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Schachtkinder
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eBook380 Seiten5 Stunden

Schachtkinder

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Über dieses E-Book

Ich weiß was, das du nicht weißt ...
Etwas, das du garantiert nicht glauben würdest. Etwas, das sich im Untergrund abspielt.
Auf der Suche nach einer großen Sensation stößt der angehende Journalist Lars auf ein Geheimnis, das seinen Glauben an die Menschheit erschüttert.
In einem Netz aus Ungerechtigkeiten und der Ignoranz der Behörden, kämpft er um das Leben etlicher Kinder, die für die Machenschaften eines riesigen Konzerns unter Tage ausgebeutet werden.
Und während der Rest der Gesellschaft die Augen davor verschließt, gehen nicht nur die Eltern der betroffenen Kinder zu Grunde.
Eine durch Mark und Bein gehende Geschichte über ein Thema, das leider auch im 21. Jahrhundert noch existiert: Die menschenverachtende Ausbeutung wehrloser Opfer.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum28. März 2022
ISBN9783754963845
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    Buchvorschau

    Schachtkinder - Marty Knopp

    26. Mai – 12:00 Uhr

    (Mittwoch)

    Ungeduldig tippelt Jennifer mit dem Fuß. Sie muss warten, bis ihr kleiner Bruder Benjamin endlich den Kampf gegen den offenen Schnürsenkel seines Turnschuhs gewonnen hat. Derweil verlassen alle anderen Kinder lärmend und hüpfend die Schule, um sich auf den Heimweg zu machen. Das will sie auch, sie hat Hunger.

    „Benny, komm, lass mich das doch machen. Du brauchst immer ewig."

    Benjamin wendet sich empört ab. „Brauch ich gar nicht! Ich kann das allein!, nölt er und verkündet schließlich stolz: „Siehst du! Hab’s geschafft!

    Jennifer muss zugeben, dass er das wirklich hat. Der Knoten ist fest und die Schleife für einen Fünfjährigen sogar ziemlich gut geworden. Nicht so ordentlich wie bei ihr, aber trotzdem schön gerade, findet sie.

    „Lass uns endlich gehen." Sie hält ihrem Bruder die Hand hin und er ergreift sie. Dann schiebt er sich rasch seinen geliebten Schnuller in den Mund, auf den er immer noch nicht verzichten will, obwohl Jenny sich oft darüber lustig macht.

    Gemeinsam verlassen sie als Letzte den Schulhof.

    „Du Baby", murmelt Jenny grinsend beim Anblick des eifrigen Nuckelns ihres kleinen Bruders.

    Empört knufft dieser sie in die Seite. Doch das stört sie nicht. Lachend hält sie ihr Gesicht in die Sonne, als sie und Benjamin den Gehweg entlang in Richtung ihres Zuhauses gehen. Es ist so schön warm, vielleicht baut ihre Mutter sogar schon den Rasensprenger auf. Es gibt kaum etwas Tolleres, als in Badekleidung durch die Tröpfchen zu springen.

    „Benny, wollen wir die Jacken ausziehen? Ich finde, heute dürfen wir."

    Gesagt, getan: Die beiden befreien sich von ihren Jacken und binden sie um die Hüften. Es sieht lustig aus, wie Bennys Jacke fast auf dem Boden schleift. Sie ist ihm noch viel zu groß. Doch ihre Mama hat gesagt: „Da wächst du rein, wart’s ab, geht ganz schnell!"

    An den kleinen, hübsch angelegten Gärten biegen die Geschwister ab, doch plötzlich legt sich eine riesige Hand auf Jennys Gesicht. Gleichzeitig wird sie um die Hüfte gepackt und hochgehoben. Sie bekommt einen fürchterlichen Schreck. Als der erste Schock sich legt, wehrt sie sich verzweifelt, kann aber nicht viel ausrichten, der Griff ist viel zu fest. Sie versteht nicht, was gerade passiert. Was will dieser Mann von ihr? Instinktiv versucht sie, in seine Hand zu beißen. Die riecht ölig und schmeckt bitter. Durch die dicke Hornhaut auf der Handfläche kommt sie nicht durch. Da entfernt die Hand sich auch schon und schießt mit einem Stück klebrigem Papier zurück auf ihren Mund. Sie will schreien, kann aber ihre Lippen nicht mehr voneinander lösen.

