Wilma
Von Evelyn Grill
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Über dieses E-Book
Für die Einheimischen in dem abgeschiedenen Dorf im Salzkammergut ist Wilma eine Ausgeburt, ein Monster und keine der Ihren: Sie ist ein geistig zurückgebliebenes, dickleibiges und verschlossenes Kind - ein Kind ohne Eltern. Ihre Hilflosigkeit weckt die Liebe der verwitweten und kinderlosen Agnes, die ihr Pflegekind gleichermaßen umarmt wie umklammert. In ständiger Angst um Wilma versucht sie das dürftige Glück ihrer Zweisamkeit gegen die Bedrohungen von außen, gegen die Dorfbewohner und den Zugriff der allgemeinen Wohlfahrt zu schützen. Doch ihr Glück gründet auf Abhängigkeit und wird Wilma und Agnes in der Enge ihrer Abgeschiedenheit letztlich zur tödlichen Falle.
Evelyn Grill zeigt in "Wilma" die Qualitäten, die sie mit ihren zuletzt erschienenen Romanen "Vanitas" und "Der Sammler" zu einer der herausforderndsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur gemacht haben: Sie erzählt in kompromisslos lapidarem Ton, ohne Sentimentalität und wohlfeile Moralität und scheut nie den Blick in menschliche Abgründe.
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Buchvorschau
Wilma - Evelyn Grill
Residenz
Wilma
Ihrem nackten Körper begegnet Wilma im wandhohen Spiegel des Schlafzimmers. Sie klatscht auf die Brüste, knetet die massigen Schenkel, streicht über die Hüften, hüpft mit ihren Fingern über den Bauch, kerbt die Fingernägel ins Fleisch, läßt los und beugt sich über die halbmondigen Zeichnungen, kratzt um den Nabel herum, der faltig nach außen gestülpt ist, und bläst schnaubend über die Härchen auf ihren Armen.
Später zieht sie sich an. Ob Sommer oder Winter, immer trägt sie mehrere Unterhosen, Baumwolleibchen, Unterröcke, Blusen und Überröcke.
Sie ist allein und setzt sich in den Lehnsessel im Wohnzimmer. Sie hört vertraute Geräusche, Schritte auf der Holztreppe. Gleich wird sich die Tür öffnen und Agnes wird hereinkommen.
Die Frau ruft Wilma beim Namen und Wilma rührt sich, reckt sich wie eine Henne mit aufgeplusterten Federn, duckt sich wieder, legt den Kopf schief, stemmt sich schließlich aus dem Sitz hoch und schiebt auf sie zu wie Geröll.
Agnes schaut auf und blickt in Wilmas schläfrige Augen. »Wilma«, sagt sie, »Wilma, ich bin da.« Sie hebt die Hände mit den geschlossenen Töpfen dem Mädchen entgegen. »Ich habe etwas zum Essen mitgebracht.« Wilmas Kopf beginnt auf dem kurzen Hals zu zittern.
Wilma macht nach dem Essen ihren Spaziergang. Als sie auf die Gasse tritt, schlägt ihr die Julihitze entgegen. Unter den zahlreichen Stoffschichten erwärmt sich ihr Körper. Wilmas Weg führt an der Bäckerei vorbei. In der Auslage locken mehlbestäubte Brotlaibe, honigfarbenes Kleingebäck und mit Zucker glasierte Kipfeln. Sie preßt ihre Stirn an die Fensterscheibe. Wotan, der schwarze Schäferrüde des Bäckers, schießt auf sie zu und stößt ihr seine Schnauze unter die Röcke. Wilmas Aufheulen schrillt den Besitzer herbei, der den Hund zurückpfeift. Sie kreuzt die Arme über der Brust und haspelt rasch an dem Mann und dem Hund, der sich nun winselnd an die Waden seines Herrn drückt, vorbei. Lötsch summt leise und nachdenklich hinter dem Mädchen her. Außer Atem erreicht sie den Marktplatz. Nun glüht sie vor Hitze, und die Nähte der Kleidungsstücke brennen wie spitze Flämmchen auf ihrer Haut. Ihre dicken Beine spreizen sich. Über den Dorfplatz wälzt sie ihren Körper wie ein Faß.
Unter den steil ansteigenden Stufen steht eine Bank in einem kühlen Winkel. Dort rastet sie eine kleine Weile. Als sie sich wieder erhebt, lastet ihr Schatten auf den Steintreppen. Rasch zieht sie sich am eisernen Geländer hoch und ruckt ihrem Schatten nach. Auf dem Plateau, von dem die Stufen nach oben in einer spitzen Kehre führen, holt sie ihn ein. Heiter stampft sie auf ihm herum. Sie steigt weiter hinauf. Ihr Schatten hat sich nun an ihre Fersen geheftet. Oben angelangt, dreht sie sich um und sieht, daß er sich wie eine Zunge nach unten streckt. Es freut sie, die Schwärze überholt zu haben.
Auf dem schmalen Weg schleift Wilma an den Häusern entlang. Sie hört ihre Röcke an den Mauern rascheln. Die Bank vor der mit wildem Wein überwachsenen Felswand ist Wilmas letzter Rastplatz vor dem Friedhof. Zwei Frauen aus dem Dorf erheben sich sofort, als sie gewahr werden, daß das Mädchen auf sie zukommt. Wilma breitet sich auf der freigewordenen Bank aus. Zuvor schüttelt sie sich im Stehen in ihren Kleidern und glättet sie. Dann sitzt sie und stiert mit gesenktem Kopf auf ihre Klothschürze. Bald ziehen und zerren ihre Hände an den Röcken. Immer wieder sucht sie den blaugetupften Kittel zu fälteln, glattzustreichen, zu spreiten, dann wieder an sich zu raffen. Später zieht sie ihn bis an die Brust herauf, lächelt und betrachtet den darunterliegenden buntgeblümten eine Weile. Dann blättert sie weiter. Ein lilafarbener kommt zum Vorschein, noch später ein spitzenbesetzter weißer. Sie kramt und knüllt in den Röcken, hört es knistern und rascheln und lacht in lauten Stößen. Als sie das Klacken von Schritten hört, kauert sie sich wieder zusammen, äugt den Bühel hinunter und wartet.
