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Ein einziger Faden
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eBook325 Seiten4 Stunden

Ein einziger Faden

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Über dieses E-Book

"Ein einziger Faden" spielt in einer nahen Zukunft, in der nichts so ist, wie die Hauptcharaktere Pina und Iggy es kannten. Während ein Teil der Menschen von der Außenwelt abgeschottet in einer komplett digitalisierten Welt lebt, versucht der andere, sich in einer traumatisierten post-pandemischen Gesellschaft zurechtzufinden. Als beide Welten aufeinandertreffen, kommt eine grausame Verschwörung ans Licht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Juni 2021
ISBN9783347296497
Ein einziger Faden

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    Buchvorschau

    Ein einziger Faden - Adina Koch

    Teil 1

    Kapitel 1

    Pina schlägt mit der flachen Hand zweimal hintereinander auf ihren Schreibtisch aus hellem Erlenholz. Das krachende Geräusch, das dabei entsteht, widerspricht der Haptik unter ihren eisig kalten Fingern. Das Holz fühlt sich samtig weich an und ist gleichzeitig unzerstörbar hart. Der bläulich flimmernde Bildschirm, der perfekt auf ihre Augen- und Sitzposition eingestellt ist, verschwindet mit den Schlägen von einer Sekunde auf die andere ins Nichts. An seiner Stelle erscheint ein gerahmtes Foto, auf dem ein glückliches Paar abgebildet ist, das in die Kamera lächelt. Die beiden halten sich fest an den Händen und spazieren an einem herrlichen Sommertag durch einen uralten Olivenhain. Der strahlend blaue Himmel und das Silbergrün der Blätter um sie herum sehen so real aus und bilden einen so krassen Kontrast zueinander, dass es Pina in den Augen schmerzt. Sie kneift ihre Lider zusammen, öffnet sie weit, kneift sie wieder zusammen und wirft einen letzten Blick auf das Foto, das ihr alles bedeutet. Sie neigt leicht ihren Kopf zur Seite und nickte den beiden lächelnd zu. Dann fasst sie die wollene Strickjacke, die sie über der eleganten, weißen Bluse trägt, mit beiden Händen an den Knopfleisten und zieht diese fest um sich herum. Sie fröstelt.

    Einen Augenblick später steht sie von ihrem Schreibtisch auf, verlässt den ansonsten spärlich eingerichteten Raum und begibt sich über den Flur in ihre geräumige Küche. Dort glänzen die Schrankfronten, Armaturen und die Spüle klinisch sauber, nichts davon scheint sie regelmäßig zu benutzen. Die Chromteile blitzen so blank, dass sie sich in ihnen spiegelt. Sie erkennt ihr dunkles Haar, das wie immer zu einem strengen Zopf gebunden ist, der auf ihrem Oberkopf bei jeder Bewegung leicht hüpft. Ihre braunen Augen fixieren den nagelneuen Imaterialisator. Ein grünes Licht blinkt oben in einer Reihe von Anzeigen. „Ein gutes Zeichen", murmelt Pina und geht zielstrebig auf das Gerät zu. Sie tippt eine Zahlenfolge ein und die Tür öffnet sich lautlos. Im Imaterialisator steht – wie bestellt – ein Teller mit einem dampfenden Nudelgericht und passendem Besteck dazu. Sowie ein extra dünn geschliffenes Glas und eine Flasche Xinomavro, bereits entkorkt und auf die perfekte Trinktemperatur gekühlt. Sie stellt die Nudeln auf die Anrichte und nimmt das Glas aus dem Imaterialisator. Sie gießt sich einen großzügigen Schluck des griechischen Rotweins ein. Leicht schwenkt sie das Glas, dessen Stiel so dünn ist, dass er zwischen ihren Fingerkuppen verschwindet. Sie riecht an der dunkelroten Flüssigkeit und kostet ein wenig davon. Woher ihre Vorliebe für genau diesen Wein stammt, kann sie sich nicht erklären. Doch seine herausfordernde Säure belebt ihren müden Geist jedes Mal aufs Neue. Mit dem Weinglas in der Hand macht sie sich auf den Weg in ihr Wohnzimmer und stellt sich an das imposante Panoramafenster. Davor fällt ein üppig bewachsenes Tal steil ab. Es wechselt sich mit kleineren Hügeln ab, auf denen hin und wieder rotgedeckte Häuschen stehen. Etwas weiter in der Ferne erhebt sich eine schroffe Felsformation, hinter der die Sonne langsam untergeht. Zwischen sich und den grauen Felsen entdeckt Pina das ihr vertraute Glitzern in Silbergrün. Die letzten Sonnenstrahlen und der leichte Wind sorgen für diesen Effekt, für den sie jeden Abend aufs Neue ihren Schreibtisch verlässt. In dem Tal unter ihrem Fenster wachsen fast eine Million uralter Olivenbäume. Zu weit entfernt, um jeden von ihnen als einzelne Pflanzen wahrnehmen zu können. Nah genug, um das Glitzern zu bestaunen. Vor ihren Augen verschmelzen die Bäume zu einem Meer aus wogendem Grün. Wie gerne wäre sie jetzt genau dort unten.

