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PUNKTUM.: Endet die Vergangenheit mit dem Tod?
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PUNKTUM.: Endet die Vergangenheit mit dem Tod?
eBook485 Seiten6 Stunden

PUNKTUM.: Endet die Vergangenheit mit dem Tod?

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Über dieses E-Book

Anna, die junge, hübsche IT-Spezialistin und Inhaberin eines erfolgreichen Start-up-Unternehmens sorgt sich um ihre Mutter, die für sie nicht erreichbar ist. Auch von sich aus meldet sich ihre Mutter nicht. Es scheint, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Eine Mitarbeiterin der Mutter äußert einen leisen Verdacht.
Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Claudia, Redakteurin beim Kurier, beginnt die IT-Spezialistin mit ihren Nachforschungen. Schon bald merkt sie, wie wenig sie ihre Mutter kennt und entdeckt ein schreckliches, wohlgehütetes Geheimnis aus der Vergangenheit. Aber dieses Geheimnis betrifft nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie selbst, noch dazu in hohem Maße …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Okt. 2019
ISBN9783748564195
PUNKTUM.: Endet die Vergangenheit mit dem Tod?

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    Buchvorschau

    PUNKTUM. - Wolfgang Priedl

    Impressum

    Text / Grafik:

    © Copyright by Wolfgang Priedl

    neobooks Self-Publishing

    Wolfgang Priedl

    Geroldgasse 5

    1170 Wien / Österreich

    wolfgang@priedl.at

    www.priedl.at

    Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Die aufgezeigten Möglichkeiten sind nicht fiktiv, sondern entsprechen dem heutigen Stand der Technik.

    Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Autors urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

    … für meine Liter(n)ar(r)ischen:

    Brigitte, Erika, Irmi, Isa, Jan, Rudi,

    Wolfgang, Wolfgang, und Wolfgang

    Das Buch:

    Anna, die junge, hübsche IT-Spezialistin und Inhaberin eines erfolgreichen Start-up-Unternehmens sorgt sich um ihre Mutter, die für sie nicht erreichbar ist. Auch von sich aus meldet sich ihre Mutter nicht. Es scheint, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Eine Mitarbeiterin der Mutter äußert einen leisen Verdacht.

    Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Claudia, Redakteurin beim Kurier, beginnt die IT-Spezialistin mit ihren Nachforschungen. Schon bald merkt sie, wie wenig sie ihre Mutter kennt und entdeckt ein schreckliches, wohlgehütetes Geheimnis aus der Vergangenheit. Dieses betrifft nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie selbst, noch dazu in hohem Maße …

    Der Roman spielt in Österreich. Als Vorlage dienten: Langbathsee (Salzkammergut) = Bergsee. Mischung aus Brunnkogel und Flammenkogel = Feuerkogel. Der »Berghof« (Sporthotel am Langbathsee) wurde ca. 2011 abgerissen. Lengthal = Ebensee am Traunsee. Die nicht genannte Stadt = Wien.

    Der Autor:

    Wolfgang Priedl lebt in Wien. Er war viele Jahre in der Marketing- und Werbebranche tätig. Durch Zufall entdeckte er seine Vorliebe zum Schreiben. Jedes Mal, wenn ihn heute ein gesellschaftliches Thema unter den Fingernägeln brennt, greift er zur Tastatur.

    Die menschliche Psyche fasziniert ihn genauso wie spannende Stories. Mit dem vorliegenden Text erfüllt er sich den Wunsch, eine aktuelle, sozialkritische Thematik in einen Kriminalroman zu verweben.

    Mit seinen Geschichten möchte er nicht nur unterhalten, sondern die Leser auch zum Nachdenken anregen.

    Prolog:

    Wie weit darf man gehen,

    ohne Macht zu missbrauchen?

    Wann werden Grenzen überschritten,

    wenn Macht genutzt wird?

    Hilft Transparenz, der Macht, Grenzen aufzuzeigen?

    FREITAG

    1

    Anna tippt die letzte Programmzeile in den Sourcecode. Sie startet einen Probelauf und beobachtet angespannt ihren rechten Computermonitor. Eine Eingabemaske erscheint. Sie nickt zufrieden, beugt sich langsam zur Tastatur, gibt einen imaginären Namen ein und vervollständigt die restlichen Eingabefelder. Sie drückt auf >>ENTER<<.

    Auf dem zweiten Monitor, in einem leeren, schwarz hinterlegten Fenster, erscheinen lange Zahlenreihen, vermischt mit kryptischen Zeichen. Das Window füllt sich rasch. Die Symbole scrollen wie von Geisterhand nach oben. Viel zu schnell, um mit den Augen zu folgen. Plötzlich Ruhe. Anna dreht bedächtig am Mausrad und das Anzeigefeld bewegt sich Zeile für Zeile. Sie stoppt und hebt ihre Hand von der Maus. Zufrieden breitet sich ein Lächeln um ihren Mund aus. Langsam erfasst es ihr ganzes Gesicht.

    »Na, wer sagt’s denn – funktioniert«, lobt sie sich flüsternd.

    Sie greift nach dem Telefon, tippt auf eine Nummer aus dem Kurzwahlverzeichnis und wartet, bis es läutet.

