »Aber sie sind doch so schön!«

    Es war alles geblieben, wie es war. Seinen Onkel hatte er noch immer nicht angerufen, und jetzt war es längst zu spät; denn Onkel Josef würde es doch niemals verzeihen, daß er drei Jahre lang in der Stadt gewesen war, ohne sich bei ihm zu melden.

    Zu Onkel Fritz ging er jedoch an jedem Donnerstagabend, und er hatte sich daran gewöhnt, sich von ihm einen Schwächling nennen zu hören – ganz so, wie er es von seinem Vater her gewohnt gewesen war.

    »Man muß das Herz haben, seinen Willen durchzusetzen«, sagte Onkel Fritz, »vorausgesetzt natürlich, daß man so etwas wie einen Willen hat. Und wenn du keinen hast, tust du mir leid.«

    »Ich fürchte, ich habe keinen«, sagte Albert, »jedenfalls kann ich meinen Willen nicht so sehr wichtig nehmen wie die meisten Leute. Aber ich glaube, es ist überhaupt etwas ganz anderes. Ich spüre, was in anderen Menschen vorgeht, verstehst du? Und wenn ich spüre, dem anderen liegt besonders viel daran, daß eine Sache so bleibt, wie sie ist, dann habe ich einfach gar keine besondere Lust mehr, sie zu ändern. Schließlich ändert sich alles von selbst. Es war genauso, als ich seinerzeit in die Stadt fahren wollte und meine Mutter sich so darüber kränkte. – Eines Tages hat sie mich selbst hergeschickt.«

    »Du wirst es nie zu etwas bringen«, sagte Onkel Fritz, »es gibt keine Karriere, die nicht ein paar Nebenmenschen beiseite schiebt!«

    »Wirst du mich sehr verachten, wenn ich dir sage, daß ich keine besondere Sehnsucht nach einer Karriere habe? Ich kann mir beim besten Willen nichts darunter vorstellen, was mich hinreißt. Ich habe kein Bedürfnis nach Luxus und großer Welt – ich habe es nun einmal nicht. Alle Dinge, die mir Freude machen, sind von einer Art, die nicht ins Geld geht. Ich liebe Bücher – aber ich brauche keine Erstausgaben oder Unika. Es stört mich nicht, zu wissen, daß noch zehntausend andere Menschen die gleichen Bücher haben. Ich liebe die Natur – aber ich schlafe sehr gern in Herbergen, und es stört mich nicht, sie zu Fuß oder in überfüllten Autobussen zu erreichen. Überhaupt glaube ich, die meisten Dinge, die so viel Geld kosten, daß Menschen unbedingt Karriere machen müssen, um sie zu besitzen, dienen gar nicht zu ihrem Vergnügen, sondern dem Ärger der anderen. Zum Beispiel die vielen überflüssigen Zimmer in den Häusern der Reichen. Wozu das? Wozu die kostbaren Gemälde, die Tapisserien an den Wänden? Wenn ich meinen Schönheitssinn befriedigen will, gehe ich ins Museum. Und wenn ich es mir werde leisten können, dann werde ich mir gute moderne Drucke von meinen Lieblingsbildern an die Wände hängen.«

    Albert war längst dahintergekommen, daß sich seine Anschauungen von einem glücklichen Leben nicht mit denen der meisten Menschen deckten. Nicht nur die Eltern waren über seinen mangelnden Ehrgeiz enttäuscht gewesen, nicht nur Onkel Fritz brummte über »dieses lächerliche Minimalprogramm« – auch sein bester Freund Stephan Rotaug wußte nichts damit anzufangen.

    Stephan war der junge Mediziner, der mit ihm für den Lebensunterhalt der verwitweten Hausfrau sorgte. Wie sich bei den meisten guten Dingen mit der Zeit herausstellt, daß sie ihre Fehler haben, so zeigen auch die schlechten oft unerwartete Vorzüge. Alberts mehrjährige Nachbarschaft mit dem jungen Mediziner hatte zu einer Freundschaft geführt, die zu jenen gehörte, von denen man sich nicht vorstellen kann, daß sie nicht fürs ganze Leben sein könnten.

    Stephan war unsagbar arm. Seine Eltern lebten in Polen, es ging ihnen schlecht, und das Geld blieb oft am Monatsersten aus. Stephan gab Stunden aller Art, Lateinstunden an Gymnasiasten, Nachhilfestunden an Kollegen jüngerer Semester, er machte Übersetzungsarbeiten aus dem Polnischen und ins Polnische, er bestand alle seine Prüfungen mit Auszeichnung, pflegte mit großer Gewissenhaftigkeit eine Reihe von gesellschaftlichen Beziehungen und fand immer noch Zeit für nächtliche Gespräche mit Albert, die um die Letzten Dinge gingen.

    Außerdem hatte er eine Freundin, die noch ärmer war als er. Eine Kollegin, die mit einem anderen Mädchen ein winziges Zimmer in der Vorstadt bewohnte und die als Eintänzerin in einem drittklassigen Kaffeehaus einen wahrhaft heroischen Kampf um ihre Kolleggelder führte.

    Dreimal in der Woche war im »Café Viktoria« Ball. Dann ging Stephan hin, und manchmal begleitete Albert ihn. Sie saßen bis zwei Uhr morgens bei einer Tasse schwarzen Kaffees und sahen zu, wie Franzi mit wohlbeleibten Herren aus der Provinz Rumba tanzte und lieb lächelte, wenn sie ein Trinkgeld in die Hand gedrückt bekam. Denn sie hatte kein fixes Gehalt.

    Nur sehr selten kam Franzi zu ihnen an den Tisch. Sie hatte zwar keine Verpflichtungen gegenüber den Gästen, aber diese durften nicht wissen, daß sie einen Freund hatte. Man sollte sie lieber für tugendhaft halten und recht oft wiederkommen, um zu sehen, ob nicht mit der Zeit doch etwas zu machen sei.

    Manchmal brachte Franzi ihre Zimmergenossin mit, es war Emmy, ein ganz einfaches Mädchen, das bei einer Modistin angestellt und für die das »Café Viktoria« ein richtiges Vergnügungslokal war.

    »Sie müssen mit ihr tanzen«, flüsterte Franzi Albert ins Ohr, »sie tanzt so leidenschaftlich gerne.«

    Albert tanzte sehr schlecht. Trotzdem folgte er Franzis Worten und der flehenden Bitte in Emmys Augen. Emmys Augen waren klein und blau wie gewisse Frühlingsblumen, sie saßen in einem runden frischen Kindergesicht, das von blonden, übermäßig gelockten Haaren umrahmt war. Wenn er mit Emmy tanzte, dann roch er den Duft dieser Haare. Es war ein gesunder, tierhafter Geruch, den er noch zu spüren glaubte, wenn er dann längst daheim in seinem Bett lag.

    Mit der Zeit kamen sowohl er wie Emmy immer regelmäßiger zu den Abenden ins »Café Viktoria«, es wurde eine Art Gewohnheit, aber weiter nichts; denn Albert war viel zu schüchtern, um während eines Tanzes – obwohl ihre Wange so nahe der seinen war, daß er ihr die Worte bloß hätte ins Ohr flüstern müssen – Emmy zu fragen, ob sie ihn nicht einmal an einem anderen Ort und allein treffen wolle.

    Er war mit den Dingen, so, wie

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