    „Pina, in zwei Minuten verliert die Pasta ihre optimale Esstemperatur." Die Stimme, die im Hintergrund ertönt, lässt sie zusammenzucken. Obwohl ihr blecherner Klang sie jetzt bereits seit einer Weile begleitet, fragt sich Pina, ob sie sich je daran gewöhnen wird. Sie seufzt einmal tief, schüttelt den leidigen Gedanken ab und folgt dem Rat. Zurück in der Küche setzt sie sich an den runden Esstisch mit dem kunstvoll gedrechselten Fuß, an dem zwei passgenau designte Stühle stehen. Ohne großen Appetit schlingt sie ihre Nudeln hinunter. In der Sekunde saust ein leises Zischen an ihrem Ohr vorbei, es kündigt einen Videoanruf an. Auf dem Tisch, gleich neben Pinas Teller, erscheint ein Bildschirm, der in seiner Größe perfekt auf das Platzangebot angepasst ist.

    „Du erhältst einen Videoanruf von Mary. Soll ich diesen für dich annehmen?"

    Pina würgt die Nudeln hinunter, die sie sich gerade in den Mund geschoben hatte. Dabei verschluckt sie sich und antwortet, während ein Hustenanfall ihren zierlichen Körper schüttelt.

    „Ja, bitte annehmen."

    Es zischt erneut. Und schon erscheint Marys rundes, liebes Gesicht in dem leuchtenden Rechteck neben Pinas Teller. Ihre Freundin winkt wie verrückt in die Kamera und plappert sofort drauflos. Das erheitert Pina und gibt ihr gleichzeitig die Möglichkeit, zu Atem zu kommen und ihre Mahlzeit zu beenden.

    „Hast du von dieser neuen Möglichkeit gehört? Bestimmt hast du schon davon gehört! Ich bin ja so aufgeregt. Du hast ja keine Ahnung, wie aufgeregt. Kannst du dir das vorstellen? Ich kann wieder arbeiten gehen. Sie wollen diese verrückte Technologie tatsächlich dafür nutzen, dass ich meinen Beruf wieder ausüben kann. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin so überglücklich!"

    „Mary! Pina verkneift sich ihr Lachen nicht länger und prustet los. „Mary! Stopp! Ich kann dir nicht folgen. Hole mal Luft. Was ist neu? Wie kann es sein, dass du wieder arbeiten gehen kannst?

    „Oh, entschuldige, ich dachte, du wüsstest was. Dein Vater wüsste vielleicht was? Du bist doch immer die erste, die alles Neue erfährt."