    Ihr Blick wandert panisch durch die nähere Umgebung, doch es ist niemand zu sehen. In ihrer Hilflosigkeit fluten die ersten Tränen ihre Augen.

    Ein großer Mann hält Benny gepackt. Ähnlich wie sie ist ihr Bruder von hinten umklammert worden, und auf seinem Mund klebt metallisch glänzendes Klebeband. Der Mann sieht gruselig aus mit seinen Stoppelhaaren und den vielen Narben auf der Kopfhaut. Jenny hat Angst, den Mann anzusehen, der sie festhält. Bestimmt sieht der genauso gruselig aus. Und sie hat Angst um Benny, er ist noch viel kleiner als sie und weint schnell, besonders ohne seinen Schnuller. Der liegt auf dem Boden und keiner der Männer macht Anstalten, ihn aufzuheben. Stattdessen schubsen sie die Geschwister vor sich her, tiefer in die Kleingartenanlage hinein.

    Die Gärten, die sich links und rechts hinter teils dichtem Gestrüpp verbergen, wirken wie verwaist. Alles Leben scheint verschwunden. Und auch Jennifers Drang, sich zu wehren, schwindet. Traurigkeit und Angst mischen sich mit ihrer Verwirrung und der Sorge um den kleinen Bruder. Unter heftigem Schluchzen mustert sie die einzelnen Pflastersteine, die den Weg bedecken. Als sie durch ein Gartentörchen eine Frau entdeckt, die sich mit einem Buch in der Hand auf einer Liege sonnt, hält sie abrupt die Luft an. Dann fängt sie energisch an zu schreien, um auf sich aufmerksam zu machen.

    „Mmmmmh!", presst sie, so gut es geht, durch die geschlossenen Lippen.

    Doch leider vergeblich. Brutal drückt der große Mann, der dicht hinter ihr ist, ihren Kopf unter seine Jacke und geht zügig weiter. Als sie wie wild nach ihm tritt, hebt er sie kurzerhand hoch und schleppt sie unterm Arm weiter. Für Jennifer ist das nicht gerade bequem; der feste Griff tut ihr ganz schön an den Rippen weh. Und je mehr sie zappelt, desto mehr Schmerzen bereitet es ihr. Jenny hofft, dass die Frau sie bemerkt hat und ihr gleich zu Hilfe kommt, aber der Mann biegt mit ihr unter dem Arm um eine Ecke und um noch eine und nichts passiert.

    Irgendwann hält der Mann an und stellt Jennifer wieder auf die Füße. Erst jetzt sieht sie sein finsteres Gesicht. Seine dicken Augenbrauen verschwinden halb unter einer schwarzen, kaputten Rollmütze und an seinen Lippen hängt Kruste von einer Wunde. Der andere Mann schubst Benny zu ihr und die Kinder klammern sich sofort Halt suchend aneinander.

    „Mach auf", befiehlt Jennys Entführer dem Narbenmann und deutet auf die Schiebetür zum Laderaum eines Kleintransporters.

    Die Tür quietscht laut. Jenny kriegt davon eine Gänsehaut. Sie weiß immer noch nicht, was hier passiert und was sie jetzt tun soll. In der Schule hat man ihr erklärt, dass sie nicht mit Fremden mitgehen und nicht in fremde Autos steigen soll. Und sie soll sich wehren und laut rufen, wenn ein Erwachsener etwas macht, das sie nicht will. Aber keiner hat ihr gesagt, was sie tun soll, wenn sie nicht rufen kann. Oder wenn ihre Gegenwehr den Erwachsenen völlig egal ist.

    Der Narbenmann fesselt Benny mit einem Seil, dann kommt er zu ihr, bindet auch ihre Arme auf dem Rücken zusammen und stößt sie und ihren Bruder in den Transporter. Schmerzhaft schlägt sie auf dem rauen Boden auf. Das Seil tut ihr an den Handgelenken weh. Sie rappelt sich hoch und schaut zu Benjamin. Ihr Bruder ist weiß wie eine Wand und schaut sie nur mit riesigen, runden, tränennassen Augen an. Der Anblick macht Jenny noch viel mehr Angst.

    Mit einem Knall rumst die Tür ins Schloss, dann herrscht Stille. Zu hören ist nur das panische Atmen von Benjamin. Als der Motor angeht, ruckelt der Boden wie verrückt und hört stundenlang nicht mehr auf.

