Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Lächeln der Toten
Das Lächeln der Toten
Das Lächeln der Toten
eBook302 Seiten3 Stunden

Das Lächeln der Toten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Eine junge Studentin wird erschossen, ihre Mitbewohnerin entdeckt die Leiche in der gemeinsamen Wohnung. Bei der Besichtigung des Tatorts staunt Kommissar Hardenberg: Die Tote lächelt.
Damit nicht genug, am Tag darauf findet eine Spaziergängerin die Leiche eines Rentners, ermordet auf dieselbe Art und Weise – und auch er lächelt. Eine Verbindung zwischen beiden Toten scheint es zunächst nicht zu geben und so rätselt Hardenberg, ob und wenn ja, wie die beiden Morde zusammenhängen.
Die kriminaltechnische Untersuchung bestätigt: Das tödliche Projektil kam in beiden Fällen aus derselben Waffe. Doch erst der Besuch eines alten Freundes lenkt seine Blicke in die richtige Richtung. Die Hilfe der cleveren jungen Hauptzeugin und ihrer seltsamen Familie beschleunigt zwar die Aufklärung, bringt jedoch auch neue Probleme. Es geht um noch anderes als die Aufklärung eines Doppelmords, das wird ihm vage bewusst. Doch um was und wie viel mehr, erkennt er in Teilen zu spät.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum4. Juni 2021
ISBN9783754129296
Das Lächeln der Toten
Autor

Jörg Riese

Er lebt mit seiner Ehefrau und seinen drei erwachsenen Kindern in Düsseldorf. Der Diplom-Designer war lange Zeit als Illustrator und Art-Director tätig. Jetzt arbeitet er im öffentlichen Dienst. Mit dem Schreiben hatte er schon während des Studiums begonnen und bis heute nicht damit aufgehört. Am Anfang war das was er aufs Papier gebracht hat, nur für die eigene Schublade. Später hat er angefangen, seine Werke mit der Welt zu teilen. Eine Lebenskrise ereignete sich und das Schreiben wurde zur Therapie. Erst unter dem Pseudonym »Jan Pieter Reus« in der »Noir Anthologie 1« (Deutscher Phantastikpreis 2019), dann eine weitere Kurzgeschichte, eine Coming-of-age-Story, die die Grundlage für einige wichtige Charaktere der jetzigen Geschichte bildet.

Ähnlich wie Das Lächeln der Toten

Ähnliche E-Books

Darstellende Künste für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das Lächeln der Toten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Lächeln der Toten - Jörg Riese

    Kapitel 1

    Sie schläft noch und ist bereits wach. Die Brücke ist zur Hälfte überquert. Beide Seiten sind in Sichtweite, doch die Richtungsentscheidung ist längst gefällt. Das Bewusstsein scheint immer das Letzte zu sein, das etwas erfährt. Das hier ist die Duty-Free-Zone des Verstandes. Bilder, Ideen, Begriffe in Sondergrößen, erklärungsfrei [ohne Plausibilitätsprüfung]. Einmal durchquert, gelten nur noch Erfahrung und Tatsachen als Dinge von Bedeutung, verknüpft durch die Regeln der Logik. Und Vorstellungskraft. Fantasie. Finden, Erkennen, Bezug herstellen. Dann prüfen. Es ist nicht dasselbe wie träumen. Oder vielleicht doch? Manchmal nimmt man ja etwas mit.

    Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Entscheidung gefällt. Der Verzicht auf Hoffnung hat ihr neue Kraft gegeben. Platz geschaffen für etwas anderes. Klarheit. Sinn. Dort, wo sie jetzt ist, ist Hoffnung nichts als Ballast. Alles ist nun geregelt. Sie fühlt sich leicht.

    Die undeutliche Erinnerung an den letzten Traum schwindet gerade. Da waren die Menschen gewesen, die sie liebte, nah bei ihr. Ihre Eltern, Noemi, Finn und Colin. Weiter entfernt standen andere, die Gesichter bereits undeutlich. Dieser Ort …

    Sie stand, doch sie wusste nicht, worauf. Licht erfüllte, was immer das hier auch war, es musste eine Quelle geben, aber sie erkannte nicht, wo. Es war ein Raum, es musste einer sein, und doch war es keiner. Da war kein Boden. Keine Decke, keine Wände, keine Konturen, nichts, woran sie sich hätte orientieren können. Ihr Körper warf keinen Schatten. Was ihr seltsam vorkam, war, dass ihr nichts davon seltsam vorkam. Sie fühlte sich nicht unsicher, schwindelig, unwohl oder fremd. Alles war … …, ja, es war einfach.