    „Ich habe nichts von meinem Vater darüber gehört. Jetzt schieß schon los, was ist das für eine verrückte Technologie?"

    „Mit ihr kann man endlich wieder Menschen treffen. Pina, nach all den Jahren!"

    „Wie soll das denn möglich sein?", fragt Pina, die die Skepsis in ihrer Stimme nicht unterdrücken kann.

    „Na ja, nicht in echt natürlich. Aber man kann digitale Räume betreten. Frag mich nicht, wie das funktionieren soll. Aber ich habe es so verstanden. Es öffnet sich eine Tür, ähnlich wie die Computer-Holos erscheinen, und durch diese Tür kann man dann einen anderen Raum betreten. Und jemand anderes kann das von seiner Seite aus eben auch. Dann begegnet man sich in einem Raum. Herrgott, ich weiß es doch auch nicht besser!"

    „Dein Ernst?!?"

    „Ja! Das Grandiose ist, dass die Kinder ebenfalls durch diese Türen treten können, die in ihrem Zuhause erscheinen. Und ich eben auch. Und dann können wir alle in diesem digitalen Kindergarten zusammen sein. Ich glaube, es funktioniert ein bisschen wie diese Brillen, die man aufsetzt und zack ist man am Strand, wandert in den Bergen oder fliegt durchs Weltall. Du weißt schon, diese Brillen, die es früher einmal gegeben hat. Damals, bevor dieser Wahnsinn hier seinen Lauf nahm."

    „Aber das hört sich ja fantastisch an! Dann kannst du wirklich wieder mit deinen Kindern arbeiten. Das hast du dir so sehr gewünscht."

    „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin. Und stell dir vor, wenn das gut funktioniert, dann können wir das vielleicht auch privat nutzen. Dann sehen wir uns endlich alle wieder. Wenn es klappt, dann öffnen sie die Technologie ganz bestimmt für alle Leute und alle möglichen Gelegenheiten. Dann können wir uns bei mir oder bei dir zum Essen treffen oder zum Quatschen. Pina, das wäre der helle Wahnsinn!"

    Pina bemüht sich darum, ihrer aufgeregten Freundin zu folgen. Gleichzeitig verschlägt es ihr fast die Sprache und eine einzelne Träne der Erleichterung rinnt über ihre Wange. Das Leben und der Alltag haben sich besonders in den vergangenen vier Jahren für sie alle radikal geändert. Aber es liegt auch so viel Positives und Hoffnungsvolles in all den Neuerungen, die fast monatlich verkündet werden. Ein schier unglaublicher Fortschritt in Technik und Digitalisierung rast wie eine Tsunamiwelle über sie hinweg. Und nun bekommen sie wohl wirklich die Chance, sich bald wieder miteinander zu treffen. Sich bald wieder wie in einer längst untergegangen geglaubten Normalität zu bewegen. Die Erinnerungen an ihr Leben davor verblassen von Tag zu Tag mehr. Sie sind wie alte Polaroidfotos aus der Jugend ihres Vaters, die er in einer kleinen Pappkiste aufbewahrt. Während sie an den Rändern verschwimmen, sich in ein nebulöses Nichts auflösen, bleiben ein paar hartnäckige bunte Flecke darauf erhalten. Sie sind wie Pinas Sehnsüchte, ihre tiefen Emotionen und Hoffnungen, die immer da sind und sich niemals gänzlich auslöschen lassen. Diese bunten Flecken erinnern sie daran, dass ihr Leben einstmals völlig anders verlaufen war. Dass es nicht nur aus Arbeit, Essen und Schlaf, sondern ebenso aus Lachen, festen Umarmungen und zärtlichen Berührungen bestand. Die beiden Freundinnen schauen sich durch die Kamera hindurch in die Augen, so gut es eben geht. Dann stoßen sie virtuell mit ihren Gläsern auf diese aufregende Nachricht an, die sie beide in Hochstimmung versetzt. Schweigend lassen sie die nächsten Minuten an sich vorüberziehen, trinken ein paar Schlucke von ihrem Wein. Aber mit jedem Moment wird aus dem zarten Lächeln in Marys Gesicht ein breiteres Grinsen. Sie kann nie lange still sein oder Trübsal blasen. Und so plappern sie bald wieder, lachen über eine Serie, die sie auf einem der beiden verbliebenen TV-Kanäle gesehen haben. Sie diskutieren sich die Köpfe heiß über ihre Freundin Hannah, die erneut hofft, schwanger zu sein. Mary erzählt etwas von ihrem Mann Fritz, doch Pina hört nur noch mit einem halben Ohr zu. In Gedanken sieht sie alle ihre Lieben um einen großen Tisch versammelt, gemeinsam schlemmen und sich dabei in die Gesichter schauen. Es würde einfach nur fantastisch werden!