    12:45 Uhr

    Lars fährt sich grübelnd durch die Haare. Zwischen den Töpfen und Pfannen der Großküche hindurch ist er bis zur Spülmaschine gehuscht, an der er gerade Dienst hat. Nervös stapft er von links nach rechts und wieder zurück, immer an dem blechernen Ding vorbei.

    „Der Austritt Deutschlands aus der EU … nein, das interessiert doch keinen, murmelt er. „Mission zum Mars? Zu abgelutscht. Mensch, welches Thema nehme ich nur?

    Die Spülmaschine piepst. Na endlich. Mit aller Kraft stemmt er den vorstehenden Hebel nach oben und öffnet so das Gerät. Eine dicke Wolke aus heißem Dampf pufft ihm direkt ins Gesicht.

    „Pah, pfui!" Röchelnd wedelt er mit den Armen in der Luft bis schließlich fein säuberliche Reihen aus Tellern und Tassen zum Vorschein kommen.

    Stück für Stück räumt er die Maschine aus und stellt die Sachen in die dafür vorgesehenen Schränke aus Edelstahl, die sich in großer Zahl aneinanderreihen. Anschließend wartet schon der nächste Schwung benutzten Geschirrs auf einer Anrichte darauf, von ihm gesäubert zu werden.

    „Fortpflanzung auf dem Mars? … Ach, so ein Quatsch, nein! Los, denk nach!, sagt er und drückt den sperrigen Hebel wieder nach unten. „Mir muss doch was …

    „Lars, hilfst du mir grad mal?", ertönt es von weiter hinten.

    „Komme!"

    Während Lars völlig in Gedanken versunken zu seiner Kollegin schlurft, stößt er unvermittelt gegen irgendetwas.

    „Uff. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Stapel Teller, den er gerade gerammt hat, und der nun bedenklich zu schwanken anfängt. „Oh, nein!

    Schnell versucht er, seine Arme um den Turm zu legen, doch zu spät. Das schlichte Porzellan kracht mit lautem Geschepper zu Boden.

    „Oh nein, das tut mir leid!"

    Seine Kollegen sehen ihn kopfschüttelnd an. Da sind sie wieder, diese verständnislosen Blicke, fast schon verächtlich. So, als wolle man ihn am liebsten erwürgen. Dabei kann er doch nichts dafür, wenn ständig jemand diese sperrigen Rollwagen mit schmutzigem Geschirr kreuz und quer in der Spülküche abstellt.

    Den Blick weiterhin auf den Scherbenhaufen gerichtet, geht Lars weiter zu seiner Kollegin. Aus den Augenwinkeln erkennt er, dass sie ihm etwas reicht. Ohne aufzusehen, streckt er ihr die Hand entgegen.

    „Hast du’s?", fragt sie skeptisch.

    Lars nickt. „Hmm."

    Doch kaum, dass er begreift, dass ihm ein paar Tabletts in die Hand gedrückt werden, plumpsen sie auch schon zu Boden. Es ist ein höllischer Lärm. Erschrocken hält Lars sich die Hand ans Herz.

    „Och Mensch, Lars!", plärrt es sofort aus sämtlichen Richtungen.

    Lars zieht den Kopf ein. „Tut mir leid."

    „Du bist nicht bei der Sache. Pass ein bisschen besser auf."

    „Ich weiß, tut mir leid, Nicole."

    Demütig bückt er sich nach den spiegelnden Tabletts, wobei ihm seine Kollegin hilft.

    „Immer noch keine Pulitzerpreis-verdächtige Idee für deine Abschlussprüfung?", fragt sie ihn mitleidig.

    „Nein, seufzt Lars. „Und die Zeit wird langsam echt knapp.

    „Dir wird schon noch was einfallen, du bist doch sonst immer so kreativ."

    „Ich weiß, aber …"

    „Kuckenheim!", schallt es plötzlich durch die Küche.

    In seinem Schreck lässt Lars wieder sämtliche Utensilien fallen.

    Ein rundlicher Mann mit mächtigem Bauch kommt auf ihn zu. „Was machst du denn? Das ist schon das vierte Mal heute!"

    „Ich, äh, tut mir leid, ich räum das weg."

    „Spar dir das, hau ab nach Hause!"

    Lars schaut ihn verdutzt an. „Was? Nein! Nein, es tut mir leid, ich passe jetzt besser auf, versprochen."

