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Der Begabte
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eBook98 Seiten1 Stunde

Der Begabte

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Über dieses E-Book

Begabt ist der Junge gewiss, den "kleinen Mozart" nennen sie ihn in dem Städtchen. Doch jetzt sitzt er im Gefängnis – zu Unrecht? Schicht für Schicht steigen wir in die Tiefen seiner Erinnerung. Mit geradezu qualvoller Raffinesse enthüllt Evelyn Grill, wie aus einem Jungen, der ohne Freunde und ohne Mutter bei seinen Großeltern aufwuchs, der von seinem Opa, dem Schuldirektor, einer Autorität im Ort, aufgezogen und gefördert, gehätschelt und erniedrigt wurde, ein Verdächtiger, vielleicht ein Mörder wurde. Denn die Oma ist tot, erschlagen mit einer Hacke, und der Opa, der war im Wirtshaus, als es geschah. Meisterlich zieht Evelyn Grill die Fäden dieses grausamen Romans über die alltägliche Gemeinheit und die Sehnsucht nach Anerkennung.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2019
ISBN9783701746057
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    Buchvorschau

    Der Begabte - Evelyn Grill

    Lichtenberg

    Sein Anwalt sagt, er geht in Berufung. Das Strafmaß ist zu hoch. Aber der Opa hat noch mehr gekriegt. Um ein Drittel. Geht der auch in Berufung?

    Er hat ein Bett, das kann er tagsüber hochklappen, dann hat er mehr Platz. Doch er braucht nicht mehr Platz, er setzt sich auf das Bett oder legt sich hin und denkt nach. Einen kleinen Tisch, einen Sessel und einen Spind hat er auch und eine Toilette und ein Regal über seinem Bett. Er glaubt, er darf auch Besuch erhalten, wie oft, weiß er nicht, auch nicht, wer ihn besuchen möchte. Seine Oma lebt ja nicht mehr. Aber seine Mutter könnte kommen und Katharina, mit der er einmal eng befreundet war, er war, glaubt er sich zu erinnern, sogar in sie verliebt, oder sie in ihn, er meint, sie waren beide ziemlich ineinander verliebt, geschlafen haben sie nicht miteinander, kein Sex, sie sind beide sehr katholisch, Sex wäre erst nach der kirchlichen Trauung gestattet gewesen, so ist er erzogen. Aber heute kann er sich vorstellen, daß es doch dazu gekommen wäre, wenn sie länger miteinander befreundet geblieben wären. Sein Opa hatte dazwischengefunkt, der glaubte, festgestellt zu haben, daß er, seit er diese Freundin hatte, nicht mehr bei der Sache war, damit meinte er das Klavier und die Orgel. Und er erinnerte ihn daran, daß er der junge Mozart sei beziehungsweise sein Nachfolger. Freunde hatte er keine, denn er hatte keine Zeit für Freunde. Er hat täglich mehrere Stunden Klavier geübt. Besonders, seit er mit Katharina Schluß gemacht hat oder sie mit ihm. Der Opa sagte immer, er sei der junge Mozart. Daran hat er geglaubt und er glaubt immer noch daran, obwohl der Opa irgendwann aufgehört hat, das zu behaupten. Der Opa war streng, aber er glaubte an ihn, und sie glaubten beide an Gott und an die Jungfrau Maria. Er fragt sich, er hat ja jetzt Zeit, sich zu fragen, in seiner Zelle, da lenkt ihn nichts ab, also er fragt sich, ob er noch glaubt an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde. Warum soll er sich das fragen, was bringt denn das, der Richter hat ihn auch nicht gefragt, und auch nicht sein Anwalt. Sein Anwalt hat versprochen, ihn zu besuchen, ja, stimmt, sein Anwalt kommt. Das ist sicher. Er hat Vertrauen zu seinem Anwalt. Vielleicht kommt sogar seine Mutter. Eigentlich weiß er gar nicht, ob er sie sehen will, und eigentlich ist sie ja nicht mehr seine Mutter vor dem Gesetz, hat der Anwalt gesagt. Wahrscheinlich würde sie wieder weinen, wie sie vor Gericht geweint hat, geschluchzt, das war ihm peinlich. Sie wurde dann abgeführt, nein, nicht abgeführt, weggeführt von einer Art Krankenschwester. Er saß ja neben dem Opa in der ersten Reihe und hat ihr zugewinkt, das heißt, er hat nur eine Hand leicht erhoben, eine Handfläche eigentlich. Aber sie schaute ihn nicht an, sie konnte seine erhobene Hand auch nicht sehen, weil sie die Schürze von ihrem Dirndlkleid vor die Augen gehalten hat. Der Opa schaute ihn auch nicht an. Er ist überzeugt, daß er es gespürt hätte, wenn der Opa ihn angeschaut hätte. Er hätte gerne einen Blick von ihm erhascht. Eigentlich hatte er einen Blick von ihm erwartet, einen Seitenblick. Sie saßen stundenlang nebeneinander, nur durch einen freien Sitz voneinander getrennt. Vielleicht hätte er seine Hand nehmen sollen, er hätte über den freien Sitz hinübergreifen können, vielleicht hätte der Opa den Druck seiner Hand erwidert. Vielleicht wäre das auch nicht gestattet gewesen. Manchmal saß ja auch ein Polizeibeamter zwischen ihnen. Vielleicht hätten sie sich wortlos verständigen können, sie hatten ja immer wortlos ein Einvernehmen erzielt. Der Opa hat seine Gedanken lesen können, wenn er ihn angeschaut hat, wußte er genau, was es geschlagen hat. Das heißt, er konnte nichts vor dem Opa verbergen. Jedenfalls hat er das so in Erinnerung. Er hatte sein großes Talent gefördert, war streng gewesen, manchmal sogar grausam, aber er hat ihn schließlich zu dem gemacht, der er ist. Natürlich ist die musikalische Erziehung noch nicht ganz zu Ende gekommen. Trotzdem, er war im ganzen Bezirk bekannt, in jedem Pfarrsaal in der Umgebung hat er gespielt, Schubert, Mozart, Beethoven, Haydn. Und in der Kirche zum Sonntagsgottesdienst die Orgel. Präludien zur Kommunion und Großer Gott, wir loben dich am Schluß. Immer der Opa bei ihm, neben ihm, hinter ihm. Und im Kirchenraum die Menschen, das ganze Dorf.