    »DATAPOOL – was kann ich für Sie tun?«, meldet sich die wohlvertraute Stimme ihrer Mitarbeiterin.

    »Ich bin es – Anna – lade soeben den neuen Sourcecode auf den Server«, antwortet sie grußlos, als würde das Gespräch schon einige Zeit andauern. »Die Sicherheitsabfrage funktioniert jetzt mit unserer Verschlüsselung. So – findet ihr ab sofort in meinem Verzeichnis«,

    »Super. Danke Boss. – Deine Buben warten bereits sehnsüchtig. Ich leite die gute Nachricht sogleich weiter … Nochmals vielen Dank. Wir wünschen dir ein schönes Wochenende, Boss.«

    »Ich euch auch. Ciao.«

    Anna schaut auf ihre goldene Cartier-Uhr. Es ist knapp vor vier. Ihre Mutter hat noch immer nicht zurückgerufen. Sie checkt ihre SMS. Keine Nachricht von ihr, dafür findet sie eine Mitteilung von Claudia, ihrer engsten Freundin: ›Um fünf beim Italiener?‹

    Sie tippt, ohne auf die Tastatur zu sehen: ›ok ba‹.

    Anna wendet sich wieder ihrem Rechner zu und startet ihr wöchentliches Backup-Programm, klont ihre Festplatte 1:1. Anschließend lehnt sie sich in ihrem Drehstuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Ihr Computer rattert gleichmäßig. Mit einem tiefen Seufzer ergreift sie das Mobiltelefon. Drückt auf ›MAMA‹. Sie lässt es läuten. Lange läuten. Sehr lange läuten. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. – Piep.«

    »Hallo Mama, bitte rufe mich zurück, – wo immer du bist. Mache mir langsam Sorgen.«

    Anna schüttelt den Kopf. Aus welchem Grund antwortet ihre Mutter nicht? Bereits den zweiten Tag nicht. Von Birgit, einer ihrer Mitarbeiterinnen und gleichzeitig beste Freundin, hat sie erfahren, dass sie sich den Freitag freigenommen hat. Warum hat sie es nicht ihrem letzten Gespräch erwähnt? Ungewöhnlich, denn ihre Mutter meldet sich fast täglich. So gut wie nie hört sie einen ganzen Tag lang nichts von ihr. Meist ruft sie ohne triftigen Grund an, lediglich um »Hallo« zu sagen.

    Zeitweilig hat Anna das Gefühl beschlichen, als wolle sie ihr nur mitteilen, dass sie noch am Leben sei, dass es ihr gut ginge. Ihre Äußerungen hat sie oft nur als Klangteppich, wahrgenommen, ohne die einzelnen Worte und ihre Bedeutung zu hören. So wie Kleingedrucktes, als Grauwert auf einem Blatt Papier. Sie kennt jedes ihrer Vokabel. Auswendig. Kann die Reihenfolge ihrer Sätze antizipieren.

    An manchen Tagen nervt ihre Mutter sie mit ihren Anrufen. Anna beschlich das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, als ob sie ein unmündiges Kind wäre, das an der Hand geführt wird, damit es nicht davonläuft. Aber heute ist sie erwachsen. Ihr kommender Geburtstag wird ein runder sein. Dreißig Jahre. Sie bedarf keiner schützenden Hand mehr. Bei nächster Gelegenheit wird sie mit ihrer Mutter über dieses Thema sprechen. – Zumindest will sie es anklingen lassen.

    Doch heute ist es anderes. Anna hat sich im Laufe der Zeit an Marias Anrufe gewöhnt. Sie könnte die Uhr danach stellen. Wenn dieses Telefonat ausbleibt, dann fehlt etwas in ihrem Tagesablauf.

    Soweit sie zurückdenken kann, hat sie ihre Mutter immer als beste Freundin gesehen. Deshalb spricht sie Maria ebenfalls mit ihrem Vornamen an; ausgenommen es handelt sich um ernste Belange, in solchen Fällen verwendet sie das Wort ›Mama‹, oder kurz ›Ma‹. Bei derart seltenen Gelegenheiten revanchierte sich ihre Mutter mit der Anrede ›Kind‹. Eine amüsante Erinnerung reiht sich an die nächste. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln.

    Ihre Armbanduhr sagt ihr, dass es höchste Zeit ist, um sich stadtfein zu machen. Im Schlafzimmer öffnet den vollen Kleiderschrank. Welches Outfit wäre das Beste? Sie wirft einen Blick aus der geöffneten Balkontür. Es ist warm. Es ist sehr warm – und schwül obendrein. Der erste Sommertag, an dem das Thermometer mittags auf achtundzwanzig Grad im Schatten kletterte. Jetzt zeigt es immer noch fünfundzwanzig an.

    Rock, T-Shirt, Blazer, High Heels – genau das Richtige.

    Anna betrachtet sich im Spiegel. Sie wischt mit dem Zeigefinger über ihre neckischen Sommersprossen, die sich beidseits ihrer Nasenwurzel unregelmäßig verteilen. Das weiße T-Shirt mit dem V-Ausschnitt schmiegt sich hauteng an ihren Oberkörper. Der kurze schwarze Minirock in Kombination mit ihren Stilettos betont ihre schlanken Beine und lässt sie noch länger erscheinen.