    „Mary, ich glaube, ich muss bald Schluss für heute machen. Mir fallen schon die Augen zu. Den ganzen Tag vor dem Bildschirm… Und morgen wird es bei all meinen Terminen nicht besser. Sei mir nicht böse!"

    „Ach was! Geh schlafen, ruh dich aus. Wir sprechen uns die Tage wieder und dann erzähle ich dir, wie es mit dem digitalen Kindergarten läuft. Ob alles gut geklappt hat!"

    „Ja, mach das unbedingt. Gute Nacht, Mary." Pina klatscht zweimal in ihre Hände, das Gesicht ihrer Freundin verschwindet und mit ihm der kleine, leuchtende Bildschirm neben ihrem Teller. Inzwischen ist es finster in ihrer Küche geworden.

    „Soll ich das Licht für dich anschalten?", fragt die Stimme aus dem Hintergrund.

    „Nein, das ist nicht nötig. Ich gehe gleich ins Bett schlafen, antwortet Pina ihr ins Dunkel hinein. Manchmal vergisst sie, dass der Stimme ein simples „Ja oder „Nein" ausreicht, dass sie nicht nach einer Erklärung verlangt. Manchmal erscheint sie ihr wie ein neuer Freund, an den sie sich noch immer nicht gewöhnt hat, wie ein Partner, mit dem sie sich das Appartement teilt. Pina steht auf, stellt den leergegessenen Teller, das Weinglas und die halbvolle Flasche Xinomavro in den Imaterialisator, tippt auf dem beleuchteten Tastenfeld herum und verschließt das Gerät. Daraufhin geht sie hinüber ins Badezimmer und startet mit ihrer Abendroutine. Sie zieht ihre Kleider aus, putzt sich die Zähne und öffnet im Anschluss das Schränkchen, in dem schon ihre tägliche Medikamentenration für sie bereitliegt. Sie nimmt die Pillen in der vorgeschriebenen Reihenfolge und schaut sich nach ihrer Bodylotion um, die nicht an ihrem Platz steht. Kurz darauf findet sie die Tube versteckt hinter dem Föhn, wo sie sie am Morgen vergessen hat. Pina drückt etwas von der samtigen Lotion heraus, verteilt sie großzügig auf den Beinen, ihrem Bauch und den Armen. Sie massiert sie gründlich mit kreisenden Bewegungen ein, bis nichts mehr von dem hellen Film auf ihrer Haut zu erkennen ist. Sie streichelt sich ein weiteres Mal sanft über ihren Hals und die Brüste. Sie schlingt ihre Arme um sich, schließt die Augen und genießt für einen kurzen Augenblick ihre eigene Wärme. Dann steigt sie in ihren seidenweichen Pyjama, der sich wie eine zärtliche Umarmung anfühlt. Im Schlafzimmer lässt sie die Stimme gar nicht erst das Oberlicht einschalten. Sie findet ihr Bett blind, schlüpft unter die schwere Decke und fällt auf der Stelle in einen traumlosen, tiefen Schlaf, der ihr die Kraft und die Energie für den kommenden Tag bringen soll.

