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Der Gärtner war der Mörder
Der Gärtner war der Mörder
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eBook361 Seiten5 Stunden

Der Gärtner war der Mörder

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Über dieses E-Book

Valentin Sedlmeyer, Heavy-Metal-Fan und Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei, sieht sich einem äußerst schwierigen Fall gegenüber: eine 15-jährige Schülerin wurde entführt, offenbar vom selben Täter, der kurz zuvor ein anderes Mädchen in seine Gewalt gebracht und getötet hat. Schnell wird klar, dass sehr wenig Zeit bleibt, das Leben der Entführten zu retten. Sedlmeyer macht sich auf die Suche, begegnet skurrilen Münchner Originalen und seltsamen Persönlichkeiten, die Grenzen zwischen Verdächtigen und Zeugen verschwimmen. Immer tiefer stößt er in die psychischen Abgründe des Täters vor und findet dabei am Ende Schreckliches heraus...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Juni 2013
ISBN9783847640257
Der Gärtner war der Mörder
Autor

Wolfgang Schneider

Prof. Dr. Wolfgang Schneider, Diplom-Psychologe, war von 1991 bis 2016 Ordinarius für Pädagogische Psychologie an der Universität Würzburg. Seit 2016 ist er Seniorprofessor und Direktor der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Universität.