    „Komm wieder, wenn du dich konzentrieren kannst." Mit diesen Worten macht sich der Chefkoch zurück auf den Weg in die Kochküche.

    Anschließend verlässt auch Lars mit gesenktem Blick den weiß gekachelten Raum. Beim Hinausgehen spürt er, wie ihm Nicole mitleidig über die Schulter streicht.

    Draußen scheint die Sonne, viel zu schön für so einen missratenen Tag. Missmutig schleicht Lars die Straße entlang, als ihn die Titelmelodie zu „Heidi" aus den Gedanken reißt. Als er auf dem Display seines uralten Nokia-Handys sieht, wer ihn anruft, bildet sich dicke Gänsehaut auf seinen Armen.

    „Hey, Martina!, grüßt er sie. „Musst du nicht arbeiten? Sein Blick wandert auf die Armbanduhr, deren leicht verbogener kleiner Zeiger in Richtung der eins zeigt.

    „Doch, ja, ich verlängere meine Pause."

    „Du klingst nicht gut, was ist passiert?"

    Martina atmet tief aus. „Ich hasse ihn so sehr."

    „Oje, schon wieder Probleme mit deinem Typen?"

    „Können wir uns treffen?"

    „Was? Jetzt? Lars’ mitleidige Schnute verwandelt sich in ein begeistertes Grinsen. „Na klar, gern! Wo denn?

    „An unserem Treffpunkt?"

    „Okay, ich bin gleich da. Bis gleich."

    Martina will ihn sehen! Heute könnte doch noch ein guter Tag werden. Kaum hat er sein Handy weggepackt, macht er sich schleunigst auf den Weg zum Zimt & Zucker, wo sie bereits auf ihn wartet. Ihre strohblonden Locken leuchten in der Sonne.

    „Hey du!", begrüßt er seine beste Freundin und nimmt sie fest in den Arm.

    Seine Nase taucht tief in den fluffigen Wollstoff ihres übergroßen Kuschelpullis und atmet den herrlichen Duft von Blumen ein.

    „Hi, mein Großer, grüßt auch sie ihn freudestrahlend. Um die Umarmung zu erwidern, muss sie sich auf Zehenspitzen stellen. Dann schweift ihr Blick über die vielen Menschen in der näheren Umgebung. „Wollen wir lieber woanders hingehen?, fragt sie.

    Lars nickt. Auch wenn sie das Ambiente des urigen kleinen Cafés mit seinen bunt zusammengewürfelten Tischen und Stühlen lieben; um diese Zeit gibt es wirklich ruhigere Orte.

    „Zu dir oder zu mir?, fragt er und wird ganz hektisch. „Nein! Also, ich meine … Er fuchtelt mit den Armen in der Luft.

    Martina wirft ihm einen belustigten Gesichtsausdruck zu. „So, so."

    „Wir können zu mir, sagt er schließlich mit knallrotem Kopf. „Also, wenn du magst.

    „Klar, gehen wir."

    Eingehakt bei seiner alten Kindergartenfreundin stapft er mit ihr die schmale Straße entlang. Lars kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich auf diese Weise zu ihm nach Hause bewegt haben.

    Er wohnt in einem hübschen kleinen Altbau, der sich zwischen zwei ebenso betagte Häuser zwängt. Dort angekommen, werden sie sofort von seinem riesigen Schildpatt-Kater begrüßt, der regelrecht über Martina herfällt.

    „He, Hannibal!", mischt Lars sich ein und nimmt das Tier hoch, um endlich ins Innere des Hauses zu gelangen.

    Im Flur entledigen sie sich ihrer Schuhe und Jacken und schleichen die Treppe hoch in den ersten Stock. Den unteren Teil bewohnt seine Tante, die ihm für die Zeit seines Studiums ein Zimmer und das Bad im Obergeschoss zur Verfügung stellt. Es ist kein sehr großes Zimmer, bis auf ein altes Schlafsofa und einen kleinen Schreibtisch neben einem ausrangierten Kleiderschrank findet kaum etwas Platz. Aber Lars ist absolut zufrieden damit und kann sogar ein wenig Geld sparen. Denn obwohl er neben seinem Job als Volontär zwei bis dreimal die Woche in der Großküche eines Krankenhauses aushilft, kann er sich die Mieten in der Stuttgarter Innenstadt einfach nicht leisten.