    »Na, da sehen wir betörend aus«, schmeichelt Anna ihrem Spiegelbild. Sie streicht ihren engen Rock glatt. An der Wohnungstür wechselt sie ihre hochhackigen Schuhe gegen ihre weißen Turnschuhe aus.

    Der kleine Italiener, mit dem riesigen Holzofen, ist nur ein paar Häuserblocks entfernt.

    In dem Gastgarten vor dem Lokal sind so früh am Abend nur wenige Tische belegt. Von Weitem sieht Anna ihre Freundin. Der Kellner neben ihr stützt sich salopp auf einer Sessellehne ab, während er mit der Anden Hand Richtung Himmel zeigt. Wenn es nur um eine Bestellung ginge, wäre seine Körperhaltung zu lässig; Claudia scheint in ihrem Element zu sein. Sie sieht verändert aus. An dem dunkelgrauen Businessanzug liegt es nicht. Anna grübelt. Mustert ihre Freundin von oben nach unten.

    »Salute!«, ruft Claudia ihr entgegen. »Was machen die Bits und Bytes?«

    »Sie warten am Server, um ausgelesen zu werden. Und wie geht es unserer ›lokalen Chefredakteurin‹? Wohl wieder beim Recherchieren des Lokalkolorits?« Sie deutet vielsagend mit dem Kopf zum Kellner.

    »Habe ich schon erwähnt, dass du unmöglich bist?«

    »Öfters, Claudia. Glaube mir … öfters.« Anna lässt sich lachend auf den Sessel fallen.

    »Apropos ›Recherchieren des Lokalkolorits‹ – wenn ich dich ansehe, frage ich mich, wer von uns beiden heute etwas vorhat. Du siehst ja zum Anbeißen aus.« In Claudia Stimme schwingt ein Anflug von Neid mit.

    »Weil du gerade vom Anbeißen sprichst: Ich habe einen Mörderhunger … «, lenkt Anna geschmeichelt vom Thema ab.

    »Der Kellner hat mir soeben Lasagne empfohlen. Steht nicht auf der Speisekarte. Frisch zubereitet. Und Ravioli – stehen ebenfalls nicht auf der Karte.«

    »Überredet, ich nehme die Ravioli«, entscheidet sich Anna, ohne lange nachzudenken.

    »Ich die Lasagne. … Wein? Den Üblichen?«

    »Ja, bitte.«

    Claudia wendet sich an den Kellner, um zu bestellen.

    Die beiden tauschen die Neuigkeiten der letzten Woche aus. Die Redakteurin ist sich nicht sicher, ob sie über die Ereignislosigkeit der vergangenen Tage froh sein sollte oder nicht. Es war ungewöhnlich still gewesen. Um die Seiten des ›Kuriers‹ zu füllen, hatte sie die Beiträge jedes noch so unbedeutenden Ereignisses, breitgewalzt. Keine befriedigende Aufgabe für sie.

    »Wir haben mit einem Artikel über Hundekot eine halbe Seite gefüllt. Stell dir das einmal vor«, alteriert sich Claudia und nippt an ihrem Weinglas. »MMMHHH. – In den könnte ich mich verlieben.«

    »In wen könntest du dich verlieben?«, fragt Anna abwesend.

    »Hallo – Anna. Ich bin’s!«, ruft Claudia aus. »Du bist ja mit deinen Gedanken total woanders. – In den Wein könnte ich mich verlieben, habe ich gesagt.«

    »Ja – der ist sehr gut«, erwidert Anna, ohne aufzublicken.

    Claudia rückt ihren Stuhl näher an ihre Freundin heran. »Wo drückt der Schuh? Probleme im Job? Ärger mit deinen Mitarbeitern?«

    Anna antwortet nicht sofort. Sie legt die Stirn in Falten. »Nein, die Firma läuft. Habe heute sogar ein riesiges Erfolgserlebnis eingefahren. Meine Buben haben sich bei der Implantierung der von uns entwickelten Krypto-Routine schwergetan. Ich hab das Problem gelöst – funktioniert.«

    »Hier programmiert der Chef noch höchstpersönlich. Das nenne ich Mitarbeitermotivation … «

    Der Kellner serviert ihre bestellten Speisen. »Guten Appetit.«

    »Danke.«, flüstert Anna.

    »Komm, lass es dir schmecken. Reden wir nachher weiter … wenn du willst.« Claudia läuft das Wasser im Mund zusammen.

    »Gute Idee. Ich warne dich, ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«

    »Nur zu, dafür gibt es die beste Freundin. Klingt zumindest spannender als die vergangene Woche … Mahlzeit«, erwidert Claudia voll Neugier.

    Genussvoll speisen die beiden. Wiederholt betonen sie, dass sich der Koch heute wieder selbst übertroffen hat.

    Die karge Konversation lässt in Claudia die Spannung, die Neugier steigen. Ihr beruflicher Instinkt, ständig auf der Jagd nach Neuigkeiten zu sein, ist geweckt worden. Sie wird von Minute zu Minute ungeduldiger. Zuletzt kann sie es kaum mehr erwarten, zu erfahren, was ihre Freundin auf dem Herzen hat. Sie kommt ihr verändert vor. Der Job ist es nicht. So viel weiß sie bereits. Es muss etwas Wichtiges sein, denn selten noch hat sie ihre Freundin so kurz angebunden erlebt.