    Doch da war noch etwas. Etwas wirklich Fremdartiges. Etwas Namenloses. Und dieses Namenlose war unabwendbar, gleichgültig, grausam. Dieser grenzenlose Raum barg einen Ort, der noch verlassener war als alles andere. Ein Nichts innerhalb der Leere. Dieser Ort zog sie an, Sie ging darauf zu, allein, niemand schloss sich ihr an. Sie erwacht ganz und vergisst sogleich, was sie eben erst geträumt hat.

    Als sie die Augen öffnet, steht die Sonne bereits seit Stunden am Himmel. Das Zimmer ist nicht sehr groß. Das Bett steht gerade so weit vom Fenster entfernt, dass ein Ablagetisch dort Platz findet. Auf dem Tisch eine Leselampe, ein Wecker, ein Foto ihrer Eltern, eines von Finn, eine schmale Vase mit einer einsamen weißen Freesie. Daneben das Smartphone. Das Nasenspray: wichtig! In der Schublade bewahrt sie allerlei kleinere Dinge auf: Ohrstöpsel, eine Schlafmaske, eine angebrochene Tafel Schokolade, Medikamente, die Pille. Auf der Ablage darunter liegen die gerade aktuellen Bücher, ein Notizbuch, ein Stift, einige Magazine. Etwa einen Meter über dem Boden beginnt die Dachschräge, das Fenster befindet sich in einer Gaube. Am Abend zuvor, als sie zu Bett gegangen war, hat sie die Jalousie nicht ganz herabgelassen. Die Sonne dringt durch einen Spalt zwischen Jalousie und Fensterbrett und bildet eine schmale Gasse aus bernsteinfarbenem Licht auf den Dielen. Sie schlägt die Decke zurück und setzt sich auf. Dann schwingt sie die Beine über die Bettkante und landet mit den nackten Sohlen auf eben jenem schmalen Streifen, der vom einfallenden Licht bereits erwärmt worden ist. Sie glaubt an keine höhere Macht, nicht an Schicksal oder Bestimmung. Nicht einmal daran, dass alles einen Sinn hat. Doch jetzt, an diesem Morgen, in diesem Augenblick, nach all dem, was sie erfahren hat, den Dingen, die geschehen waren, und dem Beschluss, den sie gefasst hat, entdeckt sie in dieser vollkommen unbedeutenden, geradezu lächerlichen Tatsache einer Schneise aus Licht und Wärme die Spur von etwas, wofür sie kein Wort hat. Sie nimmt wahr, doch mit welchen Sinnen? Sie versteht, aber wie heißt der Begriff? Den Kopf schräg im Nacken streckt sie die Arme zur Seite, dehnt und bewegt die Muskeln um den Schultergürtel und biegt den Rücken durch. Muskeln, die nach Stunden der Untätigkeit wieder zum Leben erweckt werden. Dann ballt sie die Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder und spreizt dabei ihre Finger. Sie schlägt die Augen auf, verengt sie gleich wieder, lächelt, spreizt die Zehen und krümmt sie, als wolle sie das warme Licht mit ihnen greifen. Aber etwas fehlt noch.

    Sie pendelt zurück zur anderen Bettseite und tritt vor das Regal mit den Schallplatten. Zielsicher greift sie die Platte heraus, die sie sucht. Sie schaltet Verstärker und Plattenspieler ein und legt die Platte auf den Teller. Gleich der erste Song der A-Seite, den will sie jetzt hören. In dem Augenblick, als sie wieder im Bett liegt, Gesicht zur Decke, mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen, erklingen die ersten Töne der Musik. Der Moment scheint vollkommen.