    „Setz dich doch", bietet er seiner Freundin den Schreibtischstuhl an und lässt sich selbst auf das Sofa fallen.

    Doch Martina scheint viel zu aufgebracht zu sein, als dass sie sich jetzt einfach ruhig hinsetzen könnte.

    „Kannst du dir das vorstellen?, fragt sie mit wedelnden Armen. „Da ruft mich der Kerl doch tatsächlich an, um mir zu sagen, dass er keine Zeit für unser Date hat.

    Lars sieht sie stumm an. Er hat absolut keine Ahnung, wovon sie spricht.

    „Nur, weil sich ein paar Kumpels spontan mit ihm treffen wollen! Ich meine, wir planen das Date ja auch erst seit zwei Wochen, warum sollte er es dann nicht in letzter Sekunde absagen?"

    „Das Treffen war heute?"

    „Ja! Ist das zu fassen? Ich dachte, er freut sich auf mich, aber ich bin ihm offensichtlich scheißegal!"

    Martina ist schwer damit beschäftigt, wie eine Irre durchs Zimmer zu wandern und bei jedem dritten Wort in ihr dickes, lockiges Haar zu greifen. Erst nach etwa 20 Minuten hält sie inne und schaut Zustimmung suchend zu Lars.

    „Ist das zu fassen?!", wiederholt sie ein bisschen energischer.

    Erschrocken fährt Lars auf. „Ähm, ja, das ist echt das Letzte!"

    Martina schaut ihn ungläubig an. „Veräppel mich nicht, Lars."

    „Entschuldige." Überfordert reibt er sich die Augen und seufzt schwer.

    Heute ist einer dieser Tage, die er am liebsten aus den Kalender reißen und aufessen würde. So sehr er sich auch bemüht, schafft er es einfach nicht, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Nach einem weiteren schweren Seufzer setzt sich seine Freundin zu ihm aufs Sofa und kuschelt sich an ihn.

    „Ärger in der Redaktion?", fragt sie mitleidig.

    Lars schüttelt den Kopf.

    „Ärger im Krankenhaus?"

    Lars nickt. „Einer der Köche hat mich heute rausgeschmissen. Ich wär zu tollpatschig."

    „Wie kommt der denn darauf?", fragt Martina.

    Lars beschließt, ihren ironischen Tonfall zu ignorieren. „Versteh ich auch nicht."

    „Vergiss es einfach. Beim nächsten Mal läuft’s besser."

    Ihre Arme schlingen sich ganz eng um ihn. Lars schließt die Augen und genießt diesen Moment. Auf einmal poltert es an der Tür. Und ehe Lars das Bewusstsein ganz wiedererlangt, wendet sich seine wunderbar warme Freundin von ihm ab und nimmt den neugierigen Kater auf den Arm, der gelernt hat, sich Zutritt zu allen Räumen zu verschaffen.

    „Hallo, du süßes Knuddelmonster", nuschelt sie in das bunte Fell.

    Während sie es sich mit dem Schmusetiger auf dem Schoß auf dem Sofa gemütlich macht und ihn ausgiebig streichelt, beobachtet Lars die beiden mit einem schmachtenden Lächeln. Wie gerne er doch jetzt an Stelle der Katze wäre. Seit Jahren hat keine Frau mehr so innig mit ihm geschmust. In Gedanken lässt er seinen Arm um ihre Schultern gleiten und streichelt sie sanft am Nacken. Er rückt immer näher. Bald kann er ihr Gesicht ganz nah an seinem spüren, es fehlen nur noch ein paar Millimeter. Seine Lippen tasten sehnsüchtig nach ihrer samtig weichen Haut …

    Eine Stimme holt ihn zurück ins Hier und Jetzt. „Lars?"

    „Ja?", fragt er verlegen und nimmt seinen Arm wieder herunter, der es nicht einmal bis zu ihrer Schulter geschafft hat.

    „Ich muss langsam los."

    Lars sieht sie überrumpelt an. „Was? Warum? Nein, bleib doch noch."

    „Ich bin noch mit ’ner Freundin verabredet."

    „Oh … tut mir leid, ich wollte nicht, dass du … ich wollte, ich könnte …"

    „Alles gut. Sie nimmt ihn in den Arm. „Wir reden morgen weiter, wenn wir dazu in der Lage sind.