    Kapitel 2

    „Deine digitale Silvesterparty startet in 30 Minuten, tönt die Pina immer vertrauter werdende Stimme aus dem Lautsprecher. Der ist so perfekt in die Decke ihres Appartements integriert, dass sie seine Lage nicht ausmachen kann. Sie streckt Arme und Beine unmotiviert in die Höhe und schwingt sich mit einem Ruck von ihrem bequemen Sofa mit den tiefen Polstern empor. Wieder ist ein Jahr vergangen, ist es das vierte oder fünfte seit dem großen Unglück? Zwar erinnert sie sich genau, aber ihre Tage fließen ineinander. Einer gleicht dem anderen, eine Woche der anderen, ein Jahr ist inzwischen exakt wie das zuvor. Arbeit, Essen, Yoga, Schlaf – und von vorne. Einzig die Momente am Fenster mit dem vertrauten Ausblick geben ihr Halt. „Irgendwann!, sagt sie laut vor sich hin. „Irgendwann werde ich dort unten an diesem Ort sein." Aber nicht heute. Heute wird gefeiert. Das kommende Jahr und eine Errungenschaft, auf die sie seit Wochen gewartet hat. Endlich ist der Tag gekommen, an dem es zum ersten Mal allen erlaubt ist, die Technologie auszutesten, über die sie einst mit ihrer Freundin Mary sprach. Diese neue Technologie, die es ihnen ermöglicht, sich zu begegnen. Seit Tagen wird sie von der Firma in allen Nachrichtensendungen als die bedeutendste Erfindung seit Inkrafttreten der so wichtigen Isolationsmaßnahmen angepriesen. Und diese soll mit alle Bürgern und Bürgerinnen zum Jahreswechsel gebührend gefeiert werden.

    Pina lockert ihre verspannten Schultern, reibt sich die Müdigkeit des verplemperten Nachmittags aus den Augen. Einerseits ist sie neugierig auf diese bahnbrechende Erfindung, andererseits steht ihr der Sinn kein Stück nach einer Silvesterparty. Aber was unternimmt man sonst am letzten Abend des Jahres 2026? In ihrem Schlafzimmer dreht sich der Teil ihres Kleiderschrankes, in dem die festliche Garderobe hängt, wie eine Drehtür. Er erinnert sie an die Tür in dem Gebäude, in dem sie früher gearbeitet hat. Erinnerungsfetzen von Diskussionen mit Kollegen, dreckigen Kaffeetassen in der Spülküche und einem großen Büro voller plappernder Menschen tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Flashbacks, die aber sofort in ein undefinierbares Nichts zusammenfallen und ihr lediglich wie ein Film erscheinen, den sie einmal gesehen hat. Als sie vor dem Schrank anhält, stellt dieser seine Drehungen ein und präsentiert ihr ein smaragdgrünes Kleid, das von feinen Silberfäden durchwirkt ist. Im richtigen Licht würden die zauberhaft schimmern. Pina seufzt. Das Kleid und seine Farbe gefallen ihr. Und wenn der Schrank es vorschlägt, dann sollte sie es wohl auch anziehen. Sie schlüpft aus dem bequemen Einteiler, dessen Samtstoff so angenehm wärmt und ihr stets eine wohlige Umarmung schenkt. Sie betrachtet sich in dem großen Spiegel der Schranktür, lässt den Blick von oben nach unten über ihren Körper gleiten. Ja, da ist sie noch, die Pina von früher. Aber die letzten Jahre haben ihr Äußeres verändert, selbst in den eigenen Augen wirkt sie ungelenk, ihre Haut ist matt und blass. Aber das ist ein geringer Preis! Sie nimmt das smaragdgrüne Kleid von dem mit Stoff bezogenen Bügel. Es passt perfekt, endet exakt zwei Zentimeter über dem Knie und der spitze Ausschnitt lässt nur so viel vom Ansatz ihrer Brüste erkennen, wie sie es sich selbst ohne Scham gestattet. Ohne Vorankündigung verändert sich das Licht im Raum, es wird schummrig. Der Kronleuchter über ihrem Kopf verwandelt sich in eine metallische, um die eigene Achse rotierende Kugel, die Lichtpunkte und Spiegelungen an Decke und Wände wirft. In der Spiegeltür erkennt Pina den Glitzereffekt der hauchdünnen Silberfäden, bestaunt ihn aus weit aufgerissenen Augen. Sie lächelt müde über ihre eigene Begeisterungsfähigkeit. Die Kleiderwahl ihres Schrankes ist perfekt, so wie sie es gewohnt ist. Sie begibt sich in ihr Bad. Dort frischt sie ihr festliches Make-up auf, das sie früher am Nachmittag bereits sorgfältig aufgetragen hat. Sie nahm sich extra viel Zeit dafür, denn inzwischen ist es eine ungewohnte Übung, mit Stiften, Pinseln und Quasten zu hantieren. Nur selten macht sie sich diese Mühe noch. Zum Abschluss zieht Pina an dem großen, festen Gummi, der ihr Haar zusammenhält. Ihr üblicher Zopf löst sich auf und ein Schwall dunkler Wellen ergießt sich über ihren schmalen Schultern.