    Stille explodiert in ihrem Kopf. In ihrem Zentrum ist Schmerz, unbeschreiblicher Schmerz, nichts als Schmerz. Grell, alles andere überstrahlend, alles andere auslöschend. Da ist keine Musik mehr. Kein Licht. Kein Fenster. Kein Bett. Sie stöhnt. Sie kämpft, quält sich ein winziges Stück zurück. Zurück zu diesem Stückchen Wirklichkeit, dort, wo Linderung auf dem Tisch neben ihrem Bett steht. Blind tastet sie danach, wirft etwas um, greift mit zitternden Fingern nach der kleinen Flasche. Ein Sprühstoß in jede Nasenöffnung. Etwas löst sich von dem Schmerz, existiert losgelöst von ihm alleine weiter. Angst, die Angst davor, dass es so bleibt, dass es doch nichts anderes gibt als den Schmerz. Und dann der erste klare Gedanke. Der Gedanke, dass das Vorhandensein dieser Angst ein Argument gegen die Angst selbst ist. Wie absurd, Angst davor zu haben, nur noch Schmerz zu fühlen, wenn sie ganz offenbar auch Angst empfinden kann. Sie lacht ein bitteres, raues Lachen. Der Schmerz brandet zurück, verschwindet allmählich ganz. Ihr Atem wird ruhiger. Ihre Stirn ist schweißbedeckt. Die Platte läuft noch. Es ist schon lange nicht mehr der Song, den sie hören wollte.

    Sie richtet sich auf, tritt in die Dachgaube und stellt die Lamellen der Jalousie waagerecht. Das hereinfallende Licht schneidet weitere Streifen aus Bernstein aus dem Halbdunkel. In einem Reflex neigt sie leicht den Kopf und überschattet mit der linken Hand die Augen. Ihre Finger zittern trotz der Wärme. Sie zieht die Jalousie vollständig nach oben und öffnet das Fenster. Autoreifen auf Kopfsteinpflaster. Der nörgelnde Ton eines Zweitakters quillt hervor, versickert wieder. Eine Autohupe drängt in den Vordergrund. Ganz plötzlich relative Stille, Verkehrsgeräusche dringen nur noch gedämpft, wie aus einiger Entfernung, zu ihr durch. Die Stimme eines Vogels. Dann stellt sich die übliche Geräuschkulisse wieder ein. Sie blinzelt in die Sonne. Die Spitze des Ahornbaumes mit dem ersten zarten Grün direkt unterhalb ihres Fensters. Sie ahnt sie mehr, als dass sie sie sieht, ihre Augen haben sich noch nicht vollständig an die Helligkeit gewöhnt. Für Ende April ist es sehr warm. Sie genießt das Licht, die Wärme, das, was ein Städter für frische Luft hält. Eine innere Wärme erfüllt sie, ein Gefühl von Glück. Etwas, von dem sie noch vor wenigen Augenblicken befürchtet hatte, es nie mehr empfinden zu können. Sie lächelt. Sie ist hier. Sie ist jetzt. Mehr ist nicht von Bedeutung. Der Schmerz ist weit weg. Alles ist gut.

    Ein Lichtreflex. Ein Fenster, vielleicht ein Fenster, das geöffnet wird. Schräg rechts, sie dreht den Kopf in die Richtung. Das Letzte, was sie je sehen, das Letzte, was sie je tun wird.

    Das Projektil dringt in einem flachen Winkel in den Schädel ein, zwei Fingerbreit oberhalb der Nasenwurzel. Beim Aufprall verformt es sich, verdoppelt seinen Querschnitt und verliert dabei einen Großteil seiner Energie. Als metallener Pilz fräst es sich durch das Großhirn. An der hinteren Schädelwand prallt es zurück, zerstört danach auf seiner Bahn noch große Teile von Kleinhirn und Hirnstamm, und verbleibt schließlich als ein toter, energieloser Fremdkörper, im oberen Rückenmark stecken.

    Der Körper sinkt in sich zusammen, alle Kraft hat ihn verlassen. Ihre Knie knicken ein, die Arme, nur noch der Schwerkraft unterworfen, werden zu leblosen Pendeln. Eine Marionette. Eine Marionette mit gekappten Fäden. Ihr Gesäß stößt auf die Bettkante, der Oberkörper neigt sich zurück, fällt wie in Zeitlupe zunächst schlaff zurück aufs Bett. Dort bleibt sie liegen, mit leicht vom Körper abgespreizten Armen, nach oben weisenden Handflächen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist der der Ruhe, der Zufriedenheit. Als genieße sie noch immer die ersten Minuten eines hellen, warmen Morgens, bevor sie das Bett verlässt, um den Tag zu beginnen. Eine Maske, die Leben vortäuscht. Sie lächelt.