    Lars atmet ihre Nähe tief ein. „Ist gut."

    Noch Stunden später sitzt Lars auf dem Sofa und überlegt krampfhaft, ob er in seiner Trance irgendwas nicht mitbekommen hat.

    13:30 Uhr

    Im Fahrerraum des Kleintransporters döst Sergej, während Oleg mit einer Hand hektisch im Handschuhfach wühlt. Immer wieder scharrt er die Notizzettel, gebrauchten Taschentücher und Zigaretten von einer Seite auf die andere. Dazwischen kommen mehrere leere Fläschchen zum Vorschein, die er wütend zurück in das Fach wirft. Wo zum Teufel sind die vollen Flaschen?

    „Scheisendreck, murmelt er mit russischem Akzent, während er in eine Seitenstraße biegt. „Hey, du, aufwachen! Mit einem Stoß reißt er seinen Nebenmann aus dem Schlaf. „Dreckskerl! Wo hast du’s?"

    Sergej sieht ihn verschlafen an. „Wo hab ich was?"

    „Was wohl? Hast du etwa schon wieder alles leergesoffen?" Wütend greift Oleg nach einem der Fläschchen und wirft es Sergej gegen sein schweißgetränktes Hemd. In seiner Wut gerät sogar das Fahrzeug ins Taumeln.

    „Alter, was willst du von mir?, wehrt sich Sergej. „Was kann ich dafür, wenn du zu besoffen bist, um dich zu erinnern.

    Oleg mag es nicht, verarscht zu werden. Und noch viel weniger mag er es, wenn man ihn als versoffenen Idioten abstempelt.

    „Ich schwöre, brummt er böse, „wenn ich dich erwische, wie du gehst an meine Vorräte, gnade dir Gott.

    „Ja, ja, entgegnet Sergej. „Weiß René eigentlich, dass du während der Arbeit trinkst?

    Stille.

    Die Männer fahren weiter. Oleg ist wütend auf seinen Kollegen. Scheiß doch auf René, ohne Wodka übersteht er den Tag nicht! Erst, nachdem sie die letzte Stadt hinter sich gelassen haben und durch ländliche Gefilde fahren, entspannt er sich ein wenig.

    „Du, sag mal", setzt Sergej an, wird jedoch von Oleg unterbrochen.

    „Halt die Klappe!"

    „Ich wollte doch nur …"

    Oleg sieht finster zu ihm rüber. „Was sagte ich gerade?"

    Wortlos lehnt Sergej sich in seinen Sitz. „Hast du dein Geld eigentlich schon?", fragt er schließlich.

    „Natürlich, brummt Oleg. „René würde es nicht wagen, mir mein Anteil vorzuenthalten.

    „Dann sollte ich vielleicht mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden."

    „Wieso das?"

    Sergej zögert. „Weil die Flachwichser in dieser Branche anscheinend bevorzugt behandelt werden."

    Sofort steigt Oleg in die Eisen. Die Reifen quietschen und hinterlassen schwarze Bremsspuren auf der bröckeligen Landstraße. „Was war das gerade?!"

    Sein Mund beginnt beinahe zu schäumen. Niemand nennt ihn einen Flachwichser!

    „Ist der Flachwichser jetzt etwa auch noch taub?", entgegnet Sergej.

    Rot vor Wut holt Oleg aus und schlägt dem Großmaul mit der Faust in sein dreckiges Mundwerk. Dieser zögert nicht lange und kontert mit einem gezielten Gegenschlag. Fast entsteht eine Prügelei, die Oleg jedoch vorzeitig durch ein Handzeichen beendet. Es ist nicht gut, vor René blutverschmiert aufzukreuzen. Wortlos wischen sie sich das Blut von der Nase und fahren weiter.

    Noch eine ganze Weile murmelt Oleg auf Russisch wilde Flüche vor sich hin. Erst als aus dem Laderaum pochende Geräusche zur Fahrerkabine dringen, wird er von seinen trüben Gedanken abgelenkt.

    „Seid gefälligst still!", brüllt er nach hinten und haut selbst kräftig gegen das über die Jahre total verbeulte Blech.

    Wenig später kommen sie an einer Tankstelle zum Stehen. Während Sergej den Wagen volltankt, erleichtert Oleg sich in einem Gebüsch. Außer ihnen scheint heute kaum jemand unterwegs zu sein. Lediglich ein weiteres Auto wartet an einer der Zapfsäulen, während sein Besitzer den Sprit bezahlt.