    Kaum hat sie ihren Teller geleert, fordert sie sie auf, von ihrem Kummer zu erzählen.

    Anna würgt den letzten Bissen hinunter. »Claudia, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Ein Beispiel: Du gehst jeden Tag um dieselbe Uhrzeit, zum Bäcker und begrüßt die Verkäuferin. Du kaufst täglich zwei Semmeln. Bestellst sie mit denselben Worten. Und immer hörst du die gleiche Antwort. Es geht so weit, dass dich die Verkäuferin nur zu sehen braucht, um zwei Semmeln – ohne Nachfragen – in eine Papiertüte zu werfen und sie dir anschließend über den Tresen zu reichen. Nonverbale Konversation. Manchmal hat sie sie sogar schon griffbereit, vorbereitet. Die Münzen hast du abgezählt in der Hand und bezahlst. Und eines Tages passiert es: Du betrittst die Bäckerei und es steht eine neue Verkäuferin hinter dem Verkaufspult. Was denkst du in diesem Moment?«

    Claudia runzelt ihre Stirn und setzt zur Antwort an. Doch Anna wehrt ab, lässt sie nicht zu Wort kommen: »Dir schießen tausende Gedanken durch den Kopf. Ist sie auf Urlaub? Ist sie krank? Hat sie gekündigt? Wann kommt sie wieder? Ist sie verunfallt? Liegt sie im Krankenhaus? Könnte man ihr helfen? – Du kaufst das Gebäck. Aber den ganzen Tag über schwirren dir die Gedanken über die Verkäuferin durch den Kopf. Du nimmst dir vor, dich morgen nach ihr zu erkundigen. Solange du den Grund nicht kennst, lassen dir deine Gedanken keine Ruhe … «

    »Worauf willst du hinaus?«, fragt Claudia.

    »Worauf ich hinaus will, ist einfach: Du kennst meine Mutter. Sie ruft mich täglich, oft auf die Minute genau, an. Gestern nicht – heute nicht. Gestern kam nur eine SMS: ›Melde mich später‹, das war’s. Jetzt muss ich ständig an sie denken. Ich habe ein ungutes Gefühl in der Magengegend.«

    »Warum rufst du sie nicht an?«

    »Ich habe es heute mehrmals probiert. – Bin stets in der Mailbox gelandet«, seufzte Anna entmutigt.

    »Hast du es bei ihr im Labor versucht?«

    »Natürlich. Ich habe mit Birgit, mit Frau Santora gesprochen. Sie meinte, Maria hat sich heute freigenommen, weil sie einen Freund besuchen will … «

    »… Deine Mutter hat einen Freund?«, fragt Claudia überrascht.

    »Gute Frage. – Eigenartig – nicht? Ich habe noch keinen Mann an ihrer Seite gesehen. Sie hat auch keinen erwähnt. Und jetzt, so von heute auf morgen, gibt es plötzlich einen Freund. – Sie nimmt sich sogar einen Tag frei, um ihn zu treffen. Das ist merkwürdig. Oder?«

    »Wie soll ich sagen, ich kenne deine Mutter, seit wir beide im Sandkasten gespielt haben. Sie ist zwar mir gegenüber ein wenig reserviert, trotzdem habe das Gefühl, dass sie mich mag. Ich glaube daher, sie einschätzen zu können. Was du mir soeben von ihr erzählt hast, ist nicht die, die ich kenne. Du hast Recht: Ich wäre ebenfalls besorgt. … besser gesagt: beunruhigt – du weißt schon … «

    Mit einem tiefen Seufzer checkt Anna ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht. Kein Anruf in Abwesenheit.

    »Andererseits: Deine Mutter ist erwachsen. Sie hat ein Anrecht auf Privatleben. Vielleicht hat sie nach all den Jahren jemanden kennengelernt und macht sich ein heißes Wochenende. … «

    »Das ist nicht dein Ernst.« Anna schüttelt ihren Kopf. »Schließe nicht von dir auf andere. – Schon gar nicht von dir auf meine Mutter. – Und komme mir nicht mit deinen One-Night-Stands Ansichten. Maria ist kein Twen. Sie ist fast sechzig Jahre alt … «

    »Was glaubst du? Mit sechzig spielt Sex keine Rolle mehr in deinem Leben, gibt es keine Liebe auf den ersten Blick und all die Dinge? – Können ihr ihre Hormone keinen Streich spielen? Vielleicht kommt sie dienstags zurück und wird von einer leuchtenden, alles überstrahlenden Aura umgeben. Frei nach dem Motto: Ich hatte vor kurzem Sex. Du nicht. Ich habe gewonnen. – Du nicht.«

    »Claudia, – hallo – aufwachen. Wir sprechen hier von meiner Mutter … «, rügt Anna ihre Freundin scharf.