    Doch wird sie nie wieder aufstehen. Kein neuer Tag wird so sein, wie Tage für sie gewesen sind. Nie wieder wird ein Mensch das Grün des Ahornbaums so sehen, wie sie es gesehen hat, nie wieder wird jemand die Wärme der Sonne auf dieselbe Weise spüren, wie sie. Ein winziges Stück Metall hat eine ganze Welt zerstört. In einer Zeitspanne kürzer als die eines Lidschlags.

    Kapitel 2

    Vierter Stock, Altbau, kein Aufzug. Oben angekommen, mühte sich Kriminalhauptkommissar Hardenberg zunächst einmal um Haltung. Vielleicht hatte er sich in letzter Zeit doch ein wenig gehen lassen. Ab morgen würde er Schokolade und Chips weglassen und wieder mit dem Laufen anfangen. Spätestens am nächsten Wochenende. Dann aber bestimmt. Er tat, als interessiere er sich für die Stahltür gleich links und verschaffte sich so einen Moment Zeit, um – wie er sich einbildete – unauffällig verschnaufen zu können. Kein Türschild, keine Klingel, offensichtlich nach außen zu öffnen. Er drückte die Türklinke herunter und zog. Verschlossen. An den vor der gegenüberliegenden Wohnungstür stehenden Schutzpolizisten gewandt, fragte er: »Wissen Sie, was sich dahinter befindet?«

    »Trockenspeicher.«

    Pause. Der Mann war offenbar kein Freund von Nebensätzen. Oder überhaupt von Sätzen. Hardenberg zog die Augenbrauen hoch, senkte leicht den Kopf und bohrte seinen Blick in die Augen seines Gegenübers. Nicht, dass er der Tür oder dem dahinterliegenden Raum besondere Bedeutung beigemessen hätte. Aber er konnte noch ein paar Sekunden gebrauchen. Der Mann verstand die wortlose Bitte nach mehr Information – und erkannte wahrscheinlich auch das Scheinmanöver dahinter.

    »Wir haben auch schon nachgefragt. Jeder Hausbewohner besitzt einen Schlüssel, aber genutzt wird der Speicher wohl hauptsächlich von den Mietern auf dieser Etage hier.«

    Er wies mit dem Kopf in die Wohnung schräg hinter ihm. Hardenberg seufzte und nickte wortlos. Der Kollege in Uniform hielt ihm einen weißen und einen blauen Karton hin.

    »Ich glaube, es reicht, wenn Sie die Überschuhe anziehen. Die Leute von der KT sind eigentlich schon fertig. Der Rechtsmediziner fürs Erste auch. Und nehmen Sie noch ein Paar Einmalhandschuhe mit. Für alle Fälle.«

    »Vielen Dank.«

    Ein kurzes Lächeln. Dann gab er dem Kollegen Zeit, sich von der ungewohnten Anstrengung zu erholen und betrat die Wohnung mit frischen, blauen Plastikpuschen.