    Als Oleg vom Pinkeln zurückkommt, bemerkt er den Blick eines kleinen Mädchens, das auf der Rückbank des roten Wagens an der Zapfanlage sitzt.

    „Was guckst du?", fragt er, doch die Göre lässt sich nicht beirren und starrt ihn weiter an.

    Oh, wie Oleg Kinder hasst! Genervt hebt er den Mittelfinger in Richtung des Mädchens und verzieht das Gesicht zu einer Fratze. Die Kleine wendet sich entsetzt ab. Triumphierend setzt Oleg seinen Weg zum Transporter fort, als plötzlich die Polizei auftaucht. Langsam fahren sie zwischen den stehenden Fahrzeugen hindurch und mustern deren Insassen.

    Der Streifenwagen kommt zum Stehen. Als die Polizisten aussteigen, hängt Sergej den Schlauch in aller Ruhe zurück in die Halterung und macht sich unter strenger Beobachtung der Wachmänner auf den Weg zur Kasse. Auch Oleg nehmen sie genau in Augenschein. Bevor er einsteigt, schließt er noch schnell seinen Hosenstall.

    Endlich kommt Sergej zurück und Oleg startet den Motor, da klopft es an der Scheibe. Einer der Polizisten bittet ihn durch ein Handzeichen, das Fenster runterzukurbeln. Die beiden Russen sehen sich kurz an. Dann kommt Oleg schweren Herzens der Bitte nach.

    „Guten Tag, Herr Polizei, sagt er mit einem falschen Lächeln. „Kann ich Ihnen helfen?

    Der Wachmann betrachtet kritisch den Innenraum der Fahrerkabine. „Dies ist eine Verkehrskontrolle. Darf ich Sie um Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere bitten?", seufzt er schließlich.

    „Aber natürlich", antwortet Oleg fast schon übertrieben charmant und überreicht die geforderten Unterlagen. Er spürt kleine Tröpfchen, die sich an seiner Schläfe bilden.

    Nach einem kurzen Blick auf die Papiere nickt der Mann in Uniform. „Vielen Dank, Herr Kolesnikow."

    Olegs um das Lenkrad gekrampfte Hände entspannen sich und er atmet tief aus. Dabei bemüht er sich nach wie vor um Unauffälligkeit – bloß nicht auf den letzten Metern noch Verdacht erregen.

    Aber gerade, als der Polizist ihm seine Unterlagen zurückgeben will, hört man aus dem Laderaum einen dumpfen Schlag. Oleg kneift die Augen zusammen. Ausgerechnet jetzt müssen die scheiß Blagen Lärm machen! Sofort tritt der Polizist wieder näher an das Fahrzeug und mustert die Fahrerkabine. Dann schwenkt sein Blick nach hinten.

    „Würden Sie bitte den Laderaum öffnen?", fragt er.

    Oleg schluckt. Seine Kehle ist staubtrocken. Alles vorbei, jetzt ist alles vorbei.

    „Selbstverständlich", presst er hervor, steigt angespannt aus und folgt dem Polizisten zur Schiebetür. Dabei versucht er, so viel Zeit wie möglich zu schinden. Vielleicht kommt ihm ja noch eine Idee, wie er aus dieser Lage wieder rauskommt. Aber mehr, als langsam und behäbig nach hinten zu schlappen, fällt ihm nicht ein.

    Er schließt auf und drückt den Griff runter. Stück für Stück öffnet sich die lange Schiebetür, bis der lackierte Kork zum Vorschein kommt.

    „Reicht schon, danke", sagt der Polizist und leuchtet mit einer Taschenlampe in den dunklen Raum.

    Der Lichtstrahl wandert über den Boden, bis ganz zum Ende. Oleg kneift die Augen zusammen.

    Dann geht die Taschenlampe wieder aus. „Gut, alles in Ordnung. Sie können die Tür wieder schließen."

    Oleg kann es nicht fassen. Ist der Mann blind? Misstrauisch wirft er nun selbst einen Blick in den Laderaum und tatsächlich, es ist nichts zu sehen. Langsam schiebt er die Tür zurück ins Schloss. Sein Blick schweift dabei unauffällig über die gesamte Anlage der Tankstelle.