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    Buchvorschau

    Der Gärtner war der Mörder - Wolfgang Schneider

    Im Wald

    Freitag, 6. Juni 2008, 23:30

    Der Mann hebt den Kopf und schaut nach oben, durch eine Lücke im Dach der Blätter, in den Münchner Nachthimmel. Ein zunehmender Mond scheint, halbverdeckt durch einen Wolkenfetzen, auf die umstehenden Laubbäume und verleiht ihnen einen fahlen, schwarzen Anstrich, das ganze hat etwas blutleeres an sich. Irgendwo meldet sich ein Uhu zu Wort oder ein Käuzchen, der Mann könnte es nicht sagen, er kennt sich mit Pflanzen besser aus als mit Tieren. Der Uhu schuhut noch ein weiteres Mal, dann hat er besseres zu tun und verstummt. Der Mann nimmt einen tiefen Atemzug und saugt die kühle Nachtluft ein; es ist still, er spürt die Ruhe, die nur die Natur ihm geben kann; wo etwas wächst, wo Bäume sind um ihn herum, da ist alles schlechte weit weg und nicht wichtig. Er wirft die Fahrertüre zu, es ist ein weißer Kleintransporter, ein japanisches Modell, nicht mehr das neueste und an den Seiten ziemlich angerostet. Dann zieht er einen Schlüssel aus der Tasche; seine Schritte knirschen schwer auf dem Kiesweg, während er zur Hinterseite des Wagens geht. Der Schlüssel darf nicht zu tief hineingesteckt werden, sonst blockiert das Schloss aber der Mann weiß das und schließt mit einem leichten Quietschen die Heckklappe auf. Er öffnet sie und beugt sich mit dem Oberkörper weit ins Innere des Wagens. Es dauert ein wenig, bis er das Mädchen herausgezerrt hat, weil sie mit aller Kraft mit den Beinen strampelt und sich zu wehren versucht, doch der Mann ist groß und kräftig und das Mädchen ist jung und viel kleiner als er. Sie würde schreien, um ihr Leben schreien in dieser schlimmsten und größten Angst, die ein Mensch haben kann, aber sie kann nicht schreien. Das erste, was der Mann vor einer halben Stunde gemacht hat, als er sie entführt hat, war, ihr ein breites Paketklebeband auf den Mund zu kleben. Nach einer Weile gelingt es ihm, das Mädchen aus dem Heck des Wagens zu zerren. Dabei stolpert er und beide fallen hin; das Mädchen strampelt wie wild mit den Füßen und kann nicht aufstehen, weil ihre Hände auf dem Rücken mit dem selben Paketklebeband zusammen gebunden sind, das sie am Schreien hindert. Das einzige Geräusch, neben dem Uhu, der sich nun doch noch einmal zu Wort meldet, ist das hektische Scharren ihrer Füße im Kies und ihr ersticktes, gepresstes Wimmern. Mit einem Ruck ist der Mann wieder auf den Beinen, packt sie am Oberarm und reißt sie zu sich hoch. Sie hört augenblicklich auf zu strampeln und zu wimmern und sieht zu ihm auf. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ein Stück Mond spiegelt sich darin. Kein Geräusch ist zu hören, keines außer ihrem schnellen, panischen Schnaufen. Der Mann dreht seinen Kopf und wirft einen Blick zur Seite, dann geht er mit zügigen Schritten los und schleift das Mädchen, noch immer am Arm gepackt, neben sich her. Sie fängt wieder an zu zerren und sich zu wehren, ihre Füße suchen nach Halt auf dem Kiesweg, der im Mondlicht ein bisschen aussieht, als wäre er früher einmal ein blassgrauer Bach gewesen und vor langer Zeit zu Stein erstarrt. Etwa fünfzehn Minuten stapft, schleift, strampelt das Paar dahin, verlässt den Weg, überquert ein dünn bewachsenes Waldstück und gelangt zu einer kleinen Lichtung. Es bahnt sich seinen Weg durch hohes, wild gewachsenes Gras, das sein Dasein den städtischen Renaturierungs-Maßnahmen verdankt und gelangt schließlich zu einer kleinen, am Rand der Lichtung versteckten Holzhütte. Der Mann stößt das Mädchen mit einem kräftigen Schubser von sich weg, so dass sie auf die Knie fällt und dann zur Seite umkippt. Sie fängt wieder an zu strampeln und zu wimmern, ein hohes, gepresstes „Mmmmmm", doch das interessiert ihn nicht. Er sucht etwas in seiner Jackentasche, dann zieht er einen rostigen Schlüssel hervor, steckt ihn ins Schloss und sperrt die Türe auf. Das Mädchen hat es in den paar Sekunden, die der Mann mit seinem Schlüssel beschäftigt ist, tatsächlich geschafft, halbwegs auf die Beine zu kommen und stolpert in panischer Flucht davon, doch sie ist langsam, weil sie ihre Arme nicht bewegen kann und auf dem weichen Waldboden leicht das Gleichgewicht verliert. Mit wenigen Schritten ist der Mann bei ihr und wirft sie mit einem brutalen Stoß in den Rücken zu Boden. Dann hebt er sie hoch, während sie in wilder Panik ihren Oberkörper verdreht und mit den Beinen um sich schlägt. Sie hat keine Chance, der Mann ist zu kräftig und wirft sie sich über die Schulter wie einen zusammen gerollten Teppich. Langsam nähern sie sich der Hütte, während ein größerer Wolkenfetzen sich vor den Mond schiebt und ihn fast vollständig verdeckt. Dort angekommen, stößt er die Tür auf, tritt ein und wirft das Mädchen auf den Lehmboden im Inneren; sie schlägt hart auf und kann für ein paar Sekunden nicht atmen. Dann schließt er die Tür und sperrt von innen ab. Es ist vollkommen dunkel, sie kann nicht sehen, wie er über ihr steht und er kann nicht sehen, wie sie vor ihm auf dem Boden liegt. Sie können beide nur hören und das einzige Geräusch im Raum ist ihr panischer, flacher Atem. Langsam und vorsichtig geht er ein paar Schritte zur Seite und betastet die Wand; dann findet er einen Schalter und macht das Licht an. Ein kurzes, ganz leises Surren ertönt, ein schnelles Flackern an der Decke. Dann erstrahlt eine nackte Glühbirne und wirft ein dünnes, bräunliches Licht auf den Mann und das Mädchen. Er blickt sich rasch um, dann geht er mit schnellen Schritten zum anderen Ende des Raumes und öffnet eine weitere Tür, die in einen anderen Raum führt. Er fasst mit der Hand um die Kante des Türstocks, tastet und sucht ein wenig, dann hat er einen weiteren Schalter gefunden und knipst das Licht an. Das Mädchen hört ein paar mal das selbe hohe, metallisch flirrende Geräusch und sieht aus dem Augenwinkel ein weißbläuliches Flackern: Neonröhren. Sie dreht den Kopf zur Seite, kann aber durch die halb geöffnete Tür nicht erkennen, was sich im zweiten Raum befindet. Der Mann dreht sich um und kommt langsam zu ihr zurück. Er legt den Kopf ein wenig zur Seite und sieht sie einen Moment lang von oben herab an. Dann sagt er:

    „Das Grünzeug muss jetzt geschält werden."