    Hardenberg blickte sich um. Der Raum war hell, warm und freundlich. Ein kippbares Fenster in der Dachschräge links vor ihm, halb verborgen durch eine Dachstütze aus dunkel gebeiztem Holz. Ein großes Dachgaubenfenster an der gegenüberliegenden Außenwand. Feine Staubpartikel modellierten Strahlenfächer ins Licht. Dunkle Landhausdielen. Mit Raufaser tapezierte Wände, sandfarben. In gut einem Meter Höhe begann die Dachschräge. Sie zog sich von der Außenwand bis zur Wand gegenüber und war weiß. Eine Theke trennte Küche und Wohnbereich. Ein Kriminaltechniker füllte irgendwelche Gegenstände in Asservatenbeutel. Hardenberg nickte dem Mann zu, versuchte ein freundliches Gesicht. Das Mobiliar stammte augenscheinlich überwiegend aus dem Sortiment eines großen schwedischen Möbelhauses. Drei schwarze Hocker vor der Küchentheke. Die Küche selbst war klein und eng, mit dem Nötigsten ausgestattet. Helles Holzfurnier, das Wandpaneel sah aus wie Beton. Im Zentrum des Wohnbereichs standen zwei schlichte Sofas, ein kleiner Couchtisch, eine flache TV-Bank. Auf dem Tisch lag eine Zeitschrift, die aufgeschlagene Seite zeigte ein vollständig ausgefülltes Kreuzworträtsel, ein Kugelschreiber quer darüber. Eine Kommode rechts an der Wand zum Nebenzimmer. Eine Vase mit Tulpen und Hyazinthen, eine Bluetooth-Aktivbox, ein Stapel großformatiger Bücher. Drei gerahmte schwarz-weiß-Fotodrucke an der Wand darüber, verschwommen-unscharfe, minimalistische Landschaften.

    Hardenberg drehte sich um. Er sah die offene Eingangstür, Teile der Uniform des Polizisten, mit dem er sich gerade erst so angeregt unterhalten hatte, die Stahltür auf der anderen Seite des Treppenhauses. Links des Eingangs eine Garderobe mit Spiegel, ein Schuhregal, ein Tischchen mit einer Korbschale. In der Ecke, auffällig wie ein Weintrinker im ›Uerige‹, eine Vitrine, deutlich älter und sicher auch teurer als der Rest des Mobiliars, filigran unterteilte Glasflächen, strenge, beinahe architektonische Symmetrie.

    Rechts neben dem Eingang eine zweite Tür. Darauf ein Poster mit einer schwarz-weiß-Fotografie: Ewan McGregor auf einer Edelstahl-Toilette hockend, vollständig bekleidet, Schuhe auf der Klobrille. Zu Hardenbergs Rechten und McGregors Linken, links neben und hinter der Küche, eine weitere Tür, einen Spalt weit geöffnet. Ein blasser Lichtkeil fiel auf die Dielen. Hardenberg glaubte die Stimmen einer, nein, zweier Frauen aus dem Zimmer dahinter zu hören, undeutlich und leise. An der Trennwand zur Küche hing eine kleine Pinnwand aus Kork mit Postkarten, Fotos, Eintrittskarten, Visitenkarten, Notizzetteln. Er schoss ein paar Fotos mit seinem Smartphone. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er allein im Raum war, auch der Mann vom KTI war gegangen. Keine Überraschung. Der Ort, der hauptsächlich von Interesse und Bedeutung war, befand sich links von ihm hinter der Tür zwischen Kommode und Vitrine. Zeit, dorthin zu gehen.

    Zwei unförmige, weiße Gestalten unbestimmbaren Geschlechts standen zu beiden Seiten eines Bettes. Stumm und konzentriert bei der Arbeit. Sie wandten ihm den Rücken zu, keiner der beiden registrierte seine Ankunft. Hardenberg erkannte einen Frauenarm auf dem Bett, der Rest des Körpers war verdeckt. Eine der beide weißen Gestalten trug etwas in ein Klemmbrett ein, die andere stand vor dem offenen Fenster und schoss, wie es schien, Fotos von den gegenüberliegenden Gebäuden. Ein riesiges, zusammengeknülltes Papiertaschentuch hockte gleich vor Hardenberg auf dem Boden und verstaute Instrumente in einen großen Koffer. Als er nähertrat, kam Bewegung in das Knäuel und es blickte Hardenberg mit dem Gesicht von Dr. Thomsen an. Überraschung, Erkennen, Lächeln.

    »Herr Hardenberg. Kriegen Sie‘s bitte nicht in den falschen Hals, aber es freut mich, Sie hier zu sehen.«

    Sie kannten sich seit Jahren, hatten oft zusammengearbeitet, mochten und schätzten einander. Fast eine Art Freundschaft. Allerdings ohne peinliche Vertraulichkeiten oder gegenseitige Einladungen zum Abendessen. Bislang.