    „Altes Auto, hm?, reißt sein Gegenüber ihn aus seinen Gedanken. „Da knackt und knarzt es an allen Ecken.

    Noch immer ist Oleg total irritiert. Sind ihm die Knirpse etwa entkommen? Ohne seine Aufmerksamkeit von der Umgebung zu lösen, nickt er. „So ist das, wenn Chef kein Geld für gutes Auto rausrückt."

    Endlich bekommt er seinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere zurück. Erleichtert schnauft er durch. Das war verdammt knapp. Aber wo zum Teufel sind die Kinder? Als er die Fahrertür öffnet, sieht er, dass Sergej die beiden zwischen den Beinen hat und ihre Köpfe nach unten drückt.

    Oleg bleibt regungslos stehen. „Wie hast du …?"

    „Jahrelanges Training", antwortet Sergej grinsend. „Los, fahr jetzt, bevor sie die hier noch entdecken."

    Das lässt sich Oleg nicht zweimal sagen. Ohne weitere Zeit zu verlieren, tritt er aufs Gas und macht sich vom Acker.

    26. Mai – 16:00 Uhr

    (Mittwoch)

    Nach einer endlos langen Fahrt hält das Auto endlich wieder an. Jennifer horcht auf. Dann öffnet sich plötzlich die Tür an der Seite. Es quietscht ganz fürchterlich. Jenny kriegt richtige Ohrenschmerzen von dem schleifenden Geräusch.

    „Los, raus da!", befiehlt der kräftige Mann mit der Mütze ihr und ihrem Bruder.

    Noch bevor sie sich rühren können, greift er in den Wagen, packt sie unsanft an den Armen und zieht sie hinaus, bis sie auf den steinigen Boden fallen. Jenny rappelt sich hoch und schaut sich um. Sie befindet sich auf einem großen Platz umringt von riesigen Bäumen, Sträuchern und Felsen, die einen steilen Hang hinabklettern. Die untergehende Sonne taucht sie in ein sattes Orange. Vor ihnen türmen sich die Felsen zu einem gewaltigen Bogen, der aussieht wie ein mächtiges Dach über dem Eingang zu einer Höhle.

    „Hoch mit euch!", sagt der böse Mann und hievt die Kinder auf ihre zittrigen Beine.

    Beim Anblick des wuchtigen Felsmassivs erlangt Jenny ihre Stimme wieder und schreit los. Im Wagen hat sich das Klebeband von ihrem Mund gelöst, wie ein Pflaster, wenn es zu nass wird. Aus Leibeskräften brüllt sie nach Hilfe. Aber leider nicht sehr lange, denn der böse Mann schlingt sofort seinen Arm um ihren Kopf und hält ihr den Mund zu. Es fühlt sich an, als würde er ihren Kopf zerquetschen. Jenny versucht mit aller Kraft, dem festen Griff zu entkommen, aber sie kann nichts ausrichten.

    So fühlt sich das bestimmt an, wenn man von einem Bär umarmt wird. Jenny wurde noch nie von einem Bär umarmt, aber so stellt sie es sich vor. Genauso fest mit den breiten Tatzen. Panisch sieht sie, wie aus der Höhle weitere Männer auf sie zukommen. Genau wie die Kerle, die sie entführt haben, sind auch sie ziemlich schmutzig und schauen grimmig drein. Noch immer versucht sie, sich zu befreien, aber sie hat immer weniger Kraft. Und auch Benjamin sieht alles andere als in Ordnung aus. Seine sonst rosigen Wangen sind knallrot, genauso wie seine Augen.

    „Stell sie endlich ruhig", sagt jemand aus der Menge und deutet auf Jenny.

    Sie schreckt zusammen. Was bedeutet das? Was werden sie jetzt mit ihr tun? Schon macht der Mann, der sie umklammert hält, kurzen Prozess. Mit einem Ruck reißt er ihr den letzten Fitzel Klebeband aus dem Mundwinkel. Jenny hat das Gefühl, als hätte man ihr die Haut gleich mit abgerissen. Es brennt wie ein heißes Bügeleisen. Dann klebt er ihr den Mund erneut zu. Wenigstens ist das neue Klebeband angenehm kalt.

    „Ihr lernt jetzt euren neuen Boss kennen, sagt der Mann schließlich mit tiefer, rauer Stimme. „Und wehe, ihr benehmt euch nicht.

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