    Sie hebt den Kopf soweit es geht und starrt ihn an. Dann strampelt sie mit den Beinen, und versucht, sich von ihm weg zu schieben. Er bückt sich, packt sie am Oberarm und zieht sie ohne Anstrengung hoch. Er beugt sich zu ihr herunter, bis sein Gesicht ganz nahe an ihrem ist und starrt in ihre aufgerissenen Augen; seine Halsschlagader tritt hervor und pulsiert heftig und langsam. Dem Mädchen fällt das nicht auf, sie sieht paralysiert in sein Gesicht. Er flüstert:

    „Das Scheiß-Grünzeug wird jetzt geschält, SOFORT!"

    Dabei lässt er sie los und sie fällt wieder auf den Boden. Blitzschnell sinkt er neben ihr auf die Knie und dreht sie auf den Bauch. Dann reißt er an dem Klebeband, mit dem ihre Hände gefesselt sind. Es gelingt ihm erst nicht, es zu entfernen, er wird immer wütender und zerrt daran wie ein Wahnsinniger, während er brüllt:

    „Das – Scheiß – Grünzeug! Ich – muss – es – schälen!". Dann senkt er den Kopf und versucht, das Klebeband zu zerbeißen. Als es ihm nach einer Weile gelingt, sieht er den tiefroten Streifen, den das Band auf ihren weißen, blutleeren Handgelenken hinterlassen hat. Er dreht sie wieder auf den Rücken; sie atmet sehr schnell und flach, Tränen laufen ihr über's Gesicht, während sie ihn panisch ansieht. Sie fängt ziemlich stark an zu zittern. Dann beginnt sich sein Gesichtsausdruck plötzlich zu entspannen, weich und fast zärtlich lächelt er sie an und streicht ihr über's Haar.

    „Ein tolles Grünzeug ist es, so schön lebendig. Das werden wir jetzt schääälen..."

    Er beginnt vorsichtig, fast schüchtern, den Reißverschluss ihres Anoraks aufzumachen. Als dieser klemmt, verschließt sich sein Gesicht und wird wieder sehr hart. Er beginnt schwer zu atmen, zerrt und reißt an ihrer Jacke. Dann steht er auf, packt das Mädchen am Oberarm, zieht sie auf die Beine und versucht hektisch, den Reißverschluss aufzubekommen. Sie wehrt sich, fasst ihm mit den Händen ins Gesicht, versucht ihn weg zu schubsen. Er packt eine ihrer Hände am Handgelenk und biegt sie nach unten. Dann schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.

    „Das scheiß Grünzeug soll's Maul halten, das scheiß Grünzeug soll verdammt noch mal das Maul halten!" schreit er. Dann schlägt er ihr nochmal ins Gesicht und reißt wie wahnsinnig am Reißverschluss, bis er ihn schließlich mit einem Ruck offen hat. Das Mädchen ist gelähmt, sie wehrt sich kaum, als er ihr den Anorak auszieht. Dann lässt er sie los. Ihre Knie zittern so stark, dass sie sich nicht auf den Beinen halten kann zu Boden sinkt. Sie sieht ihn von unten herauf an, schlotternd vor Angst und macht sich in die Hose. Er kniet sich vor sie hin und sieht sie stumm und hasserfüllt an. Dann reißt er ihre Bluse auf, die Knöpfe springen weg wie Popcorn. Er zerrt daran, bis er ihr die Bluse ausgezogen hat, dann wirft er sie auf den Bauch und versucht, ihren BH aufzubekommen. Zunächst gelingt es ihm nicht und er brüllt vor Wut. Er zieht und zerrt, ihr Brustkorb wird zusammen geschnürt dass ihr die Luft wegbleibt. Schließlich gibt der Plastikverschluss des BHs nach und platzt auf. Wütend dreht er sie auf den Rücken. Seine Bewegungen werden immer hektischer, schneller, als er sich an ihren Schuhen zu schaffen macht. Wie im Wahn reißt er an den Schnürsenkeln, bekommt sie auf, zieht ihr die Schuhe aus. Dann knöpft er ihr die Hose auf, versucht sie ihr mit einem Ruck herunter zu ziehen. Sie strampelt verzweifelt mit den Beinen, doch er ist stark, sehr stark, und seine Wut ist grenzenlos. Er zerrt an den Hosenbeinen, schließlich gelingt es ihm, ihr Hose und Slip zusammen auszuziehen. Er wirft beides in eine Ecke, dann sieht er sie an. Der offene BH baumelt noch an ihren Schultern, mit einem beiläufigen Ruck zieht er ihn ihr aus, wie jemand, der nach dem Putzen noch ein letztes Stäubchen wegwischt. Er atmet eine Weile schwer, dann entspannt er sich wieder. Es ist noch einmal der sanfte, fast kindliche Ausdruck, der sich über sein Gesicht legt. Er lächelt und sagt:

    „Jeeetzt bin ich glücklich."