    »Vielleicht sollten wir uns mal aus einem angenehmeren Grund treffen. Immer wenn ich Sie sehe, liegt irgendwo in der Nähe ein Toter. Und jedes Mal sehen Sie aus wie eine Serviette oder tragen einen türkisfarbenen Pyjama.«

    Hardenberg verzog keine Miene, während er sprach. Thomsen spielte den Gekränkten.

    »Bloß kein Neid. Wenn Sie nicht immer erst dann auftauchen würden, wenn die wichtigste Arbeit bereits erledigt ist, dürften Sie auch öfter dieses elegante Outfit tragen.« Er wies an sich herunter.

    Die Krähenfüße um Hardenbergs Augen verästelten sich ein klein wenig mehr. Die Mundwinkelfalten verschoben sich kaum wahrnehmbar nach außen. Nur für einen Moment. Ein leichtes Zucken, mehr nicht. Es war ein Ritual, ein Spiel zwischen ihnen beiden, das die Anlässe, aus denen sie sich trafen, erträglicher machte.

    »Hm, habe das bis jetzt allerdings auch noch nie als Privileg gesehen. Nun gut. Können Sie mir denn jetzt schon etwas sagen, Doktor?«

    Die Spur der Andeutung eines Lächelns war noch zu sehen.

    »Eine einzelne Schusswunde in der Stirn. Andere Verletzungen sind nicht erkennbar. Keine Austrittswunde. Ausgehend von der Ausbreitung der Totenstarre und der Lebertemperatur, trat der Tod vor etwa drei bis vier Stunden ein. Mehr wie immer nach der Obduktion.«

    Er überlegte.

    »Vermutlich war sie auf der Stelle tot.«

    Hardenberg weitete die Augen und hob die Augenbrauen. »Sie stellen Vermutungen an?! Warten Sie einen Moment, ich muss mir schnell Datum und Uhrzeit notieren.«

    Er tat so, als wollte er etwas in sein Smartphone eintragen. Thomsen richtete sich auf. Er überragte Hardenberg um gut einen halben Kopf, war insgesamt massiger.

    »Es gibt keine Spuren eines Todeskampfes, keinerlei Anzeichen dafür, dass sie noch gelebt hat, nachdem sie getroffen wurde. Keine Indizien, dass sie sich noch bewegt hat, nachdem sie rücklings auf das Bett gefallen ist. So wie sie da liegt, ist sie gestorben. Selbst ihr Gesichtsausdruck lässt vorerst keine anderen Schlüsse zu.«

    Einer der beiden Spurensicherer trat an Hardenberg und Thomsen heran. Hardenberg kannte den Mann. Laffert, Laffertz oder so ähnlich. Bei einem anderen Fall hatte er mit ihm zusammengearbeitet. War eine Weile her, doch er glaubte, sich an ihn als zurückhaltend, gründlich und gewissenhaft zu erinnern.

    »Und es gibt im Übrigen auch keine Hinweise darauf, dass sie nach ihrem Tod noch von jemand anderem bewegt worden ist.»

    Er übergab Thomsen einige kleine Gegenstände.

    »Das hier stand auf dem Tischchen. Sieht nicht nach Schnupfenspray aus. Und das hier lag in der obersten Schublade. Möglicherweise ist das für Ihre Arbeit von Bedeutung, Doktor.«

    Thomsen betrachtete die kleine Sprühflasche, die Tablettenpackung und das Tütchen aus transparentem Plastik. Er hob die Augenbrauen.

    »Das ist in der Tat nicht gegen Schnupfen.«

    Er zeigte Hardenberg das Sprühfläschchen mit dem türkisfarbenen Streifen.

    »Fentanyl, ein starkes Schmerzmittel. Diese Dosierung ist meines Wissens nach sogar die Höchste auf dem Markt verfügbare. Als Nasenspray wirkt es besonders schnell. Ist noch nicht so furchtbar lange auf dem Markt.«

    Er sah sich die Tablettenpackung an.