    »Entschuldige, ich sollte mit meinen Sprüchen ein wenig hinter dem Berg halten. Sorry. … Sag, ist Maria in einem Social Media Kanal vertreten?«

    »Ja, WhatsApp. Sporadisch. Hab ich versucht. Fehlanzeige. Diese App öffnet sie nur, wenn sie Fotos verschickt.«

    »Gut, worauf wartest du? Willst du dich das ganze Wochenende quälen und in nebulosen Sorgen ergehen … «

    Anna zuckt resignierend mit den Achseln. Ihre Freundin hat Recht. Sie kann nur abwarten. Ob sie – bis sie Antworten auf ihre Fragen erhält – sich in ständigem Unbehagen ergeht oder nicht, liegt ausschließlich an ihr. Leichter gesagt, als getan.

    »Anna, ich sehe, uns muss etwas einfallen, das dir hilft. Folgender Vorschlag: Wir checken die umliegenden Spitäler und erkundigen uns, ob jemand mit dem Namen deiner Mutter eingeliefert wurde. Sollten wir nicht erfolgreich sein, dann ist das bereits eine gute Nachricht. – Was hältst du davon?«

    Anna nickt zögerlich. »Super Idee, aber willst du zwanzig – oder mehr – Krankenhäuser anrufen?«

    »Nein. Hör zu: Erstens haben wir in der Redaktion keinen Hinweis auf einen schweren Unfall. Das ist schon einmal positiv. Und was die Liste der Spitäler angeht, da habe ich eine Idee: Ich habe diese Woche mehrmals den Holzinger Peter – von der Kripo – sekkiert, habe ihn wiederholt nach einer Story gefragt. Er hatte zwar nie etwas für mich, aber ich glaube, wir funken auf derselben Wellenlänge. Waren immer sehr amüsante Gespräche. Ein Wort gab das andere. Er hat mir angeboten, dass ich mich jederzeit bei ihm melden darf, wenn der Schuh drückt. Und jetzt drückt er. Mit etwas Glück ist er noch in Amt und Würden. Soll ich ihn für dich anrufen?«

    Anna nickt wieder. Hoffnung keimt auf, während Claudia in ihrem Mobiltelefon nach der Nummer sucht.

    »Es läutet … «

    »Tomacic.«

    »Grüß Gott, Claudia Bigler spricht. Ich möchte bitte mit Herrn Dr. Peter Holzinger sprechen … «

    »… Tut mir leid, Oberkommissar Holzinger ist vor zehn Minuten ins Weekend entflohen. Kann ich Ihnen weiter helfen?«

    Claudia zögert kurz. »Äh, nein danke. Wäre privat gewesen. Danke jedenfalls. Wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.«

    »Wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiederhören.«

    Kaum hat sie ihr Telefon zur Seite gelegt, wird ihr bewusst, wie gerne sie mit dem Kommissar gesprochen, sie diese sonore Stimme vernommen hätte. »Soll ich es auf seiner Privatnummer probieren?«, Sie kreist mit dem Finger über dem Display.

    »Ja, warum nicht? – Oh, ich verstehe, du willst nicht nur wegen mir mit ihm sprechen … «

    »Anna, soweit sind wir … äh … bin ich noch lange nicht«, antwortet Claudia mit gespielter Entrüstung. Indigniert schüttelt sie ihren Kopf und tippt auf die Privatnummer. »Ruhe jetzt, es bimmelt.«

    Eine tiefe Bassstimme meldet sich: »Holzinger«.

    »Äh, grüß Gott. Bigler spricht. Claudia Bigler vom … «

    »… vom Kurier. – Habe Sie sofort an der Stimme erkannt. Was kann ich gegen Sie tun?«, scherzt Peter.

    »Herr Holzinger, Sie können sich vorstellen, dass ich Sie nicht grundlos am Wochenende störe. Aber ich sitze hier mit meiner Freundin. Und die hat ein Problem. Ihre Mutter wird vermisst … «

    »Seit wann?«

    »Na ja, eigentlich erst seit heute. Ist eine lange Geschichte. – Normalerweise meldet sie sich jeden Tag. Aber gestern kam nur ein SMS, dass sie sich später melden würde. Doch sie hat sich nicht gemeldet … «

    Nach einer kurzen Pause fragt Holzinger: »Und wie kann ich Ihnen bei der Sache helfen?«

    »Na ja, wir dachten, sie könnten überprüfen, ob es einen Unfall gegeben hat. Hier im Umkreis. Bei Ihnen gehen ja alle Meldungen zentral ein. Wenn Sie nachschauen könnten, ersparen Sie uns, eine Menge von Krankenhäusern anzurufen.«

    »Ich bin leider nicht mehr im Büro. Von zuhause aus habe ich keinen Zugriff auf das System. – Sie sagen, Sie haben versucht, Sie telefonisch zu erreichen?«

    »Ja … «

    »Seit gestern? Das ist eine sehr kurze Zeitspanne. Haben Sie es in ihrer Wohnung nachgesehen?«

    »Nein … «

    »… ich würde Ihnen raten, zuerst in ihrer Wohnung nachsehen. Vielleicht ist sie dort, oder es gibt konkrete Hinweise.«

    »Daran haben wir noch gar nicht gedacht, weil wir von einer Mitarbeiterin erfahren haben, dass sie möglicherweise einen Freund besuchen wollte. … «

    »Warum rufen sie nicht ihren Freund an? Vielleicht ist sie tatsächlich bei ihm.«

    »Nächstes Problem: Wir kennen seinen Namen nicht. – Geschweige denn, wo er wohnt.«

    »Andere Freunde?«

    Claudia drückt auf das Lautsprechericon, damit Anna mithören kann.