    Er erhebt sich und steht, leicht gebeugt, mit plump herunter hängenden Armen da und sieht auf das Mädchen herab, das nun bis auf die Socken nackt vor ihm liegt. Dann beugt er sich zu ihr herunter und packt sie vorsichtig am Oberarm. Er zieht sie zu sich hoch und führt sie langsam zu der halb geöffneten Türe, die in den Nebenraum mit den Neonröhren führt. Sie zittert so stark, dass sie kaum gehen kann, ihr Kopf hängt und ihr Gesicht schwimmt in Tränen. Als er mit dem Mädchen den zweiten Raum betritt, sagt er, mehr zu sich selbst:

    „Schön haben wir es geschält, das Grünzeug, da kommt es jetzt hinein."

    Sie hebt den Kopf, entdeckt zahllose Polaroid-Fotos an einer Wand und wirft einen Blick darauf. Dann sieht sie sich um, erkennt, dass die Bilder in eben diesem Raum aufgenommen worden sind und weiß plötzlich, was jetzt passieren wird. Ihr Gehirn ist überfordert, sie hat noch nie so etwas furchtbares gesehen. Wenn das Klebeband nicht wäre, würde sie jetzt lachen. Sie ist fünfzehn Jahre alt.

    Auf dem Viktualienmarkt I

    Samstag, 7. Juni 2008, 18:30

    „Ist bei euch noch ein Platz frei? Keine Antwort, nur ein Nicken. Die Frage hatte Valentin Seldmeyer gestellt, die wortlose Antwort kam von einem älteren Mann mit einem halb vollen Weißbierglas, das er gerade zum Trinken angehoben hatte. Sedlmeyer nickte dem Weißbiertrinker zu und setzte sich neben ihn auf die Bierbank. Es gab zwar in München haufenweise Biergärten und etliche davon waren zweifellos stilvoller oder gemütlicher als der am Viktualienmarkt, aber nun war er schon mal da und das Bier war hier so gut wie dort. Zudem hatte der Viktualienmarkt als solches bei all seiner touristischen Exponiertheit doch auch etwas typisch Münchnerisches: diese Stadt schaffte es irgendwie, die sogenannte Moderne in Form von Massentourismus und Schnelllebigkeit mit der sogenannten Tradition relativ unaufgeregt zu verbinden. „Bayern, das Land von Laptop und Lederhose hatte der Ministerpräsident einmal gesagt. Man konnte dem Ministerpräsidenten alle möglichen Schwachheiten vorhalten, aber dieser Spruch enthielt vermutlich tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Und der Viktualienmarkt war Münchner Tradition allererster Güte. 1807 auf Weisung König Max des ersten Josef als Erweiterung des Stadtmarktes aufgebaut, hatte er sich vom damaligen Kräuter- und Getreide-Markt zu einem hochklassigen Feinkost-Paradies gewandelt, wo Spezialitäten aus allen Ecken der Welt in trauter Einigkeit mit Bayerischen Grundnahrungsmitteln wie Leberkäs und Radieschen feil geboten wurden. Über den Markt verteilt fanden sich Brunnen mit Bronzeskulpturen Münchner Kultur-Originale wie Karl Valentin oder dem Weiß Ferdl, gleich neben Marktständen, auf denen Ingwer-Wurzeln und Indische Gewürze angeboten wurden. Und mittendrin: der Biergarten, der neben Sedlmeyer Touristen aus aller Welt beherbergte. Wer ein Problem mit Touristen hatte, war in einem Münchner Biergarten übrigens schlecht aufgehoben: man konnte davon ausgehen, dass die auch den hinterletzten davon finden und überfallen würden, selbst wenn er auf dem Mond läge.