    Vom Wohnzimmer her vernimmt sie leise Musik, die langsam anschwillt. Die sie lockt und auffordert, zu der Party zu gehen. Im Laufen zieht sie sich die Pumps über ihre nackten Füße. „Autsch", flucht sie. Auch an diese unbequemen Dinger ist sie inzwischen nicht mehr gewöhnt. Die spitzen, hohen Schuhe fühlen sich wie Fremdkörper an, sie quetschen ihre Zehen in eine Position, aus der es kein Entrinnen gibt. Sie wischt sich über die Handflächen und an der Wohnzimmerwand erscheint zum ersten Mal die versprochene Tür. Ihr Rahmen wird von Tausenden Lichtern umsäumt. Funken sprühen und die Wand wirkt plötzlich instabil. Alles scheint zu schwanken, sich in leichten Wellen zu bewegen. Als sie auf den hellen Rahmen zugeht, verschwindet die Mauer und ein Durchgang öffnet sich. Die Musik wird augenblicklich lauter, fröhlich plappernde Stimmen sind dahinter zu vernehmen, Gläser klirren. Von der Decke hängen hunderte der metallischen Kugeln herab, von denen eine gerade noch Pinas Schlafzimmer erstrahlen ließ. Bunte Lichter zucken durch einen riesigen und festlich geschmückten Raum. Sie blinzelt und schaut sich hilflos um, sie sucht nach einem Orientierungspunkt auf der anderen Seite. Vorsichtig streckt sie ihren Arm aus, legt die Hand zaghaft und flach auf eine heller flimmernde Stelle. Das vertraute, leise Zischen erklingt und zeigt an, dass das System ihren Handabdruck erkennt und akzeptiert. Die Luft um sie herum ist augenblicklich wie elektrisiert, der gesamte Raum wird in immer heftigere Schwingungen versetzt. Sie setzt vorsichtig einen Fuß über die imaginäre Schwelle. Das ist sie also! Das ist die neue Möglichkeit, Menschen zu treffen, wieder Begegnungen erleben zu dürfen. Sie zögert kurz, bevor sie ihren zweiten Fuß folgen lässt. Ganz ohne jeden Widerstand betritt sie den Saal, der bereits mit fröhlichen Feiernden angefüllt ist. Unter ihnen erkennt sie einige ihrer Freunde, die ihr zur Begrüßung aufgeregt winken.