    »Nein. Fehlanzeige. Meine Freundin sagt, ihre Mutter habe keine Freunde. Zumindest kennt sie keine. Die einzige nähere Bekannte, von der sie weiß, ist eine Arbeitskollegin und von der wissen wir, dass sie sich den heutigen Tag freigenommen hat, um einen Freund zu besuchen.«

    »Wenn ich Sie beruhigen darf: Vermisste Personen tauchen in der Regel nach spätestens 72 Stunden wieder auf. Checken Sie zunächst die Wohnung. Und ich kann Ihnen Folgendes anbieten: Sollte ich noch jemanden in meinem Büro erreichen, der autorisiert ist, sich in unser System einzuloggen, dann werde ich ihn um Überprüfung bitten. Ist das ein Angebot?«

    ›Was für eine Stimme‹, schwirrt es Claudia durch den Kopf. »Äh … «, stammelt sie. »Großartig. – Das wäre super, wenn Sie das für mich machen könnten.«

    »Ich rufe zurück, sobald ich etwas erfahren habe. Erwarten Sie sich aber nicht zu viel. Ich kann nichts versprechen. Sie sind unter dieser Nummer erreichbar?«

    »Ja, das ganze Wochenende. Ist meine Privatnummer. – Jederzeit«, entfuhr es verwundert Claudia. Sie unterbricht die Verbindung und starrt auf das Display. Was hatte sie gesagt? Das ganze Wochenende und Privatnummer und jederzeit?

    »Woher hast du seine private Telefonnummer?«, setzt Anna erstaunt nach.

    »Äh … Von einem seiner Mitarbeiter – als ich ihn diese Woche nicht erreichen konnte. Er hat gemeint, er sei in der Mittagspause. Wenn es dringend ist, wäre er auf seinem privaten Handy erreichbar. Er hat mir die Nummer gegeben.«

    »Und du hast sie sofort gespeichert … Egal, wir sollen jetzt einfach warten … «

    »… hast ihn ja gehört.«

    »Wie lange wird das dauern? … «, fragt Anna und trommelt mit den Fingern am leeren Weinglas.

    »Beruhige dich. Eines nach dem anderen. Zunächst gönnen wir uns einen Prosecco, warten auf Peters Rückruf und anschließend beratschlagen wir unsere next steps. OK?«

    »Gute Idee. Wir warten auf Peters Rückruf und betrinken uns zwischenzeitlich«, neckt Anna.

    Claudia schlägt ihrer Freundin mit flacher Hand auf den Oberschenkel. »Ich hole uns den ›Sprudel‹.«

    Sie steht auf und wackelt mit ihren Beinen, damit die eng anliegende Hose ihres dunkelgrauen, längs gestreiften Businessanzuges wieder nach unten rutscht. Anna sieht ihrer schlanken hochgewachsenen Freundin hinterher. Die hohen Absätze ließen sie noch größer erscheinen. Sie kommt aber nicht dahinter, warum sie heute verändert aussieht. Den Hosenanzug kennt sie, die Pumps auch.

    Schwungvoll kehrt Claudia mit den Proseccogläsern zurück, setzt sie auf dem Tisch ab und stellt sich breitbeinig vor ihre Freundin. Anna mustert sie von Kopf bis Fuß.

    »Weil wir vorhin von veränderter Umgebung gesprochen haben: Fällt dir nichts auf?«, fragt Claudia und hält ihre Hände unter ihren Haaransatz.

    »Natürlich, – jetzt wo du mich mit der Nase darauf stößt: Du hast eine neue Frisur … «

    Claudia dreht sich mit abgespreizten Armen um die eigene Achse.

    »… Du siehst fantastisch aus. Der Pony passt zu den rotblonden Haaren. Steht dir hervorragend. Spießt sich auch nicht mit deinem Businessoutfit. Sehr stimmig. Sag, wie groß bist du eigentlich?«

    »Einen Meter fünfundsiebzig«, antwortet Claudia.

    »Fünf Zentimeter größer als ich … «

    Claudias Telefon klingelt. Sie wirft einen Blick auf das Display, während sie Platz nimmt. »Peter«, haucht sie aufgeregt zu Anna und berührt das Hörersymbol. »Bigler«, sagt Claudia förmlich und drückt auf das Lautsprechersymbol.

    Peter erzählt, dass er Richard Tomacic, seinen Freund und Boss erreicht hat. Dieser habe alle gemeldeten Unfälle in näherer Umgebung durchgesehen, doch ohne Ergebnis. Er hat niemanden gefunden, auf den der Name oder die Beschreibung passen würde. Zu guter Letzt erwähnt der Kommissar, in einem Nebensatz, dass er jetzt bei ihr etwas gut hätte; einen Stein im Brett habe. Claudia stimmt ihm zu: »Herr Holzinger. Ich würde Sie gerne auf einen Kaffee einladen – bei nächster Gelegenheit. Ihr Stein bleibt aber nach wie vor im Brett.« Kurz darauf beendet sie das Gespräch.