    Valentin Sedlmeyer war Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei und selbst ein wenig Tradition und Moderne in einem. Er war gebürtiger Münchner, der Bayerischen Sprache in all ihren Facetten mächtig, und in seinem Küchenschrank befand sich ein steinerner Bierkrug mit Zinndeckel und König Ludwig Emblem – zugegebener Maßen allerdings ein Geschenk zum zehnjährigen Dienstjubiläum. Andererseits sprach er im täglichen Umgang glasklares Hochdeutsch, ging überhaupt nicht gerne auf's Oktoberfest und hörte ausschließlich Heavy Metal. Dieser musikalischen Leidenschaft hatte er es indirekt zu verdanken, dass er jetzt hier saß: er hatte den Nachmittag zum shoppen genutzt und war wie so oft bei der Gelegenheit in einem kleinen Plattenladen in der Fraunhoferstraße hängen geblieben, den er seit Jahren regelmäßig besuchte, weil er eine ordentlich sortierte Rock-Abteilung zu bieten hatte. Er liebte diesen Laden: die prall gefüllten Regale ließen kaum Platz zum Treten und es gab immer etwas unbekanntes oder seltenes zu entdecken. Der Besitzer, der es mit den Öffnungszeiten nicht so genau nahm, war ein Musik-Fetischist erster Güte und immer für ein Fachgespräch zu haben. Er hatte Sedlmeyer zuvor in eine Diskussion über die Brasilianische Heavy-Metal Szene im allgemeinen und Sepultura im besonderen verwickelt und es hatte geschlagene dreieinhalb Stunden gedauert, bis er den Laden wieder verlassen hatte, zusammen mit einer Rarität von Pantera mit dem Titel „Metal Gods '89". Und anschließend war er auf dem Nachhauseweg am Viktualienmarkt vorbei gekommen; weil er schonmal in der Gegend und das Wetter so schön war hatte er den spontanen Beschluss gefasst, dem Biergarten dort einen Besuch abzustatten.

    Sedlmeyer tätschelte geistesabwesend seine Jackentasche, in der sich die neu erworbene CD befand, sah sich nach der Bedienung um und winkte zu ihr hinüber, als er sie schließlich entdeckt hatte.

    „A Mass, bittschön", bestellte er. Dann sah er sich ein bisschen um und fasste die Belegschaft an seinem Biertisch ins Auge. Der ältere Mann war offenbar mit seiner Frau da, die beiden wirkten mürrisch und so, als ob sie den Gesprächsstoff für dreissig Ehejahre bereits in den ersten fünf erschöpfend behandelt hätten. Grantiges älteres Ehepaar, vermutlich zwei Bayern kategorisierte der Kriminologe in ihm gedanklich. Ihm gegenüber saßen drei junge Männer, die sich angeregt über Fußball unterhielten, Rheinisch sprachgefärbt und wortgewaltig, jeder mit einer ziemlich leeren Mass vor der Nase. Die Bedienung kam und stellte ihm sein Bier hin.

    „Bittschön, macht sechs sechzig".

    „Mach' ma sieben", sagte er und zahlte. Die Rheinischen Fußballfans gegenüber wurden derweil auf zwei Dinge zugleich aufmerksam, die sie zwangen, ihr Gespräch zu unterbrechen: erstens, ihre fast leeren Masskrüge und zweitens, die Anwesenheit der Bedienung.

    „Wir nehmen auch noch drei Maas, sagte der eine. Das brachte ihm zwei böse Blicke ein: den einen von der Bedienung, die es besser gefunden hätte, wenn ihm das schon vorher bei Sedlmeyer's Bestellung eingefallen wäre. Den anderen vom grantigen Bayern, der bei einem langgezogenen aaa im Wort „Mass wahrscheinlich Mordphantasien bekam. Sedlmeyer hob seinen Bierkrug und prostete in die Runde.

    „Prost Kollege" sagte der Bier-Besteller unter den Rheinländern lachend. Sedlmeyer lächelte zurück und nahm einen tiefen Schluck. Dann zog er seine schwarze Lederjacke aus und legte sie neben sich über die Bierbank, nicht ohne zunächst seine Hand darauf liegen zu lassen – die neu erworbene CD zusammen mit seiner Jacke im Biergarten zu verlieren, wäre in seinen Augen eine schwerwiegende Katastrophe gewesen.