    Kapitel 3

    „Begeben Sie sich zügig durch die Schleuse und gehen Sie anschießend direkt an ihren Arbeitsplatz! Die Stimme aus dem Lautsprecher, die tagein und tagaus den gleichen Satz wiederholt, klingt kratzig und bestimmend. Sie hört sich ein bisschen so an, als sei sie es endgültig leid, immer dieselben 15 Wörter aufzusagen. Der komplette Ablauf ist wie am Tag zuvor und an dem davor, denkt sich Iggy, der in einer ordentlichen Reihe mit seinen Kollegen vor der Schleuse ansteht. Er hüpft von einem Bein auf das andere und zählt die Männer, die vor ihm auf Einlass warten. Es sind fünf. Ein dicker Typ hinter ihm schnauft: „Du hast es ja eilig, an deine Arbeit zu kommen… Iggy ignoriert ihn. Im Ignorieren ist er in den letzten Jahren ein wahrer Meister geworden. Was geht ihn der Mist von anderen Leuten an? Als er endlich an der Reihe ist, vernimmt er das vertraute „Pfff, das den herabrieselnden Desinfektionsnebel begleitet. Über dem Schleusenausgang, der ihn in die Markthalle führt, blinkt eine Ziffernfolge in grellem Grün. Ebenso vertraut. Seine Körpertemperatur liegt bei exakt 36,47 Grad Celsius. Sie schwankt bei den täglichen Kontrollen kaum. Weder damals, als das Virus zum zweiten Mal unter ihnen wütete, noch heute. Seit er hier arbeitet, ist es nicht einmal vorgekommen, dass seine Temperatur zu hoch war und man ihm den Zutritt zu seinem Platz verweigert hätte. Der liegt im hinteren Teil der riesigen, uralten Markthalle, bei der inzwischen an allen Ecken und Enden Lack oder Beton abbröckelt. Es ist ein respekteinflößendes Gebäude, das er schon als kleiner Junge kannte. Heute scheint es ihm so vertraut, dass er sich manchmal fragt, ob er je woanders gewesen ist. Die Markthalle und der imposante Tisch aus Stahl gehören zu seinem Leben, dass sie wie Freunde für ihn geworden sind. Die dunkel angelaufenen Eisenstreben, die die schwere Decke halten, und die trüben Fenster, die von Gittern ebenfalls aus Eisen durchzogen sind, haben sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. Früher einmal war es jedem Menschen erlaubt, hierher zu kommen. Es wurde Ware angeboten, um Beträge gefeilscht, laut geflucht und am Ende doch fast alles verkauft. Es wurde viel gelacht, gepfiffen und gerufen. Jetzt ist es meist still. Denn neben den Arbeitern verschiedener Gewerke, die durch die Schleuse eingelassen werden, ist es nur wenigen Leuten gestattet, die Markthalle zu betreten. Die Lebensmittel werden auch nach dem Ende der zweiten Pandemie weiterhin hier vorsortiert, verarbeitet und direkt an ihren Bestimmungsort geschickt. Niemand muss sich mehr die Mühe machen, um einen guten Preis für Fleisch, Obst oder Gemüse zu feilschen. Niemand bekommt die Gelegenheit, sich die Rosinen aus dem Angebot der Händler herauszupicken. „Die einen erhalten immer automatisch die Rosinen, die anderen den Rest, der für sie übrig bleibt, grummelt Iggy in seinen dunklen Bart, der ihm in den letzten Tagen besonders wild von seinem kantigen Gesicht absteht.