    »Temolozomid. Wird vor allem bei bestimmten Hirntumoren verschrieben.«

    Er hielt das transparente Tütchen hoch. Es enthielt unschwer zu identifizierende, getrocknete, grün-bräunliche Blüten. »Und das hier brauche ich ja wohl nicht zu erklären.«

    »Das sind maximal zwei Gramm. Und hier riecht es nicht so, als hätte sie häufig Gebrauch davon gemacht.« »Sie muss es ja nicht inhaliert haben. Ich kenne noch andere Möglichkeiten, das Zeug zu konsumieren.«

    Offenbar trieb eine alte Erinnerung an die Oberfläche. Er lächelte kurz in sich hinein. Gleich darauf wurde er wieder sehr ernst. »Auf jeden Fall hat es den Anschein, als würden wir bei der Obduktion mehr finden als nur ein Projektil.«

    Thomsen schaute zum Bett hinüber. Hardenberg folgte seinem Blick. Er holte tief Luft. Es half alles nichts. Laffert (oder Laffertz) und die andere weiß gekleidete Gestalt – jetzt erkannte er, dass es eine junge, ihm unbekannte Frau war – hatten ihre jeweiligen Plätze verlassen und standen jetzt bei Thomsen. Er trat an das Bett heran, stand schließlich an der dem Zimmer zugewandten Seite des Bettes. Doch so musste er Oberkörper und Kopf verrenken, um den Körper richtig betrachten zu können. Er ging um das Bett herum und stellte sich in die Gaube. Nun hatte er zwar das Fenster und damit das Licht im Rücken, doch er sah die Tote von vorn. Er trat einen halben Schritt zur Seite und schaute über die Schulter aus dem Fenster. Das war es, was die unbekannte Kollegin von der KT fotografiert hatte! Der Schuss musste von einem der gegenüberliegenden Gebäude gekommen sein. Zunächst jedoch galt seine volle Aufmerksamkeit dem Körper auf dem Bett.

    Die Frau war sehr jung, kaum zwanzig Jahre alt. Sehr schlank, mager sogar. Der Oberkörper lag auf der halb zurückgeschlagenen Decke, die Arme leicht zur Seite gestreckt. Die Handflächen zeigten nach oben. Thomsen hatte recht, sie hatte nicht versucht, sich im Fallen zu fangen. Ihre Unterschenkel waren angewinkelt, die Füße berührten den Boden. Dort hatte sie gestanden und aus dem Fenster geblickt. Nachdem sie getroffen worden war, war sie gleichzeitig zusammengesunken und nach hinten gekippt. Der leere Blick der Frau ging leicht nach rechts, über das Kopfende des Bettes, dorthin, wo ein Filmposter hing, ›2001: a space odissey‹. Hardenberg stellte sich so, dass er das Gesicht besser betrachten konnte. Sehr, sehr hübsch. Schmal, ein wenig hohlwangig. Haselnussbraune, mandelförmige Augen, dunkelbraunes Haar, glatt, etwa kinnlang. Weißes T-Shirt, dunkelblaue Shorts. Dann verstand er, was Thomsen meinte, als er sagte, dass ihr Gesichtsausdruck darauf schließen ließe, dass sie sofort tot gewesen sei.

    »Sie lächelt«, sagte er, mehr zu sich selbst als für die Umstehenden bestimmt. Allgemeine Unsicherheit. War das ein Appell? Sollte jemand etwas dazu sagen? Thomsen beendete schließlich die Stille.

    »Ja … … schauen Sie aus dem Fenster. Es ist Frühling. Die Bäume werden allmählich grün, der Himmel ist blau, die Luft warm. Manchmal können Sie Vogelstimmen hören. Das war das Letzte, was sie sah, das Letzte, was sie spürte. Wer würde da nicht lächeln?«

    Hardenberg tat gut vernehmbar einen tiefen Atemzug durch die Nase. Er nickte, ohne den Blick von der Toten abzuwenden.

    »Natürlich haben Sie recht. Ich weiß, was Sie meinen. Es ist nur … … es ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich so was sehe.«

    Er drehte sich um und schaute aus dem noch immer geöffneten Fenster. Die Straße unter ihm war praktisch unsichtbar. Gleich gegenüber lag ein kleiner, dreieckiger Parkplatz. Die Straße halb rechts war in beiden Richtungen zweispurig. Aus einem der Gebäude an dieser Straße musste der Schuss gekommen sein. Er wandte sich an die unbekannte Kollegin von der KT.

    »Dürfte ich mir Ihre Kamera einmal kurz ausleihen?«

    »Kein Problem. Sie können damit umgehen?«

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1