    „Was meinste, Kollege, gewinnen wir morgen gegen die Polskis?" wurde er gefragt. Sedlmeyer war sich bewusst, dass heute die Fußball-Europameisterschaft begonnen hatte, allerdings hatte er es bisher versäumt, sich um Details wie Spielpläne zu kümmern oder passende Fan-Emotionen zu entwickeln. Offenbar spielte morgen Deutschland gegen Polen. In seiner ganzen Fußball-Unkundigkeit antwortete er:

    „Auf alle Fälle! Was meint ihr?" Ein anderer Rheinländer antwortete ihm:

    „Dat is so sischa wie nochmal wat, dat wir det jewinne!". Sedlmeyer hörte interessiert zu, als der erste Rheinländer sich einschaltete und die Fußballdiskussion wieder in kompetente Bahnen zu lenken begann:

    „So sicher ist das überhaupt nicht, die Polen haben einen top Torwart, der hat eine super Saison bei Celtic Glasgow gespielt. Und wen haben wir? Den Lehmann, den alten Knacker!"

    „Ne Torwart is doch überhaup' nüt wischtisch! De Sturm entscheidet än Spiel, nit de Torwart! Un wen hant de Pole im Sturm? Lauter halve Hähnsche!" ereiferte sich Rheinländer Nummer zwei.

    „Und? Wen haben wir schon im Sturm? antwortete der erste, „Wenn die den Klose spielen lassen, können wir gleich einpacken, der trifft doch das leere Tor nicht, wenn er zwei Meter davor steht!. Sedlmeyer erwog kurz, sein winziges bisschen Fußball-Wissen in die Diskussion einzubringen und Miroslav Klose's polnische Wurzeln anzusprechen, doch der dritte Rheinländer kam ihm zuvor:

    „Wisste, wat de Klose is? Det is doch sälber ne Pole! Und de Podolski sowieso! Un wennde mi froost: de schieße morje absischtlisch dänebbe! Det wird rischtisch joot!"

    „Und Du? wurde Sedlmeyer vom ersten Rheinländer gefragt, „Biste auch Fußball-Fan? Bayern München, oder? Jetzt war er in die Bredouille geraten. Weder hatte er einen blassen Schimmer, wie die Dinge in der Bundesliga bestellt waren, noch kannte er sich mit Champion's League, DFB-Pokal oder sonstigem Fußballerischen Grundwissen sonderlich gut aus. Er schaute ab und an ganz gerne mal Spiele im Fernsehen an, allerdings nur die großen Ereignisse, wie beispielsweise die Weltmeisterschaft und das auch nur dann, wenn er von Kollegen dazu animiert wurde. Aber das in diesem Moment schlimmste war, dass er einerseits keine echte Begeisterung verfügbar hatte, für welchen Verein auch immer, und andererseits das Gefühl, als Münchner unter lauter Rheinländern die Bayerische Fahne hochhalten zu müssen.

    „Bayern München, selbstverständlich!, log er, „hoffentlich gewinnen sie dieses Jahr mal wieder die Meisterschaft!

    „Du bis' joot, Kolleje, de jäwinne doch eh permanent! Ihr Bayern könntet de andere jo auch mal wat jönne!" Der erste Rheinländer lachte, hob seine Mass und prostete in die Runde. Dann sagte er:

    „Auf die Bayern! Köln ist in der zweiten Liga versumpft und heute sind wir alle Bayern!" Dies gefiel offenbar dem grantigen Alten neben Sedlmeyer, der zwar nach wie vor kein Wort sagte, aber mit einem fast unmerklichen Nicken und einem angedeuteten Lächeln mit anstieß. Sedlmeyer nutzte den Moment für einen Versuch, das Gespräch in seichteres Fahrwasser zu lenken.

    „Und auf unser Münchner Bier! Das ist nämlich noch viel besser als der FCB!" Gemeinsam tranken sie, dann sagte der dritte Rheinländer, schon nicht mehr wirklich nüchtern:

    „Pass bloß opp, Kolleje, sons' bleibe mir alle drei für immer do! Und wohne ab sofocht bei dir dahejm inne Bude!"

    „Jenau, un' du stells' uns jäde Abend zehn Maas hin!", ergänzte der zweite. Alle drei lachten schallend, Sedlmeyer lachte mit. Dann nahm er noch einen Schluck Bier und sagte:

    „Nein, das geht so nicht, ihr müsst erst mal die Grundlagen lernen, wenn ihr bei mir einziehen wollt. Lektion Nummer eins: die Weißwurst!"