    »Sag, Liebste, bist du zuweilen nicht ein wenig zu aufdringlich? Zu direkt, meine ich. Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, du hättest ›ES‹ nötig«, rügt Anna ihre Freundin.

    »Und wie ich ›ES‹ nötig habe. Ist das wirklich so augenfällig? … «

    »Ja. – Beinahe peinlich.« Anna huscht ein mitfühlendes Lächeln über die Lippen.

    »Aber zu meiner Verteidigung: Er hat eine furchtbar erotische Stimme … «

    »… und eine Frau, fünf Kinder, Schmerbauch und eine Hakennase«, stichelt Anna.

    2

    Man kann die Zeit weder anhalten, noch zurückdrehen. Vergangenes nicht ungeschehen machen. Schlechte Erlebnisse werden schneller vergessen als Gute. Stimmt das? Dramatische Ereignisse bleiben jedenfalls länger im Gedächtnis. Psychotraumatische Vorkommnisse nisten sich hingegen tief in unserem Unterbewusstsein ein. Sie können niemals aus dem persönlichen Geschichtsbuch gestrichen werden. Bestenfalls konservieren, verarbeiten oder verdrängen wir sie. Ohne vor deren unvermuteter Rückkehr sicher zu sein. Sie können aber auch für immer in uns schlummern.

    Sie vergraben sich in den hintersten Winkeln unserer Ganglien. Sie schlafen dort länger, als ein Winterschlaf sich hinzieht. Wenn sie ruhen, bemerken wir sie nicht. Und eines Tages erwachen sie, kriechen langsam, Schicht um Schicht, wie Regenwürmer bei Schlechtwetter, Richtung Oberfläche, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Es dauert Tage, Wochen, Jahre oder sogar Jahrzehnte. Wie Bomben, die während des Krieges, von Flugzeugen abgeworfen wurden und nicht zündeten. Sie liegen verborgen, in tiefen Abgründen. Sie landen in einem See, verstecken sich. Oder schlagen abgrundtiefe Löcher ins Erdreich, um ihrerseits wieder meterhoch von tonnenschwerem Gestein verschüttet zu werden. Rosten – billigem Eisen gleich – vor sich hin. Niemand weiß, ob ihre vernichtende Kraft jemals von Neuem zum Vorschein kommen wird.

    Doch eines Tages, durch welchen Umstand immer, zeigen sie ihr alles zerstörende Wesen. Verursachen kollaterale Schäden an ihrer Umgebung. Sie sind in der Lage, jedes Gestein mit Leichtigkeit beiseite zu schleudern, lassen Flutwellen entstehen, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausbreiten. Genau darin besteht die unterschätzte Gefahr. Gewöhnung an das drohende Unheil birgt enormes Risiko.

    Dörfer, die an längst erloschenen Vulkanen gebaut oder Atomkraftwerke die auf seismisch aktiven Bruchlinien errichtet sind, beweisen nur, dass die Bedrohung, derer man sich nicht vordergründig bewusst ist, als inexistent wahrgenommen wird.

    Den Regenwurm, der bei zu viel Wasser im Boden seinem Heil an der Oberfläche zustrebt, nehmen wir nicht wahr. Wir sehen ihn auch nicht im hohen Gras, wenn er längst den angestammten Lebensbereich verlassen hat. Nur wer gezielt nach ihm Ausschau hält, wird ihn finden.

    Dieser Wurm, diese Zeitbomben sind der Grund für die schleichende Veränderung unseres Wesens, unserer Stimmungslagen. Hoch und Tiefs wechseln sich in immer kürzer werdenden Abständen ab. Man kann es nicht beschreiben: Körperlich unangenehme Symptome werden dem Stress, dem man am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, zugeschrieben. Oder der letzten sportlichen Betätigung, bei der man sich anscheinend übernommen hat. Oder einem Infekt, den man übergangen hat. Viele Gründe werden gefunden und manches falsch interpretiert. Wir erstellen laienhafte Diagnosen. Erst wenn man bereit ist, in sich hineinzuhören, sich dem Unterbewusstsein zu stellen, kann man seinen Gefühlen und deren Ursachen entgegentreten. Nur dann hat man eine geringe Chance, rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sich auf die große, alles vernichtende Explosion vorzubereiten. Das Unvermeidliche nicht geschehen zu lassen.

    Die Frau, die mit ihrem Wagen auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs ist, ist sich der Gefahr, in der sie sich befindet, nicht bewusst. In ihr schlummert eine Bombe von verheerender Zerstörungskraft.

    An diesem Vormittag sind ungewöhnlich viele Fernlastzüge unterwegs, die sie im Minutentakt überholen. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie hat einzig ihr Ziel vor Augen. Die Landschaft abseits der Autobahn interessiert sie nicht. Die Fahrzeuge, die an ihr auf der Überholspur vorbeipreschen, interessieren sie nicht. Selbst die Musik in ihrem Auto beachtet sie nicht. Nichts kann ihre Stimmung zum Besseren wenden.

    Sie verheddert sich immer tiefer in ihren Erinnerungen, fragt sich, warum es ihr schlecht geht. Sie verringert noch mehr ihre Geschwindigkeit. Ihr Blickfeld verengt sich von Kilometer zu Kilometer. Sie hofft, dass es ihr am Ziel besser gehen würde.