Justus hackt mit seinem Stock den Weg herauf. Keuchend schleppt er sich die Anhöhe hoch, ohne aufzuschauen. Wilma, die den Alten kennt, lacht ihm entgegen. Justus stockt, ruckt seinen Rücken gerade und stößt mit seiner Krücke in die Luft. Wilma rudert mit den Armen. Der Mann schüttelt den Kopf und humpelt dann an Wilma, die in sich hineinkichert, vorbei. Dann heftet sie die Blicke wieder auf ihre Schuhspitzen. Ihr Körper ist zusammengekrümmt. Sie schiebt die baumwollenen Strümpfe mit ihren Handflächen an den Waden auf und ab. Bald danach geht sie weiter. Sie hat die Kirche schon vor Augen. Wenige abgetretene Steinstufen führen sie direkt vor das Tor. Sie aber tritt auf den knirschenden Kies zwischen den Grabreihen. Den Friedhof umgibt ein steinerner Wall, der teilweise von Efeu überwuchert ist. Dahinter fällt der Fels steil ab. Wilma drückt sich an das Gemäuer, stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut eine Weile hinunter, wo sich in der Tiefe die schmale Straße zwischen Felsgestein und Seeufer in den Ort zwängt.
Auf den Gräbern blühen Rhododendren und Hortensien. Rosenstauden ranken sich an Holzkruzifixen empor. Plötzlich reißt Wilma eine der samtroten Blüten vom Strauch. Die Blätter fühlen sich feucht und kühl an, sie zerreibt sie zwischen ihren Handflächen und stopft sie sich in den Mund. Sie wälzt den Brei vom Gaumen in die Backen, speit schließlich das Bittere auf den Weg.
Wilma bemerkt zwei Grabhügel weiter den gekrümmten Rücken einer Frau, die Unkraut jätet. Obwohl der Friedhof beschattet ist, scheint das Gesicht der Frau wie von Hitze blaurot angelaufen. Das Mädchen tritt näher heran, bleibt stehen und schaut. Bald richtet sich die Frau auf, wendet sich ihm zu und verscheucht es mit einer barschen Silbe und einer Handbewegung.
Wilma flüchtet. Im oberen Teil des Friedhofs, der in Terrassen angelegt ist, weiß sie ihr Grab, das Grab der Großeltern. An diesem Platz hat sie etwas zu schaffen. Im Kittel sucht sie nach dem Wachslicht und den Streichhölzern. Beides legt sie auf die Betonumrandung des Grabes. Dann öffnet sie das Türchen der Laterne, die unterhalb der geschnitzten Christusfigur aufgehängt ist. Die ausgebrannte Hülle nimmt sie an sich, schiebt sie in den Kittelsack, stellt ein neues Licht hinein und versucht, es zu entzünden. Einmal löscht ein Lufthauch das brennende Streichholz aus, ein anderes Mal stößt sie an die schaukelnd aufgehängte Lampe, als sich das Flämmchen dem Docht nähert, und dabei verbrennt sie sich die Finger. Doch schließlich gelingt es ihr, und sie klatscht in die Hände, als sie das Licht im Glaszylinder zucken sieht.
Wenige Schritte hinter dem Grab duckt sich das Totengräberhaus mit den pelargoniengeschmückten Fensterbänken an den aufragenden Felsen. Längs des Totengräberhauses verläuft eine Bank, auf der Wilma Platz nimmt.
An der Umrandung eines Grabes macht sich eine Maus zu schaffen. Wilma beobachtet sie. Als das Tier nahe an sie heranhuscht, schiebt sie ihre Schuhspitzen zum kleinen Rüssel hin, der zwischen den Steinen nach Insekten sucht. Das Tier läßt sich nicht stören. Erst als Wilma mit dem Fuß aufstampft, huscht die Maus davon und verkriecht sich in einem neben dem Grabkreuz umgekippten Plastikkübel. Bevor das Tier weiterfliehen kann, greift Wilma in den Behälter, packt es und ballt es in ihrer Faust. Mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen gibt sie sich dem pelzig warmen Gepoch, dem kralligen Kitzel ihres Fanges hin. Ein spitzer Schmerz reißt sie aus ihrer Lust. Erschrocken krampft sie die Faust. Als sie die Hand langsam wieder öffnet, gleicht das Tier einem zerknüllten Lappen. Aus der Schnauze sickert es rot und fadendünn.
Wilma hört Schritte, ein Hund hechelt heran, ein Schatten fällt auf sie. Lötsch beugt sich über Wilma. Sie hält sich mit einer Hand die Augen zu. Er greift nach dem toten Tier, das auf Wilmas Schoß geglitten ist, schnappt es zwischen Zeigefinger und Daumen am Schwanz und läßt es am gestreckten Arm baumeln, während Wotan zu Füßen seines Herrn lauert. Lötsch lacht, bevor er den Kadaver mit einer peitschenden Handbewegung wegschleudert. Der Hund setzt dem Wurf nach. Wilma wimmert, Lötsch fährt ihr mit seiner Hand ins Gesicht und preßt ihr seine Handfläche auf den Mund, bis sie still ist. Dann pfeift er seinen Hund heran und geht. Seine Schritte mahlen über den Kies.
Wilmas Gesicht brennt von den fremden Fingern. Sie reibt ihre Handflächen an den