    „Die Lektion haben wir schon längst gelernt, Kollege, antwortete der erste Rheinländer, „das haben wir gestern schon erledigt. Da waren wir im Andechser am Dom, das kennste bestimmt. Zweifellos kannte Sedlmeyer dieses Wirtshaus; gleich neben der Frauenkirche gelegen, dem Münchnerischsten aller Gebäude überhaupt, teilte es sich die Innenstadtlage mit mehreren Traditionsgaststätten, in die man ging, wenn man mal echte bayerische Lebensart kennen lernen wollte. Da die Einheimischen diese aber schon kannten, im Gegensatz zum Rest der Welt, hatte man sich seinem Publikum dort angepasst und die Speisekarte mehrsprachig verfasst; es war allerdings fragwürdig, ob sich „Drei Weißwürscht mit Händlmaier-Senf und einer Brezn" wirklich rundum bedeutungserhaltend ins Englische übersetzen ließ.

    „Det mit de Haut von de Weißworst is ava ne janz schön umständlischet Jeschäft, meinte der dritte Rheinländer, „bisse de Worst osjezoge has', is de äjskalt! Die drei lachten herzhaft, als sich plötzlich und unvermutet der Alte neben Sedlmeyer einschaltete:

    „Muasdas hoit zuzln, dei Weißwurscht!". Das schlug ein wie eine Bombe. Alle drei Rheinländer verstummten und sahen den Alten verdattert an. Der hob mit einem Zwinkern sein Weißbierglas und prostete ihnen zu. Die drei sahen sich ratlos an, und Sedlmeyer grinste in sich hinein. Er überlegte kurz, ob er den Zusammenprall der Kulturen so stehen lassen sollte, dann hob er zu einer Erklärung an:

    „Das bedeutet gewissermaßen, den Inhalt aus der Wurst heraus zu saugen, ohne die Haut zu entfernen. Zuzeln eben". Die Rheinländer sahen ihn fassungslos und leicht angewidert an.

    So ging das ganze noch eine Weile weiter. Die Rheinländer erholten sich schnell von ihrem Kulturschock, was auch dem Umstand zu verdanken war, dass sie ihre aktuelle Mass mittlerweile zügig leer getrunken und drei neue bekommen hatten. Sedlmeyer, dessen Beruf zu großen Teilen darin bestand, seinen Mitmenschen durch geschicktes fragen Informationen zu entlocken, hatte schnell herausgefunden, dass die drei aus Köln kamen und ein paar Tage in München Urlaub machten, bevor sie nächsten Donnerstag nach Klagenfurt weiter fahren würden, wo sie Karten für das EM Spiel Deutschland – Kroatien hatten. Zu Sedlmeyer's leichtem Unbehagen wanderte das Gespräch darauf hin schnell wieder zum Fußball zurück, aber er konnte immerhin mit der Tatsache punkten, dass er früher „selber mal Fußball gespielt hatte. Das ganze war allerdings dreissig Jahre her, er war damals acht oder neun gewesen und auch bald wieder aus dem Verein ausgeschieden, nachdem er auf's Gymnasium übergetreten war. Immerhin konnte er seine Idole von damals auffahren, Michael Rummenigge oder Roland Wohlfarth, die den deutlich jüngeren Rheinländern allerdings nur schemenhaft bekannt waren. Die waren jedoch begeistert, einen „Vereinskollejen am Tisch zu haben und erläuterten ihm, selbst in einer Kölner Freizeit-Mannschaft Fußball zu spielen. Ihm wurde auch die Philosophie dieses Vereins nahe gebracht, die in erster Linie darin bestand, Spaß zu haben und gegebenenfalls nach den Spielen mal „det ejne oder andere Kölsch trinken zu gehen und dass der Verein aus diesem Grund auch den Namen „Dynamo Tresen trage. Der grantige Weißbiertrinker hatte all dem mit stoischer Gelassenheit zugehört und sich nach seinem Weißwurst-Tip nicht mehr zu Wort gemeldet.