    Manchmal hatte er Angst vor dem Opa, denn wenn er danebengegriffen hat beim Üben am Klavier, schlug der Opa ihn manchmal mit dem Stock auf die Finger. Das hat ihm scheußlich wehgetan, aber er hat den Schmerz verbissen und weitergespielt. Am Schluß wurde er dann häufig gelobt. Der Opa klopfte ihm auf die Schulter wie einem Kollegen und sagte: gut. Eigentlich gutt. Ganz knapp gutt. Das war wie ein Schuß. Dann war alles wieder gut.

    Trotzdem gab es manchmal Probleme. Die meisten Probleme gab es eigentlich schon früher, wahrscheinlich schon immer, da hat er sie noch nicht so mitgekriegt, und sie gingen ihn eigentlich auch nichts an. Seinen Opa hatten die Frauen gern. Nicht, daß er das gemerkt hätte, doch manche Leute, die er kannte, sagten zu ihm, dabei strichen sie ihm über das Haar: Gelt, deinen Opa haben die Frauen gern. Er wußte nicht, was es darauf zu sagen geben könnte, deshalb hat er einfach mit den Schultern gezuckt. Und er wollte auch nicht, daß man ihm über den Kopf strich bei diesen Worten. Er war ja damals noch ein Kind und hat das nicht verstanden, 10–12 Jahre vielleicht oder jünger. Seine Oma hat sich immer furchtbar aufgeregt, wenn sie es mitgekriegt hat, dann gab es Streit, und er verkroch sich. Er mag keinen Streit. Er mag auch nicht, wenn die Oma den Opa beschimpft, und der Opa dann zurückschreit; einmal hat er sie gestoßen, da ist sie gegen den Wohnzimmerkasten gestürzt und hat sich die Stirn blutig geschlagen. Da ist er davongelaufen, er kann kein Blut sehen. Am nächsten Tag kam die Oma dann mit einem Verband um den Kopf, und seiner Tante hat sie erzählt, daß sie gestürzt sei, einfach von selbst, irgendwie gestürzt. Die Tante tat ganz erschrocken. Da mußt du aber aufpassen, da könntest du dir ja etwas gebrochen haben. Die meisten älteren Frauen, die stürzen, brechen sich den Oberhalsschenkelknochen und kommen dann nicht mehr auf die Beine.

    Er hat ja gesehen, wie der Opa sie fest gegen den Schrank geworfen hat, daß die Gläser geklirrt haben und der ganze Eichenkasten gewackelt hat. Der Opa ist ja ziemlich kräftig. Er sieht selbst aus wie ein Schrank. Aber auch wie ein Künstler, mit seinen langen, grauweißen Haaren, die sich im Nacken auf dem Kragen leicht kräuseln. Er glaubt, daß der Opa stolz auf seine Haare ist, er hat sie auch täglich gewaschen. Jedenfalls sagte die Oma manchmal, um ihn lächerlich zu machen, auch vor anderen Leuten: der wäscht sich ja jeden Tag seine Haare wie ein Weib. Das sagte sie auch, wenn er selbst dabei war, und dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und verzog seinen Mund verächtlich. Und mit dem Lächerlichmachen war es wieder nichts, denn die Leute bewunderten seinen Opa und wollten ihn nicht lächerlich gemacht haben. Manche sagten dann auch, besonders die Frauen, deswegen hat er so schöne, glänzende Haare, und manchmal fragten sie auch nach dem Shampoo, das er benützte. Aber das verriet der Opa nicht, er tat, als würde er die Frage nicht hören. Auch er fand, die Frage gehörte sich nicht, man kann doch den Opa, den Herrn Oberschulrat, nicht fragen, welches Shampoo er benützt. Er hat eben schöne Haare, obwohl er in letzter Zeit gemerkt hat, daß sie ihm schon auszugehen beginnen.

    Der Opa kann sehr gut verächtlich und überlegen lächeln, eigentlich grinsen. Da sieht er unsympathisch aus, fast zum Fürchten. Irgendwie teuflisch. Nein, das will er nicht sagen, aber er hat einen Film gesehen, da hat ein Schauspieler so gegrinst, und den hat er sofort für einen Bösewicht gehalten, doch das war der dann gar nicht, das war in Wirklichkeit ein Guter. Da hat er gelernt, daß man sich nicht täuschen lassen darf vom Lächeln. Der Opa antwortete nichts, wenn jemand dabei war von der Nachbarschaft oder

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