    Seine Arbeit als Metzger geht ihm so mühelos von der Hand, dass seine Gedanken von alleine das Weite suchen. Sie verlassen die Markthalle und gehen auf eine Zeitreise. Sie springen zurück in längst vergangene Jahre, in denen seine Zukunft rosig aussah und ihm das Leben unbeschwert und leicht erschien. Er sieht sein jüngeres Ich, wie es nach der Schule durch die Straßen streift, wie es sich auf sein Fahrrad schwingt und an den See außerhalb der Stadt fährt. Wie es von Freunden begrüßt wird, die mehr als ein kühles Bier bereithalten. Er sieht, wie es sich nach dem Mädchen mit den Sommersprossen umschaut und sich ihm vorsichtig nähert. Wie es die Metzgerlehre beginnt, zum ersten Mal das scharfe Messer an einen Tierkörper ansetzt und erfolglos versucht, das Zittern der Hand vor seinem Meister zu verbergen. Und er erinnert sich, wie es schließlich mit einem hochroten Kopf auf einer Bühne steht, um die Urkunde als Jahrgangsbester entgegenzunehmen, mit der sein selbstbestimmtes Leben beginnen sollte.

    Die Erinnerungen lassen ihn in getrübter Stimmung zurück in der Gegenwart aufschlagen. „Was soll’s, es ist halt alles anders gekommen", grummelt er erneut. Eigentlich will er sich nicht zu sehr beklagen, das machen die anderen um ihn herum schon genug. Es hätte ihn deutlich schlimmer treffen können – damals.

    Kaum hatte Iggy seine Lehre abgeschlossen, wurde die Welt von einem bis dahin unbekannten, tödlichen Virus befallen. Es drängte die Menschen über zwei lange Jahre ins Private, denn die um Machterhalt rangelnden Politiker fanden keine Lösung, um sie zu beschützen. Ein stetes Hin und Her der Entscheidungen, Regeln und Maßnahmen verunsicherte Jung und Alt. Zahlreiche Todesfälle verstärkten bei einigen den Drang, sich voneinander fernzuhalten. Andere versammelten sich auf Straßen und Plätzen, um lautstark gegen alles zu demonstrieren. Doch je mehr sie sich radikalisierten, desto weniger Anklang fanden ihre Forderungen bei denen, die sich an Abstand, Masken über Mund und Nase und ähnliche Vorschriften hielten. Viele seiner alten Schulfreunde verloren in diesen beiden Jahren ihre Jobs, noch bevor sie richtig damit begonnen hatten. Die kleinen Unternehmen, Lokale oder Geschäfte, die sie zuvor ausgebildet hatten, gingen pleite, eines nach dem anderen. Er selbst konnte sich glücklich schätzen, denn sein Handwerk wurde weiterhin gebraucht. Doch das allgemeine Wehklagen wurde immer lauter, einen Plan aus der Misere gab es nie. Und so blieb die Bevölkerung nach dieser Pandemie tief gespalten und ängstlich zurück.

    Heute kommt Iggy diese Zeit wie ein Witz vor. Wie ein kühler Abendhauch, der vor dem Frost echter Winternächte warnt. Die Pharmazie sprang damals dort ein, wo die Politik versagte. Ein Impfstoff wurde schnell entwickelt – und alles schien nach und nach in gewohnten Bahnen zu laufen. Das war jetzt etwa fünf Jahre her. Kaum glaubten die Menschen, sie seien noch einmal mit dem Schrecken davongekommen, da überrollte eine zweite, viel heftigere Pandemie die Welt. Überall starben die Menschen wie die Fliegen. Das neue Virus mutierte so schnell zu immer tödlicheren Varianten, dass die Forscher, die gerade erst die Rettung gewesen waren, mit ihrer Arbeit nicht hinterherkamen. Ihre Mittel wurden über Nacht wertlos.

    Bei dieser zweiten Pandemie zog man darum auf ungewöhnliche Weise die Notbremse. Die Regierung, die keinerlei Rückhalt mehr spürte, kapitulierte vor dem Virus. Sie übergab alle Geschäfte an die Firma. Die versprach, in absehbarer Zeit einen ganz neuen Impfstoff herzustellen. Und bis es so weit war, nicht nur umfassende Schutzmaßnahmen zu erlassen, sondern

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