    Eine Wohnung in Allach

    Samstag, 7. Juni 2008, 18:50

    Die Frau fluchte und riss hektisch eine Küchenschublade auf. Hier musste irgendwo noch eine halbvolle Schachtel Zigaretten sein. Sie hatte bereits die halbe Wohnung auf den Kopf gestellt, sogar im Badschrank hatte sie nachgesehen, obwohl die Chancen hier eher gering waren. Eigentlich hatte sie schon längst mit dem Rauchen aufgehört – streng genommen immer wieder. Den ersten erfolgreichen Versuch hatte sie damals während der Schwangerschaft gemacht, das hatte immerhin sieben Jahre ohne Rückfall funktioniert, wenn man mal von den einzelnen seltenen Ausrutschern absah – hier im Fasching mal eine, dort mal eine zum Weißwein wenn die Gesellschaft besonders nett war. Was ihr anfangs die größten Probleme bereitet hatte, waren die Ritualzigaretten: morgens eine zum Kaffee, eine mit den Kolleginnen in der Pause oder die Genuss-Zigarette nach einem besonders gelungenen Essen. Die berühmte „Zigarette danach", stilecht schnaufend und zerzaust im Bett, hatte ihr dagegen nie wirklich gefehlt. Dass sie nach sieben Jahren wieder rückfällig geworden war, hatte mit der Trennung zu tun gehabt. Die war zwar alles in allem ganz zivilisiert abgelaufen, keine Schlammschlacht, kein Krieg um das Sorgerecht für Jasmin, sie hatten das ganze einvernehmlich geregelt und waren stolz und erleichtert gewesen, so erwachsen gehandelt zu haben. Allerdings sah sie sich damals natürlich schlagartig einer völlig neuen Lebenssituation ausgesetzt, und zwar in finanzieller, organisatorischer und emotionaler Hinsicht. Und da hatte sie wieder zugeschlagen, die alte Sucht. Sie hatte früher mal ein Märchen gelesen, sie erinnerte sich nur noch undeutlich, die Geschichte drehte sich jedenfalls um den Teufel, der jemandem die Seele abschwatzen wollte und diesen jemand dazu raten ließ, welche Pflanzen er wohl auf seinem Feld anbaue. Und was der Teufel da anbaute, war Tabak. Und der Teufel war zu ihr gekommen, damals, nach der Trennung, als ihr der Stress zuviel geworden war und hatte ihr seine Pflanzen wieder schmackhaft gemacht. Nach ein, zwei Jahren hatte sie sich dann wieder in den Griff bekommen, war aber seither immer mal wieder rückfällig geworden. Und jetzt, heute, waren alle Dämme gebrochen.

    In der hintersten Ecke einer Küchenschublade fand sie endlich, was sie suchte, eine halbvolle Packung Lucky Strike, das Feuerzeug steckte praktischer Weise mit in der Schachtel. Sie öffnete den Deckel, holte eine schon ziemlich trockene Zigarette heraus und versuchte, sie anzuzünden. Sie zitterte so stark, dass es ihr erst beim dritten Versuch gelang; Feuerzeug und Schachtel legte sie anschließend geistesabwesend auf den Herd. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und schaute mit glasigem Blick an die Wand. Aus dem benachbarten Wohnzimmer tönte der Fernseher herüber, Bayerisches Fernsehen, die Rundschau mit den Lokalnachrichten:

    „...Noch immer gibt es keine neuen Erkenntnisse im Fall der vor drei Wochen verschwundenen Schülerin Laura S. Ein Sprecher der Münchner Kriminalpolizei teilte in einer Pressekonferenz mit, man werte derzeit alle sachdienlichen Hinweise mit höchster Priorität aus, konkrete Ergebnisse könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht vorlegen. Die vierzehnjährige Realschülerin war vor drei Wochen als vermisst gemeldet worden, seither fehlt jede Spur des Mädchens. Dies ist der erste Fall einer mutmaßlichen Kindesentführung in München seit..."

    Die Frau stand auf, zog eine Untertasse aus dem Küchenregal und drückte die kaum angerauchte Zigarette darauf aus, dann stellte sie den provisorischen Aschenbecher gedankenlos in die Spüle. Sie ging zum Küchenfenster und öffnete es, fächelte mit der Hand Frischluft hinein und die verrauchte Luft hinaus. Dann ging sie zum Herd, nahm eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie mit zitternden Händen an. Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Am anderen Ende meldete sich eine Männerstimme:

    „Hallo, was

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