    Das tiefe, laut warnende Tröten eines Sattelschleppers, der gerade dabei ist, sie zu überholten, reißt sie unsanft in die Realität zurück. Sie erschrickt, denn beinahe hätte sie die Ausfahrt verpasst. Ihre Hände transpirieren. Schweißnass liegen sie auf dem feinen Leder ihres Lenkrades. Sie kramt ein Tuch aus dem Handschuhfach hervor. Wischt sich ihre Handflächen trocken und legt es auf ihren Schoss, um es jederzeit in Griffweite zu haben.

    Die Bundesstraße kommt ihr heute länger vor als sonst. Ab und zu blickt sie hinunter in das Bachbett der Schwarza. Wie zwei Verliebte, eng aneinandergeschmiegt, winden sich die Straße und der große Bach durch das Tal. Einmal befindet sich das Wildwasser mit den majestätischen Schaumkronen zu ihrer linken, ein anderes Mal zu ihrer rechten Seite. ›Nur noch wenige Kilometer. Und dann rufe ich an‹, ermuntert sie sich, als sie den wohlvertrauten Wegweiser erreicht.

    Sie setzt den Blinker und biegt vom Lengthal aus in die schmale kurvenreiche Straße ein, die zum Bergsee hinaufführt. Wie oft war sie diese Landstraße in all den Jahrzehnten schon gefahren? Bereits vor dreißig Jahren quälte sie ihren uralten VW-Käfer 1302 bergwärts. Sie riecht den Wagen noch heute riechen, denn sie besitzt die Gabe, sich Gerüche einzuprägen. Sie scheinen für ewige Zeiten in ihre Gehirnschale eingebrannt zu sein. Wie in Stein gemeißelt. Und sie kann jede Duftnote jederzeit abrufen, wann immer sie es will. Sie ist in der Lage, sie auf die blumigste Art zu beschreiben. Sie erschnuppert die geringsten Nuancen. Genauso wie sie in diesem Augenblick den Mief des alten Käfers, mit seinem billigen Plastikgeruch und dem allgegenwärtigen Abgasgestank im Wageninneren, in ihrer Nase verspürt. Sie versucht, die damit verbundenen Erinnerungen zu verdrängen.

    Mit ihrem modernen Audi A1 merkt sie nur wenig von der Steigung. Leise schnurrt der Wagen der kurvigen Straße entlang, die sich seit damals stark verändert hat. Viele der engen Kurven sind durch Brückenbauten begradigt worden. Lawinengalerie reiht sich an Lawinengalerie. Die dereinst häufigen Straßensperren gehören der Vergangenheit an.

    ›Zwei Kurven noch, dann bin ich am Ziel.‹

    Sie biegt in den großen, fast leeren Parkplatz ein. Normans alten Jeep erkennt sie sofort. Daneben parken drei weitere Autos der Luxusklasse.

    »Gott sei Dank – wenig Betrieb heute«, atmet sie erleichtert auf und stellt ihren Wagen neben den anderen ab. Schaltet den Motor aus. Zieht die Handbremse an. Greift nach ihrem Tuch und reibt sich die Hände trocken. Die Anspannung weicht aus ihrem Körper. Sie nimmt sich vor, nie wieder in einem Gemütszustand – wie auf der Autobahn – ein Fahrzeug zu lenken.

    Sie wischt sich winzigen Schweißperlen von der Stirn. Mit unsäglicher Kraft und Schnelligkeit heizt die Sonne den Innenraum des kleinen Wagens auf. Sie öffnet die Tür, um frische Luft hereinzulassen. Sie atmet kräftig ein, saugt die kühle Brise tief in ihre Lunge, und lässt sie mit einem lang gezogenen Seufzen wieder entweichen.

    Kurz überlegt sie, ob sie ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holen sollte. Sie steigt aus und merkt, wie sehr sie die Fahrt körperlich angestrengt hat. Sie ist müde, sie ist durstig. Ungemein durstig. Ihr Gepäck lässt sie im Wagen und trottet zum heimeligen Hotel, das zwischen dem idyllischen See und dem Parkplatz liegt.

    Jedes Mal, wenn sie den alten Steinbau mit seiner großen, einladenden Terrasse sieht, muss sie an das Stanley Hotel in Estes Park, in Colorado denken, in dem der Film ›Shining‹ mit Jack Nicholson gedreht worden ist. Der ›Berghof‹ hat aber bei Weitem nicht die endlosen Ausmaße. Außerdem liegt er an einem malerischen See, ist viel kleiner und strahlt mehr Gemütlichkeit aus. Seit dreißig Jahren besucht sie bereits dieses Juwel hier in den Bergen. Der Efeu, der sich mit der Zeit an den Wänden emporgearbeitet hat, scheint es vor Wind und Wetter zu schützen, und alle, die sich in den Gemäuern aufhalten.

    Der Torbogen am Eingang, vor den Treppen, ist ebenfalls dicht mit Efeu überwuchert. Daneben lehnt eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben steht: »Herzlich willkommen im Berghof. Heute fangfrische Forellen« Sie liest, lächelt müde und nickt.

    Die Frau schleppt sich die Stufen hinauf zur

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